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Alina Bronsky: "Der Zopf meiner Großmutter"
Überstrapazierte Schmipftiraden

Halsstarrig, verschroben, charakterstark: Die Figur der russischen Großmutter zieht sich durch Alina Bronskys Romane, diesmal eine Einwanderin, die im Flüchtlingsheim zur bösen Tyrannin wird - als Maske für Angst und Einsamkeit. Doch die Figur ist überzeichnet, alle anderen bleiben blass.

Von Veronika Schuchter | 18.07.2019
Buchcover: Alina Bronsky: "Der Zopf meiner Großmutter"
Alina Bronsky und ihr neuer Roman "Der Zopf meiner Großmutter" (Foto: imago images / Manfred Segerer, Buchcover: Kiepenheuerr & Witsch Verlag)
Die Figur der Großmutter hat es Alina Bronsky angetan. Auch diese ist so halsstarrig, verschroben und charakterstark wie die Großmütter in ihren Romanen zuvor. Das fällt auf, macht aber nichts, werden ältere Frauen sonst ja nicht unbedingt inflationär als Hauptfigur auserkoren. In ihrem vorletzten Roman "Baba Dunjas letzte Liebe" ließ Alina Bronsky etwa eine alte Frau ins verstrahlte Sperrgebiet rund um Tschernobyl zurückkehren. Der dramatischen Szenerie werde der Text dabei nicht ganz gerecht, hieß es, Verharmlosung warf man ihr vor. Da war die durch den spektakulären Schauplatz evozierte Fallhöhe wohl etwas zu groß. Die ist dieses Mal wesentlich kleiner. In "Der Zopf meiner Großmutter" wandert eine russische Familie, bestehend aus den Großeltern und dem kleinen Max, als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland aus. Im Flüchtlingsheim, das den schönen Namen "Zur Sonne" trägt, mutiert die Großmutter zur gnadenlos bösen Tyrannin. Vor ihrer spitzen Zunge ist niemand sicher. Nur gut, dass die meisten Bewohner sie nicht verstehen, denn Deutsch lernt sie nicht. Den kerngesunden Max hält sie für einen minderbemittelten und auch noch sterbenskranken Idioten, der rund um die Uhr beschützt werden muss.
"Während ich am Rand des Pausenhofs stand und meinen Mitschülern beim Toben zusah, beugte sie sich zu mir, wischte mir den Mund oder die Stirn mit ihrem Taschentuch ab und flüsterte: ‚Spiel nie mit dem kleinen Türken, der hat ganz verrückte Augen, als würde er gleich zubeißen. Und siehst du dieses Mädchen? Sie hat fast so eine schlechte Haltung wie du, in ein paar Jahren wird sie ein Korsett wegen Skoliose brauchen, merk dir meine Worte. – Passt mit dem Ball auf ihr arischen Missgeburten, sonst spiele ich gleich mit euren Köpfen Fußball! – Siehst du, wie lebhaft normale Kinder sind, warum stehst du neben deiner Oma wie ein Mehlsack?‘"
Die Tiraden der Tänzerin
Die Schimpftiraden der Großmutter werden überstrapaziert. Kein Klischee lässt sie in ihrer Suada aus: Sexismus, Antisemitismus, Homophobie. Die Türken kriegen ihr Fett ab, die Schwuchteln, die Juden sowieso. Schrumpfkopf, Dumpfbacke, Idiot, Mann ohne Hirn, Schnepfe, Faschist - kaum ein Satz ohne Herabwürdigung, das Repertoire der Großmutter scheint grenzenlos und wirkt dabei künstlich bemüht. Irgendwas muss hinter ihrer zwanghaften Fürsorge der Großmutter stecken. Und irgendwann werden tatsächlich hinter der boshaften Maske eine Einsamkeit und eine Angst sichtbar, die nur den Rundumschlag als Gegenmittel kennt. In ihrer Jugend war Margarita Iwanowa, kurz Margo, eine erfolgreiche Tänzerin, erfährt Max.
"Ich legte das Foto vor mich und versuchte, das Gesicht des Mädchens abzuzeichnen. Ich wusste selbst nicht, warum es mir so wichtig war. Zuletzt hatte ich meine Buntstifte nur benutzt, um den Gesichtern auf den Fotos der russischen Zeitung, die die Großmutter im Supermarkt mitnahm, Hörner und rausgestreckte Zungen anzumalen. Doch jetzt schien es mir darauf anzukommen, dass ich das Gesicht von der Aufnahme so genau wie möglich auf Papier übertrug, als könnte ich das Mädchen von einem Schicksal erlösen, von dem sie auf dem Foto noch nichts ahnte."
Schräge Patchworkfamilie
Diese Zärtlichkeit, die Bronsky so unvermittelt durch die Härte und Unnahbarkeit ihrer Figuren schimmern lässt, ist das Schönste an ihren Texten. Und das ist auch das eigentliche Thema des aktuellen Romans: Es geht um eine Frau, die sich selbst in ein Umfeld katapultiert, in dem sie plötzlich völlig hilflos ist. Sie, die ehemalige Tänzerin, die über bedingungslose Körperbeherrschung und Disziplin verfügte, ist plötzlich abhängig von einem Kind. Das bringt sie in ein unlösbares Dilemma: Sie selbst ist nicht in der Lage, sich zu integrieren, gleichzeitig beschneidet sie den Enkel, wo es nur geht, in seiner Autonomie, um ihre Einsamkeit zu überdecken.
Als der Großvater sich in die jüngere Nina verliebt und Vater des kleinen Tschingis wird, könnte das Ganze in ein Eifersuchtsdrama abgleiten. Herkömmliche Familien- und Beziehungskonstellationen interessieren Bronsky indes nicht. Charakterstarke Frauen und ungewöhnliche Allianzen ziehen sich als roter Faden durch ihre Romanwelten. So entsteht stattdessen eine etwas schräge Patchworkfamilie aus Nina, ihrer Tochter Vera, dem kleinen Tschingis, Max und den Großeltern. Die Großmutter unterstützt die überforderte Nina und bekommt Auftrieb: Sie gründet erfolgreich eine Ballettschule und thront als Matriarchin über allem.
"Manchmal denke ich, meine Mutter ist mit deiner Großmutter verheiratet", flüsterte Vera mir ins Ohr. "Nee, die hassen sich doch", sagte ich, als ob das eine Ehe ausschließen würde.
Trauma im Dunkeln
Bronskys hochgelobter Debütroman "Scherbenpark" ist eine bissige Milieustudie, in der die Autorin Trauma durch Witz erzählbar macht und in Sprache übersetzt. Etwas Ähnliches versucht sie in "Der Zopf meiner Großmutter". Das Trauma ist der zunächst im Dunkeln bleibende Tod von Max’ Mutter Maya, den weder die Großmutter noch ihr Ehemann überwinden können. Wie Großmutter Margo Max sieht, spiegelt ihre eigene Dysfunktionalität und ist Ausdruck der Angst, nach Maya auch den Enkel zu verlieren. Der Roman macht viele Felder auf, deren Potential Bronsky aber versickern lässt. Zu dominant ist diese Großmutter, alle anderen Figuren werden von ihr erdrückt und bleiben blass. Ein Star umgeben von schlecht motivierten Statisten trägt leider keinen Film.
Alina Bronsky bewegt sich seit Jahren konsequent an der Schwelle zwischen Höhenkamm und Unterhaltungsliteratur. Das schlug einmal mehr in die eine, einmal mehr in die andere Richtung aus, war aber immer tragikomisch und berührend. Nur dieses Mal schlägt leider gar nichts aus, "Der Zopf meiner Großmutter" ist weder sonderlich anspruchsvoll noch sehr unterhaltsam. Der schwarze Humor der Autorin ist platter Boshaftigkeit gewichen. Man darf auf die nächste Großmutter hoffen.
Alina Bronsky: "Der Zopf meiner Großmutter"
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 250 Seiten, 20 Euro.