Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Ali Smith: "Winter"
Roman nach Jahreszeiten

Die schottische Autorin Ali Smith schrieb binnen vier Jahren jeweils einen an den Jahreszeiten orientierten Roman. Mit dem Buch "Herbst" stand sie auf der Shortlist für den Booker-Prize. Nun hat ihr deutscher Verlag mit dem Folgeroman "Winter" nachgelegt. Ein Text mit politischen Absichten.

Von Brigitte Neumann | 15.01.2021
Buchcover: Ali Smith: „Winter“
Nur vordergründig geht es bei Ali Smith um Winter, Weihnachten und Naturromantik (Buchcover: Luchterhand Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Ein Quartett über die Jahreszeiten zu schreiben sei schon immer ein Traum von ihr gewesen, schrieb Ali Smith in der Tageszeitung The Guardian kurz vor Erscheinen des letzten Teils "Sommer" dieses Jahr in Großbritannien. Ali Smith wörtlich: "Nette Romane über Blätter, nackte Äste, Frost, Knospen und wieder Blätter". Die beiden ersten auf deutsch erschienenen Romane sind nun allerdings alles andere als nur nett. Band eins mit dem Titel "Herbst" handelt von der verheerenden Stimmung nach dem Brexit-Votum 2016, ein emotional fein ausbalanciertes Stück, das den Charakteren im Roman Priorität einräumt und ihnen Raum zur Entfaltung lässt. Das ist im eben auf deutsch erschienenen Band "Winter" anders. Hier sind die Figuren in irritierender Weise auch Träger politischer Botschaften. Sie scheinen in ihre Rollen eingeschnürt: die Kapitalistin, die Linke, die Heilige, der Romantiker. Und als hätte Ali Smith bemerkt, dass da etwas schief gelaufen ist, lässt sie ihre Hauptfigur Sophia Cleves am Ende sagen:
"Politik und Kunst sind polare Gegensätze. Ein sehr guter Dichter sagte einmal, wir schätzen Dichtung nicht, die spürbar Absichten mit uns verfolgt."

Ein Roman mit Absichten

Der Hauptstrang des Plots spielt an Weihnachten auf dem Alterssitz Sophias in Cornwall. Vier Figuren stehen im Zentrum der Handlung: Arthur, ihr Sohn, ein junger Naturromantiker und erfolgreicher Blogger. Seine Seite im Netz heißt "Art in Nature". Er schreibt über Schneekristalle, Pfützen und Wind. Seine Naturerlebnisse sind allerdings pure Fantasie. Er geht nie raus, sondern nur auf Google Maps.
Diese Weihnachten bringt Arthur ein obdachloses Mädchen namens Lux mit zu seiner Mutter. Ihr zahlt er 1000 Pfund dafür, dass sie zum Fest die Rolle seiner verflossenen Freundin Charlotte spielt. Die fand ihn unerträglich reaktionär, unter anderem wegen seiner harten Haltung zur Flüchtlingsfrage. Im Stillen gibt er ihr Recht. Seine Mutter Sophia, Ende 60, vermögende Geschäftsfrau im Ruhestand, lebt in einem sauber renovierten, weitgehend leeren 15-Zimmer-Haus einsam und abgemagert wie in einem Versteck vor der feindseligen Welt. Ihre Menschenangst zeichnet Ali Smith sehr mitfühlend als allumfassend. Sie betrifft Flüchtlinge, Nachbarn, Familie.
Sophias Gegenspielerin ist die ältere Schwester Iris, eine ewige Kommunardin, die ihr Leben lang von Barrikade zu Barrikade wechselt: Sie war schon Frauen-, Friedens-, Umweltaktivistin. Eine von Ali Smith eher holzschnittartig dargestellte Kümmerin, die an Weihnachten Heimat-Urlaub von ihrem aktuellen Job als Helferin in einem Flüchtlingscamp auf einer griechischen Insel hat. Als ihr Neffe anruft, weil er seine Mutter in desolatem Zustand vorgefunden hat und den Kühlschrank weitgehend leer, da kommt Iris mit einer Wagenladung Leckereien. Nach dreißig Jahren sieht sie ihren Neffen und ihre Schwester bei dieser Gelegenheit das erste Mal wieder.
Die vierte Person lüftet bald ihr Inkognito. Lux, Tochter von Bürgerkriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien, die in Kanada leben, kam nach England, um Shakespeare näher zu sein. Dessen Werk liebt sie, da kennt sie sich aus und damit, so legt Ali Smith nahe, auch mit menschlichen Beziehungen. Dass es ursprünglich Lux‘ eigene Bedürftigkeit war, ihr Hunger und die Aussicht auf ein Bett, die sie zu Familie Cleves gelockt hatte, verschwindet hinter ihrem neuen Rollenauftrag: Lux ist der Engel der Versöhnung von Familie Cleves.

Lux, die Heilsbringerin

Lux, wir dürfen den Namen also wörtlich nehmen, die Lichtgestalt, spricht über Shakespeares Intrigenstück "Cymbeline", aber auch über die Familie Cleves, wenn sie sagt, …
"… (es ist), als lebten die Personen in dem Stück in derselben Welt, aber voneinander getrennt, als wäre die Welt jedes einzelnen von den Welten aller anderen separiert worden. Sie müssten aber nur einmal aus sich heraustreten oder einfach hören und sehen, was direkt neben ihren Ohren und Augen geschieht, dann würden sie feststellen, dass sie alle im selben Stück sind, Teil derselben Welt und derselben Geschichte."

Unverhoffte Versöhnung

Ali Smiths Heilsbringerin wirkt nicht selten wie eine naive Unschuld, löst aber doch eine Katharsis aus. Wie eine Therapeutin findet sie für jeden den richtigen Ton. Sie füttert Sophia, unterstützt Iris und macht dem kraftlosen Arthur Mut. Nach dreißig Jahren Streit liegen sich die Schwestern bald in den Armen und Arthur verliebt sich in Lux. Es ist wie im Schlager, Love is the Answer and the Answer is Love. Aber so schnell und reibungslos geht es sonst noch nicht mal im Märchen Richtung Happy End. Dabei macht Ali Smith genau dort ihre Anleihen, nämlich bei dem berühmten Klassiker von Charles Dickens "A Christmas Carol". Er ist die Folie für die Haupterzählung im Roman "Winter". Darauf weist die Autorin selbst immer wieder hin. Der Geist der Weihnacht bearbeitet bei Dickens den hartherzigen Geschäftsmann Ebenezer Scrooge so lange, bis der sich zu einem mildtätigen Bürger bekehrt. Das Setting bei Ali Smith ist ähnlich: Die kalte Sophia lässt sich von einer Lichtgestalt erweichen und verträgt sich wieder mit ihrer Familie.
Dabei gelingen Ali Smith in den Rückblenden anrührende Szenen, etwa über die nur wenige Tage andauernde Liebe Sophias zu Danny:
"Als sie Sex haben (und sie haben sofort Sex, kaum dass er die Haustür zugemacht hat) ist es der beste Sex, den sie je hatte. Und nicht wie Sex. Es ist, als werde ihr Aufmerksamkeit erwiesen, als werde sie gehört und gesehen, nicht gebumst, gefickt oder gevögelt, nicht wie Sex eben – eher wie etwas, das sie noch nie …, wie etwas, das sie nicht benennen kann."
Sophia hört wieder und wieder die Kirchenglocken läuten, im Roman ein Signal für Schnitt und Rückblende, zum Beispiel in die Kindheit der Schwestern; das Elternhaus mit dem jähzornigen Vater und der im doppelten Wortsinne nichtssagenden Mutter. Ali Smith unterbricht ihren Haupt-Handlungsstrang aber auch für Traumerzählungen und politische Lektionen an die Adresse des Lesers, zum Beispiel über die Grenfell-Towers-Tragödie, die Flüchtlingskrise, fremden- und frauenfeindliche Szenen im britischen Parlament. Gerade bei der Montage der politischen Passagen hat sie Probleme, die Texte ins Romangeschehen zu integrieren.

Der Roman einer Bekehrung

Der Roman "Winter" ist wieder – wie schon Band eins des Jahreszeitenzyklus – eine Collage vieler Textformen neben der kammerspielhaft anmutenden Haupthandlung. Und Ali Smith, die eine herausragende Theaterautorin ist, zeigt hier ihr Talent für saftige Dialoge.
Spürbar mit dem Anspruch geschrieben, viele politisch brisante Themen der Gegenwart aus linksliberaler Warte aufzugreifen, hat Smith ihre Charaktere geschwächt, stellenweise sind sie kaum mehr als simple Bannerträger einer Botschaft. Selbst wenn die Leser mit der politischen Linie der Autorin sympathisieren sollten, sie dürften sich als Abladestelle für weithin bekannte Positionen benutzt fühlen.
Aber es ist schließlich "Winter". Da gerät auch eine exzellente Schriftstellerin wie Ali Smith einmal ins Stocken.
Ali Smith: "Winter"
aus dem Englischen von Silvia Morawetz
Luchterhand Verlag, München. 320 Seiten 22 Euro.