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Alexander Solschenizyn und der Antisemitismusverdacht

Lange haben Historiker und Schriftsteller darauf gewartet, dass sich Alexander Solschenizyn äußert. Doch der Nobelpreisträger hatte sich in sein Schweigen vergraben. Nun wehrt er sich öffentlich in einem Zeitungsartikel. Unter der Überschrift "Schwarzmaler suchen kein Licht" wischt er über mehrere Zeitungsseiten hinweg gegen jegliche Einwände beiseite. Er verdammt die Kritiker und reagiert auf ihre Bemerkungen mit einem Totschlagargument: Eine Hetzjagd sei gegen ihn im Gange, genau wie zu Stalins Zeiten.

Sabine Adler | 23.10.2003
    Den beleidigte Ton, mit dem der Artikel beginnt, hält er bis zum Ende durch. Solschenizyn schreibt:
    "Zwei Gründe zwingen mich zu einer Reaktion:
    Die aufgeflammte , nicht enden wollende Verleumdung, die im Internet losgetreten wurden und heute auch auf Russland übergesprungen ist und meine nur noch sehr begrenzte Lebenszeit."

    Seit dem Erscheinen des ersten Bandes, der die Zeit der russisch- jüdischen Geschichte bis 1916 umfasst, seit 2001 hält unter russischen Historikern und Autoren eine Diskussion an, die neu auflebte, als auch der zweite Teil erschien, der von 1917 bis in die 70er Jahre reicht. Ihre Vorwürfe sind zahlreich, der schwerste: Solschenizyns Buch sei antisemitisch, was um so schwerer wiegt, als dass der Autor zweifellos geschätzt wird.

    Semjon Resnik, der als Historiker selbst Bücher zum Verhältnis von Russen und Juden verfasst hat, meldete sich in einer Radiosendung aus den USA, wo er derzeit lebt, zu Wort.

    In dem ersten Band setzt Solschenizyn die Zarenmacht mit Russland gleich und wer gegen den Zaren auftritt, was nicht nur Revolutionäre waren, sondern ja auch Liberale, Demokraten und so weiter, all sie werden den Juden oder jüdischem Einfluss zugerechnet.

    Im zweiten Band behauptet er, dass bei den Bolschewiken Juden überproportional stark vertreten waren. Alles schreckliche, was passiert, geschieht dem russischen Volk, aber nicht den Juden.

    Alexander Solschenizyn legt in dem jüngst in der "Literaturnaja Gaseta" erschienenen und von der "Komsomolskaja Prawda" nachgedruckten Artikel ausführlich dar, wer ihn wann in seinem Leben verleumdet hat.

    Dass er seine Kritiker heute mit den Häschern des stalinistischen Geheimdienstes KGB gleichsetzt und sie damit diskreditiert, kümmert ihn nicht. Die meisten Historiker kritisieren, dass Solschenizyn die aktuell im In- und Ausland vorliegenden Forschungsergebnisse ignoriert, er arbeite nicht wissenschaftlich, sondern ein spürbarer Autodidakt, der einen viel zu hohen Anspruch an sich und sein Werk formuliert. Der Hauptvorwurf jedoch zielt auf sein Quellenstudium. Der Autor zitiert am häufigsten aus der fast 100 Jahre alten "Jüdischen Enzyklopädie". Die sei selbst eine Sammlung antisemitischen Gedankengutes, die selbst wiederum aus anderen zweifelhaften Quellen zitiere.

    Dass Solschenizyn mit dem zweibändigen Werk ein Beitrag zur russischen Geschichtsforschung gelungen sei, spricht der Historiker und Publizist Waleri Katschajew ihm rundweg ab.

    Solschenizyn macht genau das, was unsere sowjetischen Historiker immer getan haben. Er arbeitet fast ausschließlich mit Halbwahrheiten und im ganzen ergeben diese Halbwahrheiten in diesen zwei Bänden eine einzige Lüge. Eine direkte Lüge findet sich eigentlich nur dort, wo die Rede ist von der angeblichen Nichtbeteiligung der Juden am Krieg.

    Genau dieser Vorwurf ist der einzige, mit dem sich der 86jährige Autor sachlich auseinandersetzt. Er widerlegt diese Behauptung, verweist darauf, dass er das Gegenteil geschrieben habe. Aussagen steht gegen Aussage.

    Bei manchen russischen Journalisten, zum Beispiel dem Chefkommentator des Radiosenders Echo Moskau, Andrej Tscherkisow, sitzt der Ärger über das neue Werk Solschenizyns offenbar so tief, dass er ihm sogar dessen Verdienste um den "Archipel Gulag" streitig macht.

    Man sagt, dass es Solschenizyn war, der uns die Augen über das Straflagersystem geöffnet hat. Doch vor ihm hat das Alexander Ginsburg getan, vor ihm wurden heimlich die Schriften von Waarlam Scharlamow herumgereicht, vor ihm kursierten schon einige Einzelheiten aus Grossmanns Leben und 1953, parallel mit seinem Werk "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" erschienen die hervorragenden Memoiren von Ilja Ehrenburg.

    Solschenizyn fragt sich am Ende seines Artikels warum nach den Verleumdungen der Vergangenheit erneut eine Hetzjagd beginnt. Anders will er die Diskussionen um sein Werk nicht verstehen.