Donnerstag, 25. April 2024

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Alfred Kerr: Yankee Land
Phrasendreschend durch die USA

1924 reiste der Großkritiker Alfred Kerr in die Vereinigten Staaten. Über sein typisch touristisches Besichtigungsprogramm berichtete er in dem exzentrisch-dynamischen Stil, für den er berühmt und berüchtigt war.

Von Eberhard Falcke | 25.09.2019
Der amerikanische Luxusliner S.S. America auf einer historischen Postkarte
Wer 1924 wie Alfred Kerr in die USA wollte, reiste mit dem Dampfer (imago images / Arkivi)
Es war ein Gipfeltreffen der Sensationen, Denkwürdigkeiten und Highlights. Und wie hätte es anders sein können! Der weltberühmteste Kritiker der Weimarer Republik besichtigte 1924 den mächtigsten Teil der Neuen Welt, die Vereinigten Staaten. Er berichtete darüber im "Berliner Tageblatt", anschließend wurde ein Buch daraus: "Yankee Land" von Alfred Kerr. Und dieser Transatlantikfahrer war kein Greenhorn. Vor allem New York kannte er schon von vorangegangenen Reisen, bei denen er zu der Überzeugung gekommen war, dass den USA die Zukunft gehöre. Darin sah er sich auch bei seinem neuerlichen Besuch auf Schritt und Tritt bestätigt:
"Denn in diesem Land ist beides, was der wahre Mensch braucht: verschwenderisches Geblüh’ – und wagnisernster Geist. Darin, in den zwei Punkten, ruht kurzweg das Wesen Amerikas: Naturkraft plus Kraftnatur. Und ich grüße das alles … im Herzen meines Herzens."
Der Präsident im Monolog
Ein erstes Highlight war Kerr gleich zu Beginn seiner großen Tour beschieden. Kaum angekommen wurde er schon vom Präsidenten empfangen, der damals Calvin Coolidge hieß. Einerseits schmeichelte es gewiss seiner Eitelkeit, dass er Amerika durch das Weiße Haus betreten konnte, andererseits jedoch dürfte es für den immer feurigen Feuilletonisten eine Zumutung gewesen sein, den reichlich trockenen Ausführungen des Staatsoberhauptes brav zu lauschen:

"'This is Dakte Körr from Börlin.'
Darauf äußerte der Präsident (seinerseits): "Nehmen Sie Platz – have a seat."
Ich tat so. Damit war alles im Gang.
Der Präsident zeigte sich im Gespräch sehr aufgeknöpft. Er hält mir (oder sich?) einen Vortrag über Geographie und Wirtschaftskunde von Amerika. Er spricht und spricht, ununterbrechlich. Im schwarzgrauen Anzug. Tonlos-ernst."
Naturwunder und Sprachkapriolen
Alfred Kerrs Reise durch Amerika hatte einen ausgesprochen touristischen Charakter. Er durchstreifte bedeutende Städte wie Washington, Los Angeles, San Francisco, Chicago oder die Mormonenstadt Salt Lake City. Er querte legendäre Landstriche wie die Prärie, Kalifornien und den Nordwesten. Er besuchte die von der Erdgeschichte arrangierten Wunder wie den Grand Canyon, das Yosemite-Tal, den Yellowstone-Park und natürlich die Niagara-Fälle. Vor allem aber spielte er in seinen Reisebeschreibungen eines seiner größten Talente aus, indem er aus all dem einen sprachlichen Budenzauber ersten Ranges machte. Der gefürchtete Kritiker staunte und bewunderte und verwandelte seine Eindrücke in die schmissigen Sprachkapriolen, für die er berühmt und berüchtigt war. Da nahm etwa die Fahrt durch Arizona gen Phoenix im Pullmanwaggon mit Aussichtsplattform folgende dynamische Prosagestalt an:
"Die Achse grunzt. Die Schiene rülpst. Eine Dinosaurier-Lokomotive, wie ein übergroßes Sprungtier, schnauft. Der Zug hält. Es ist drei Uhr nachmittags. Die Schwüle schwält. Eine Station heißt: Seligman; liegt 1592 Meter hoch.
Lava treibt sich hier herum. Sonderbar."
Was ist Pola Negri gegen ein Straußenweib?
Mit Theater, Literatur und Musik dagegen beschäftigte sich Kerr ebenso wenig wie mit Künstlern oder Schriftstellern und die Konsequenz, mit der er aktuelle Namen und Ereignisse des Kulturlebens übersah, kann nur bedeuten, dass er darüber nicht viel wusste. In New Orleans sah er zwar die französische Vergangenheit untergehen, dass dort aber erst kürzlich der Jazz zur Welt gekommen war, davon berichtet er nichts. In Hollywood schaute er kurz in einem Studio vorbei, wo gerade mit dem Stummfilmstar Pola Negri gedreht wurde. Doch viel mehr Aufmerksamkeit widmete er den Beobachtungen in Krokodilfarmen und Zuchtbetrieben für Straußenvögel. Er verheimlichte nicht, was ihn tiefer beeindruckt hatte:
"Was ist Pola Negri gegen ein Straußenweib? Was ein Regisseur gegen einen Alligator?"
Im Land der Zukunft
Bei der Beurteilung der Vereinigten Staaten im Hinblick auf ihre welthistorische Rolle, wollte Kerr allerdings hinter anderen Geistesgrößen nicht zurückstehen. Mit der besonders von Thomas Mann lange vertretenen Entgegensetzung von profunder deutscher Kultur und oberflächlicher westlicher Zivilisation sollte, wie er im Vorwort erklärte, gründlich aufgeräumt werden. In seinen Augen stand Amerika anders als das verbissen kleinsüchtige Europa an der Spitze der historischen Entwicklung, und er traute dem Land eine unermessliche Leistungsfähigkeit zu.
"Im Wesen dieses höchstkapitalistischen Volks liegt immerhin etwas, das für die Gesamtheit auf der Erdkugel arbeitet. Erringen sie einstens das Soziale, das ihnen fehlt: so wird es ein Über-Soziales, ein Erz-Soziales, ein Soziales mit hundert Stockwerken sein. "
Damit stand Kerr ganz im Einklang mit dem amerikanischen Sendungsbewusstsein als Führungsnation. Wer sich allerdings erhellende Schlaglichter auf das amerikanische Leben in den Zwanziger Jahren erhofft, wird enttäuscht. Rein touristische Sichtweisen, wie Kerr sie hier pflegte, haben ja den merkwürdigen Effekt, dass sie zeitgenössische Besonderheiten weitgehend ausblenden oder zum belanglosen Klischee retuschieren.
Ein kulturhistorisches Kuriosum
Außerdem ist der Gestus von Marktschreierei, der im Stil dieses Autors überall rumort, für subtilere Schilderungen wenig geeignet. Gerne trieb er das, was er sah, ins Extreme. Großes wurde sprachlich noch vergrößert wie die "krass-brutalen Wuchtwände" und die "nackte Riesensturz-Kahlheit" im Yosemite-Nationalpark. Kleineres hingegen wurde zur idyllisierenden Putzigkeit verkleinert. Wie das Stadtbild von New Orleans zum Beispiel:
Die kleinen sommerigen Häuser, mit Pfeilerverandchen und Markisen. Die Esplanade, mit solchen Pavillönchen, endlos. Mit Baracken-Villchen.
New Orleans ist eine herrliche Stadt. Es lässt sich dort hausen."
Wenn an Kerrs amerikanischen Reisebeschreibungen heute noch etwas interessieren kann, dann ist es vor allem dieser Stil. Der bleibt zwar hinter dem feinen Humor eines Alfred Polgar oder dem poetisch animierten Scharfblick eines Joseph Roth weit zurück. Trotzdem aber ist "Yankee Land" ein höchst amüsantes und unterhaltsames journalistisches und kulturhistorisches Kuriosum. Denn es lässt uns sehr direkt dabei zusehen, wie der fidelste Phrasendompteur des deutschen Zwanziger-Jahre-Feuilletons mit den Sensationen der Neuen Welt um die Wette schrieb.
Alfred Kerr: Yankee Land
Eine Reise durch Amerika 1924
Aufbau Verlag, Berlin
243 Seiten, 22,00 Euro