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"Aliyahs Flucht"
Wenn Keuschheit mehr zählt als Persönlichkeit

Aliyah ist ein muslimisches Mädchen, das sich anders verliebt, als die Familie es vorgesehen hat. Für sie beginnt eine dramatische Flucht. Güner Yasemin Balci hat die Geschichte aufgeschrieben. Die Journalistin und ehemalige Sozialarbeiterin weiß um das Leben der muslimischen Mädchen, die den religiösen und traditionellen Ansprüchen ihrer Familien gerecht werden sollen.

Von Ralph Gerstenberg | 08.12.2014
    Aliyah ist eine junge türkisch-kurdische Frau, die in einem Berliner Viertel mit hoher Migrationsdichte aufwuchs. Ihr Leben war nach tradierten Mustern konservativer Muslime glasklar vorgezeichnet. Mit Eintritt in die Pubertät wurde sie von ihrer Familie gehütet und bewacht, um ihre Jungfräulichkeit bis zur Heirat mit einem ausgesuchten türkisch-kurdischen Ehemann mit festem muslimischen Glaubensfundament zu bewahren. Doch dann kam Dimi, ein griechischer Junge aus der Nachbarschaft, in den Aliyah sich verliebte. Mehrere Jahre konnten Aliyah und Dimi ihre Beziehung geheim halten. Als kein Zweifel mehr daran bestand, dass Aliyahs Familie eine gemeinsame Zukunft des Paares mit allen Mitteln verhindern würde, wandte sich die junge Frau an die Publizistin Güner Yasemin Balci mit der Bitte, ihr bei der Flucht vor ihrer Familie zu helfen.
    "Ich hab ja da lange Jugend- und Kinderarbeit gemacht in dem Viertel. Und da sind wir uns dann häufiger begegnet auch. Und sie wusste aber immer, für was ich einstehe, wie ich lebe. Ich habe das ja auch immer vermittelt in meiner Arbeit den Kindern, dass sie alle ein Recht haben darauf, selbstbestimmt zu leben. Und das ist bei ihr hängen geblieben. Und nach vielen, vielen Jahren rief sie mich dann an und kam auf das Angebot zurück, dass ich ihr mal gemacht hatte, dass, wenn sie jemals darüber nachdenken sollte, gehen zu wollen, dass ich dann für sie da wäre und sie mich jederzeit anrufen könnte. Und das ist dann passiert."
    Detailliert beschreibt Güner Yasemin Balci die Umstände von Aliyahs Flucht. Vieles erinnert an Zeugen, die wegen eines Mafiaprozesses untertauchen müssen. Für die junge Frau beginnt eine Odyssee mit geheimen Aufenthaltsorten und falschen Identitäten, fernab von Menschen, die sie liebt. Wochenlang darf sie die Wohnung nicht verlassen, nicht mal ans Fenster gehen. Ämter und Behörden sind überfordert. Immer wieder kommt es zu Pannen. Schriftstücke mit aktuellen Adressen werden an ihre Familie verschickt. So dauert es nicht lange, bis ihr Vater und ihr Onkel sie in Bremen, wo sie in einem Frauenhaus Unterschlupf gefunden hat, aufspüren und mitnehmen wollen.
    "Wir mussten sie so schnell wie möglich an einen sicheren Ort bringen, ohne dass Vater und Onkel ihr dabei folgen konnten. Unter dem Vorwand, die Personalien aufnehmen und überprüfen zu müssen, nahm man die beiden Männer mit aufs Revier, sodass Aliyah die Möglichkeit bekam zu verschwinden. Aber wo sollte sie jetzt unterkommen? Das Frauenhaus war kein sicherer Ort mehr, allein mit der Bahn irgendwohin zu reisen kam für Aliyah auch nicht in Frage. Jetzt, da jeder wusste, in welcher Stadt sie war, würde es ihren Vater nur einen Anruf kosten, um Dutzende Verwandte und Bekannte zu mobilisieren, die jeden Bahnhof und jeden Flughafen abklappern würden."
    Die Ermordung droht
    Was es für Aliyah bedeutet hätte, als quasi Abtrünnige wieder in die Hände ihrer Familie zu geraten, daran lässt Güner Yasemin Balci keinen Zweifel.
    "Die eine Möglichkeit wäre gewesen: Man hätte sie mitgenommen wieder nach Hause und hätte dann möglichst schnell eine Hochzeit arrangiert mit jemandem, der sie noch bereitwillig genommen hätte, obwohl sie ja schon praktisch über Nacht nicht mehr im Haus war, im elterlichen Haus. Das bedeutet für so ein Mädchen immer, dass sie mit dem Vorwurf behaftet ist, dass sie keine Jungfrau mehr ist und eigentlich entehrt. Ansonsten hätte man sie vielleicht in die Türkei verschleppt. In Aliyahs Fall war es ja so, dass es diese Verhandlungen gab auch schon über ihre Cousine, die damals ausgebrochen ist, oder einen Freund hatte verbotenerweise. Und da gab es ja die Verhandlungen, sie in die Türkei zu verschleppen, um sie dort zu ermorden. Und eine andere Cousine von ihr wurde bereits ermordet in Deutschland."
    Neben Aliyahs Flucht schildert Güner Yasemin Balci die Schicksale vieler muslimischer Frauen - und auch einiger Männer -, die unter der Bevormundung durch ihre Familien und die Aussicht auf eine Zwangsheirat leiden. Mit Beginn der Geschlechtsreife - so Balci - seien fast alle dieser Mädchen einem System permanenter Kontrolle ausgesetzt. Ihre Keuschheit werde gehütet wie ein Heiligtum. Eine freie Entwicklung ihrer Persönlichkeit, Freizeitaktivitäten, die Bildung und Förderung ihrer Talente würden massiv behindert. Der Wert einer Frau in heiratsfähigem Alter bemesse sich allein an ihrer sexuellen Abstinenz, ihren Begabungen bei häuslichen Tätigkeiten und ihrer Bereitschaft, sich unterzuordnen.
    "Dass ein Mensch so reduziert wird, das ist so eine extreme Menschenrechtsverletzung. Und das passiert so häufig in Deutschland. Und wir setzen als Gesellschaft dem nichts entgegen. Und das ist eigentlich ein Verbrechen. Ich finde das schon kriminell. Wir alle nehmen für uns und unsere Kinder das ganz selbstverständliche Recht heraus, dass natürlich jeder nach seinen Fähigkeiten und seinen Wünschen eine freie Entwicklung haben sollte. Und all die andern, die um uns herum leben, die nach einem völlig entgegen gesetzten Modell erzogen werden, dass sie eben niemals ein freies Individuum sein dürfen, dass sie immer dem Kollektiv gehorchen müssen, dass sie reduziert werden, wenn sie Mädchen sind, auf ihre Jungfräulichkeit, wir nehmen das völlig hin."
    Mit "Aliyahs Flucht" hat Güner Yasemin Balci ein engagiertes, politisch brisantes und mutiges Buch geschrieben, ein Buch, das unbequeme Fragen stellt und denjenigen eine Stimme gibt, die von Politikern und Islamverbänden gerne übersehen werden. Junge Frauen wie Aliyah haben keine Lobby, solange ihr Schicksal als kulturelle Eigenheit einer bestimmten Migrantenszene gesehen wird. Das zu ändern, betrachtet Güner Yasemin Balci als ihre publizistische Aufgabe. Die Zahl islamischer Frauen, die wie Aliyah die Flucht in ein neues Leben antreten, wird steigen, prognostiziert sie. Diesen Frauen müsse man helfen und zugleich die Diskussion über Geschlechterrollen in muslimischen Einwanderermilieus öffentlich austragen. Mit ihrem Buch will und wird sie dazu beitragen.
    "In dem Moment, wo man sich wirklich mit dieser Lebenssituation, wie Aliyah sie hatte, auseinandersetzt, muss man ja auch nach den Ursachen fragen. Und natürlich muss man auch gucken, was ist das für ein kultureller Hintergrund, was sind das für Traditionen und Sitten, welche Rolle spielt Religion in dem Fall. Und das ist natürlich etwas, was sofort auch Konflikte befördert. Und da müssen wir uns streiten. Es geht gar nicht anders. Weil sich sonst nichts verändert."
    Güner Balci: "Aliyahs Flucht oder Die gefährliche Reise in ein neues Leben", S. Fischer Verlag, 256 Seiten, 14,99 Euro, ISBN: 978-3-100-04816-5.