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Alfred Kerr
Politischer Autor und Lebenskünstler

Der Theaterkritiker Alfred Kerr versuchte auch Schicksalsschläge und Krisen mit Witz und Humor zu meistern, wie der Abschlussband seiner Werkausgabe zeigt. "Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes" versammelt autobiografische Schriften und ist für alle Kerr-Fans eine wahre Schatzkiste.

Von Oliver Pfohlmann | 07.05.2014
    Der deutsche Theaterkritiker, Schriftsteller und Essayist in einer undatierten Aufnahme. Alfred Kerr wurde am 25. Dezember 1867 in Breslau als Alfred Kempner (bis 1911) geboren und ist am 12. Oktober 1948 in Hamburg gestorben.
    Der deutsche Theaterkritiker, Schriftsteller und Essayist in einer undatierten Aufnahme. (dpa)
    Alfred Kerr war, wie man weiß, ein großer Theaterkritiker und ein nicht minder großer Sprachartist dazu. Weniger bekannt ist, dass er auch ein veritabler Lebenskünstler war. Seine glückliche Kindheit in einem Breslauer Elternhaus hatte den im Jahr 1867 Geborenen zeitlebens wie mit einem Schutzmantel gesegnet. Wie nur wenige beherrschte er die Kunst, das Leben leicht zu nehmen; noch den größten Schicksalsschlägen hielt er die "Seligkeit des Daseins" entgegen. Das half ihm beispielsweise 1918, den Verlust seiner über alles geliebten jungen Gattin Inge zu verwinden, als diese nach nur drei Monaten Ehe an der Spanischen Grippe starb.
    "Ich weiß, was mein Werk bedeutet. Dass es eine große Bejahung der Erde ist. Dass der Atem eines Sterns hindurchweht. Wer hat wie ich, Deutschland; wer Paris, wer Venedig so gemalt – auf zehn Seiten' Ich bringe die Kerls, die etwa sagen, dass hier "wertvolle Schilderungen" sind, vors Schöffengericht. Du lachst von Herzen, Geliebte." (353)
    Es dauerte nur zwei Jahre, da heiratete Kerr als 53-Jähriger erneut eine drei Jahrzehnte jüngere Frau. Mit einer solchen Lebensfreude ausgestattet, hatte Kerr nach 1933 im Exil nur wenig Verständnis für jene Flüchtlinge, die in Paris oder London nur noch als "Trauerklöße" herumliefen. Anfang der vierziger Jahre bekannte er, die Exilerfahrung sei allen Widrigkeiten zum Trotz auch "ein Plus an hiesiger Erfahrung. Ich bin Schriftsteller". Falsch wäre es aber zu glauben, Kerr habe das Leid einfach nur verdrängt, wie seine Biografin Deborah Vietor-Englaender betont:
    "Witz und Humor, und das Beste daraus machen"
    "Wenn Sie seinen Brief vom 10. Juni 1900 nehmen: 'Und die Welt wird schöner mit jedem Tag, das alles bis zum hundertundfünfzehnten Jahre dauernd fortzuleben trag' ich kein Bedenken. Das Leben ist wundersam und zaubervoll und hinreißend und in Schönheit strahlend und selig und magisch und gaukelnd und unergründlich. Ich lebe nur einmal.' Das ist Kerr: Witz und Humor, und das Beste daraus machen. ,Manchmal musste er sich zum Optimismus zwingen. Aber er sagte sich, und das sagt seine Tochter Judith immer wieder, er sagte: 'Wir sind alle vier draußen, und wir sind am Leben, meine Schwester und ihre Familie sind draußen und am Leben, wir sind nicht im Lager.'"
    Als er zuletzt gar nicht mehr wollte, dann wusste er, er würde nicht wieder arbeiten können, und erst dann hat er mithilfe seiner Frau seinem Leben ein Ende gesetzt.
    Kerr hatte im Herbst 1948 einen schweren Schlaganfall erlitten – und staunte selbst, dass ihm noch auf dem Sterbebett der Anblick der Krankenschwestern Lust bereitete. Nachzulesen ist diese kuriose "letzte Mitteilung" an seinen Sohn, geschrieben einen Tag vor seinem Suizid am 12. Oktober 1948, in dem von Deborah Vietor-Englaender herausgegebenen Band "Das war meine Zeit". Es ist der Abschlussband der großen Alfred Kerr-Werkausgabe im S. Fischer Verlag. Gewohnt vorzüglich ediert und mit einem umfangreichen Nachwort von Günther Rühle versehen, ist die Textsammlung eine wahre Schatzkiste. Sie enthält viele bislang wenig bekannte oder unveröffentlichte Texte, neben solchen aus den Exiljahren auch Beispiele der neu entdeckten "Berliner Briefe", die Kerr von 1897 bis 1922 in der "Königsberger Allgemeinen" veröffentlichte.
    Ebenfalls zu finden sind in dem Band die gesammelten politischen Texte Kerrs und seine großen Streitschriften, etwa gegen Karl Kraus oder Bertolt Brecht. Sie belegen, wie eng gekoppelt Kerrs Lebensfreude an seiner um 1900 entflammten Begeisterung für die Moderne und den Fortschritt war. Zwar provozierte er gern mit der Behauptung, seine Rezensionen seien wie Kunstwerke reiner Selbstzweck. Doch näher an der Wahrheit war wohl Kerrs Formel, seine Kritiken seien letztlich nur ein "Vorwand für den Kampf um eine kühne vernünftigere Menschenordnung". Kämpfte er im Wilhelminischen Kaiserreich mit seinen Polemiken gegen Zensur und Obrigkeitsdenken, so in der Weimarer Republik mit Rundfunkreden gegen die wachsende Gefahr von rechts. Immer wieder rief er das Publikum dazu auf, seine Zeit als das zu erkennen, was sie war: eine brandgefährliche "Rückfallzeit".
    "Alle diese Methoden sind heller Wahnsinn. Nein: dunkler Wahnsinn. Die Welt war darüber hinaus. Doch wir tappern [!] von Rückfall zu Rückfall. Das muss anderscher [!] werden (Zusatz: Wo körperliche Gewalt droht, ist ihr – natürlich! – mit Gewalt entgegenzutreten. Man wird sich wohl genieren!)" (146)
    Trommeln gegen Hitler
    Seine Rufe nach einer "Klugheitsrast" und einer "Zivilisierung der Menschennatur" verhallten freilich ungehört. Lauter und mutiger als die meisten anderen trommelte Alfred Kerr gegen den "Hausknecht" Hitler; am Ende musste er unter Polizeischutz zum Berliner Rundfunkhaus gefahren werden; bereits 1929 hatte Goebbels seine Ermordung gefordert. Kerrs illusionsloser Blick auf die Nazis ließ ihn nach 1933 auch jede Appeasement-Politik ablehnen. Für ihn war Hitler einfach nur ein ‚verrückter Hund', der erschossen werden musste, wie er vor dem Londoner P.E.N.-Club erklärte. Verblüffend für den heutigen Leser ist, wie früh Kerr die Gefahr durch antisemitisches Denken erkannte: Schon 1912 wütete er gegen den jüdisch-stämmigen Walther Rathenau, weil dieser für blonde Germanen schwärmte.
    Deborah Vietor-Englaender: "Kerr war kein frommer Jude, aber er war ein sehr selbstbewusster Jude, und er rastete buchstäblich aus, wenn sich ein Jude taufen ließ. Er hat selber direkt antisemitische Angriffe erlebt, als es um das Heine-Denkmal ging 1906, da schrieb man, er sei eigentlich noch unterm Kaftan und er wäre gerade erst die Seitenlocken losgeworden. Es war auch noch so, dass Kerr in seinem großen Jerusalem-Bericht, im Frühjahr 1903, sich direkt als Erbe gefühlt hat und sagt, 'und schlage die Harfe, wie keiner sie schlug seitdem, weiß hebräisch nicht zehn Worte, dennoch klingt in mir der Klang: der gedrängten Symmetrie, der Vaterschaft Gottes'."
    Die Harfe war das eine Instrument, das Kerr von seinem Wahl-Ahnen, dem biblischen König David, übernommen hatte. Das andere war die Schleuder. In der neuen Edition kann man wieder erleben, welch Meister Kerr auf beiden Instrumenten war.
    Alfred Kerr: Das war meine Zeit. Erstrittenes und Durchlebtes.
    Werke in Einzelbänden, Band V/VI
    Hrsg. von Deborah Vietor-Englaender
    S. Fischer Verlag, 2013, 800 S., 56 Euro