Mittwoch, 17. April 2024

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Alkoholismus
Mut zur Selbstentblößung

In dem Sachbuch "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" beleuchtet Daniel Schreiber den Alkoholismus als Gesellschaftsphänomen. Der Journalist war jahrelang selbst alkoholabhängig. Durch den ständigen Rekurs auf die eigene Suchtbiografie erhalten abstrakte Informationen Kontur und Nachdruck.

Von Tabea Soergel | 18.02.2015
    Schnaps wird von einer Flasche in mehrere Gläser gegossen.
    Gerade in Deutschland wird Trinkfestigkeit als Ausdruck von Bodenständigkeit und Männlichkeit bewertet. (picture-alliance / dpa / Dominique Gutekunst)
    Die Fakten sind alarmierend. Der mittlere Verbrauch reinen Alkohols ist in Deutschland doppelt so hoch wie der weltweite Durchschnitt. Knapp zehn Millionen Bundesbürger legen ein riskantes Trinkverhalten an den Tag. Deutschland scheint ein massives Alkoholproblem zu haben. Und obgleich keine Altersgruppe, kein Geschlecht und keine gesellschaftliche Sphäre davon ausgenommen ist, werden Betroffene gebrandmarkt und isoliert. Für diesen Umstand macht Daniel Schreiber in seinem Essayband "Nüchtern. Über das Trinken und das Glück" die hierzulande mit Suchtphänomenen verbundene Scham verantwortlich. Sie resultiere in völliger Verleugnung des Problems und letztendlich in gesamtgesellschaftlicher Sprachlosigkeit.
    "Von einer Gesellschaft, die sich kollektiv den Genuss eines Rauschmittels erlaubt, würde man eigentlich erwarten, dass sie nicht auf die Menschen herabschaut, die ein Problem mit dem Konsum dieser Droge haben und davon krank werden. Vielleicht kommen wir als Gesellschaft (...) irgendwann einmal tatsächlich an diesen Punkt. Doch zurzeit ist Alkoholismus eine der Krankheiten, für die man sich schämen muss. Was tragisch ist. Denn möchte man eine Chance haben, diese Krankheit zu überleben, muss man als Erstes aufhören, sich dafür zu schämen, dass man sie hat."
    Schreiber wendet sich nicht nur den seelischen und sozialen Folgen des Alkoholmissbrauchs oder der wechselnden öffentlichen Stigmatisierung von Krankheiten im Allgemeinen zu, sondern auch der tiefen kulturellen Verankerung des Alkoholkonsums. Gerade in Deutschland wird Trinkfestigkeit als Ausdruck von Bodenständigkeit und Männlichkeit bewertet - will etwa ein Politiker zugleich Volksnähe und Führungsstärke demonstrieren, posiert er für die Pressefotografen mit Bierglas in der Hand. Paradoxerweise, schreibt der Autor, werde Alkoholismus hingegen oft "feminisiert". Nach wie vor bestehe das archaische Vorurteil: "Männer können trinken. Frauen nicht." Auch und gerade einige Medien agieren als Multiplikatoren dieses gefährlichen Klischees:
    "So ist zum Beispiel kein Artikel über den sympathischen einstigen Fußballprofi und Nationalspieler Uli Borowka zu lesen, der nicht darauf hinweist, dass Borowka 'trotz seiner Alkoholeskapaden als einer der besten deutschen Verteidiger seiner Zeit galt' und dass er 'am Ende am Tag einen Kasten Bier, eine Flasche Wodka, eine Flasche Whisky und zum Abschluss noch Magenbitter' getrunken habe. Was für ein Mann, so der Subtext dieser Berichterstattung. Und außerdem: Wenn Sie nur einen Kasten Bier am Tag trinken und auch kein Profifußballer sind, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen."
    Warum gilt Alkoholkonsum als wünschenswerter Regelfall?
    Schreiber stellt die verblüffende, aber völlig berechtigte Frage, warum Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft also als wünschenswerter Regelfall gilt, Verzicht jedoch als Anomalie - und Alkoholismus als Verfehlung. Die soziokulturellen Betrachtungen, die er mit aktuellen Erkenntnissen aus der Suchtforschung, Psychologie und Neurobiologie anreichert, sind immer von persönlichen Erfahrungen des Autors grundiert. Daniel Schreiber, das schildert er gleich auf den ersten Seiten seines Buchs, war jahrelang selbst alkoholabhängig. Durch den ständigen Rekurs auf die eigene Suchtbiografie erhalten abstrakte Informationen Kontur und Nachdruck - und das Klischee des willensschwachen Säufers, der angeblich gar nichts mit unserer Gesellschaft zu tun hat, ein Gesicht: dasjenige des Autors, der dem gängigen Stereotyp kaum weniger entsprechen könnte. Auch in der Hochphase seiner Abhängigkeit hatte er ein ausgefülltes Sozialleben und Erfolg im Beruf. Und bildete damit in unserer modernen Leistungsgesellschaft keine Ausnahme.
    "Der schon an anderer Stelle erwähnte dramatische Anstieg des bundesdeutschen Pro-Kopf-Verbrauchs an Alkohol auf die fast vierfache Menge seit dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in fast allen westlichen Ländern beobachten. Es ist eine Begleiterscheinung einer Gesellschaft, die immer wohlhabender und produktiver wird, einer Kultur, in der man immer mehr arbeitet und auch immer mehr trinkt. In gewisser Hinsicht ist Abhängigkeit ein tolerierter Bestandteil dieses Systems. Man kann erstaunlich lange trinken und arbeiten, ohne an soziale und gesellschaftliche Grenzen zu stoßen."
    Schreibers Buch geht über Beschreibung und Analyse des Alkoholismus' hinaus: Nicht zuletzt soll es auch einen möglichen Ausweg aus der Sucht aufzeigen. Dabei verfährt er ebenso handfest und undramatisch wie bei seiner vorangegangenen Bestandsaufnahme, ohne aber die gebotene Ernsthaftigkeit vermissen zu lassen. Und wieder dient Schreibers eigenes Leben als Beispiel und Beleg. In einem flüssigen, gut lesbaren Stil erzählt er anschaulich von gescheiterten Versuchen, seinen gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum zu reduzieren, vom Glück der Abstinenz und den Herausforderungen und Rückschlägen im "nüchternen" Leben - wie zum Beispiel dem heftigen Bedürfnis nach Alkohol in Krisensituationen:
    "Man muss es schaffen, in solchen Momenten, in denen einen plötzlich der Wunsch zu trinken, überkommt - in der Regel sind es nur ein paar Sekunden -, ehrlich mit sich zu sein. Es ist nie bloß das eine Glas Wein, das man möchte. Durchzuspielen, was letztlich passieren würde, wenn man dieses erste Glas tatsächlich tränke, unterstützt die Wahrheitsfindung."
    Mischung aus Intimität und Lakonie
    Der sehr persönliche Ton mag zuweilen irritieren; jedoch ist er im Fall eines Themas, das im denkbar engsten Zusammenhang mit Persönlichkeit und Lebenswandel steht, durchaus angebracht. Zudem ermöglicht er so überhaupt erst Empathie und Identifikation aufseiten des Lesers. Schreibers Mut zur Selbstentblößung hat Methode: Eines seiner Hauptanliegen ist die Enttabuisierung seines Sujets. Für seine Offenheit muss man dem Autor Respekt zollen, selbst wenn man bei der Lektüre hin und wieder das Gefühl hat, ins allzu Private zu schauen. Dem stehen Sätze gegenüber, die in ihrer Mischung aus Intimität und Lakonie nachhallen.
    "Ohne sich dessen bewusst zu sein, trinkt man, um mit den Folgen des eigenen Trinkens umzugehen, um sich normal zu fühlen. Es ist eine zwanghafte, eine tödliche Energie, die einen an der Idee festhalten lässt, das Trinken könne helfen. Aber sie ist die einzige Form von Energie, die man noch hat. Und selbst die erlischt irgendwann. Ein Leben ohne Alkohol kann man sich nicht mehr vorstellen, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt kann man sich auch ein Leben mit Alkohol nicht mehr vorstellen."
    Nur gelegentlich verlässt den Autor die wohltuende Sachlichkeit seines Stils, wenn er angesichts seines Siegs über den Alkohol in einen Duktus verfällt, der ein wenig an Selbsthilfegruppen-Floskeln erinnert. Allerdings kommentiert er dies selbst ironisch. Unter Umständen sind bei einem so komplexen Problem wie der Abhängigkeit auf den ersten Blick simple Weisheiten auch die hilfreichsten.
    "Der Trinker trinkt, weil er abhängig ist"
    Das vielleicht größte Verdienst Daniel Schreibers ist es, das Schweigen über den Alkoholismus auf sehr unaufdringliche Weise zu brechen, ohne jedoch die Schwere des Themas zu verleugnen. Stimmen wie seine, unaufgeregt, informativ und glaubhaft, werden dringend benötigt, solange sich die Öffentlichkeit, sei es aus Unkenntnis, sei es aus Scham, von Betroffenen abwendet, an den medial inszenierten Suchtbeichten von Prominenten ergötzt und den Zusammenhang zwischen Trinkkultur und Abhängigkeit ignoriert. Alkoholismus, das stellt Schreiber in seinem Buch klar, ist kein Ausweis von Disziplinlosigkeit, keine Folge psychischer Störungen, sondern eine Krankheit. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
    "Die Antwort auf die Frage nach dem Warum ist immer die Gleiche: Es gibt keinen magischen, keinen psychologischen Grund für das Trinken. Es gibt kein Geheimnis, das es zu entschlüsseln gelte. Die Antwort lautet stets: Der Trinker trinkt, weil er abhängig ist."