Jürgen Liminski: In Frankreich hat die heiße Phase des Wahlkampfs um die Präsidentschaft begonnen. Je stärker die traditionelle Polarisierung zwischen Links und Rechts greift, um so deutlicher scheint der dritte Mann, Francois Bayrou, wieder hinter die beiden Spitzenkandidaten, Sarkozy für das Regierungslager und Madame Royal für die Linksopposition, zurückzufallen. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass man wegen der Polarisierung wieder stärker nach den Werten fragt, die die Kandidaten vertreten, ja nach den Werten für Frankreich überhaupt. In diesem Zusammenhang ist ein Buch interessant, das jetzt auf den Markt gekommen ist. Es heißt "Moralisch korrekt, verzweifelt Werte gesucht" und stammt aus der Feder des Journalisten und Buchautors Jean Sevillia. Er ist nun am Telefon, mit ihm wollen wir über die Wertedebatte in Frankreich sprechen. Guten Morgen Herr Sevillia!
Jean Sevillia: Guten Morgen!
Liminski: Herr Sevillia, läuft es drei Wochen vor dem ersten Wahlgang wieder auf einen Zweikampf Sarkozy-Royal zu, hat Bayrou noch eine Chance, ist noch alles offen?
Sevillia: Wer weiß! Meiner Meinung nach sind alle Prognosen möglich. Erstens, die Hälfte der Wähler sind noch unentschieden, und was meinen diese Wähler? Niemand weiß es. Zweitens, fast ein Drittel der Wähler können noch ihre Meinung oder ihre Wahl ändern. Vielleicht hat Bayrou noch eine Chance. Niemand weiß es, aber Sie haben mir keine Frage über den dritten Mann oder den vierten Mann gestellt, Le Pen. Le Pen hat seine Anhänger. Sie sind nicht salonfähig in der Tat, aber diese Leute wählen, sind sie zahlreich heute? Man weiß es nicht. Also meiner Meinung nach ist alles offen.
Liminski: Fast die Hälfte der Wähler sind noch unentschieden, alles ist offen, sagen Sie. Bedeutet das, dass die Franzosen mit den Programmen der Kandidaten nicht zufrieden sind?
Sevillia: Das wichtigste Problem ist das Vertrauen in die Politiker. 69 Prozent der Franzosen vertrauen nicht den Politikern. 77 Prozent der Franzosen vertrauen weder der Linken noch der Rechten. In diesem Fall, noch einmal, ist alles möglich.
Liminski: Wahlkämpfe plakatieren auch Wertedebatten. Versteckt sich denn hinter der Unentschiedenheit der Wähler oder dem Misstrauen der Wähler auch die Unzufriedenheit mit der öffentlichen Wertedebatte. Sie schreiben in Ihrem Buch, Werte verzweifelt gesucht. Welche Werte vermissen denn die Franzosen?
Sevillia: Die französische Gesellschaft ist vom Individualismus tief geprägt, einer Ich-Mentalität. Jemand will mehr, mehr Recht, mehr Geld und so weiter, mehr und mehr, aber das will er für ihn und nur für ihn. Das Gemeinwohl ist heute vergessen. Die Gewerkschaften zum Beispiel vertreten die Interessen von ihren Mitgliedern, aber nur von ihren Mitgliedern. So gibt es einen Widerspruch. Alle Franzosen wollen Solidarität und sind mit Solidarität einverstanden, aber niemand will auf seine Vorteile verzichten.
Liminski: Das erinnert sehr stark an die Debatte hierzulande, aber es wird in Frankreich derzeit auch viel über Patriotismus gesprochen. Ist das ein Ersatzwert? Denn die Werte, die meist vermisst werden, haben doch mehr mit dem persönlichen Verhalten zu tun, wie Sie sagen, als mit kollektiven Überzeugungen. Also ist der Patriot ein Gutmensch und der Nichtpatriot ein schlechter Franzose, und reden die Politiker deshalb so viel über die Vorzüge der Nation?
Sevillia: Frankreich hat ein Problem mit ihrer gemeinsamen Identität. Frankreich ist eine alte Nation, aber Frankreich hat viele Einwanderer und Migranten, und man weiß heute nicht, wer ist Franzose oder fremd. Das ist ein Problem, und das hat mit Rassismus nichts zu tun, das hat mit dem gemeinsamen Schicksal des Landes zu tun.
Liminski: Für einen Wert, Herr Sevillia, muss der Staat sorgen, das ist die Sicherheit. Darüber gibt es auch hier in Deutschland derzeit eine Debatte. Ist man in Frankreich bereit, auf Freiheiten zu verzichten, also mehr Kontrollen zu ertragen, um mehr Sicherheit zu haben?
Sevillia: Ja, das glaube ich. Die Sicherheit, die innere Sicherheit ist ein Problem, ein sehr starkes Problem. In den Vororten der großen Städte kann heute eine Frau nicht allein auf der Straße nachts gehen, und das ist unerträglich. Und alle Franzosen, links oder rechts, wollen Sicherheit, und sie sind bereit, auch mehr Kontrollen zu ertragen. Dessen bin ich sicher, ja.
Liminski: Profitiert von diesem Bedürfnis nach mehr Sicherheit vor allem Sarkozy vermutlich?
Sevillia: Wahrscheinlich, ja.
Liminski: Für welche Werte, glauben Sie, würden die Franzosen denn auf die Straße gehen, um diese Werte auch gegen die Regierung zu verteidigen?
Sevillia: Das ist nicht ein Problem mit der Regierung, das ist ein Problem mit den Franzosen, mit ihnen selbst. Ich hoffe, dass die Franzosen nicht auf die Straße gehen werden, um Werte zu verteidigen, mit oder gegen die Regierung.
Liminski: Sondern Sie hoffen, dass sie die Werte sozusagen auch so verteidigen können?
Sevillia: Die Sicherheit zum Beispiel, ja.
Liminski: Welche Rolle spielen eigentlich die Intellektuellen im Wahlkampf? Die Intellektuellen sind ja die Träger oder die Stimme der Wertedebatte. Zählt die Stimme der Intellektuellen noch oder sind die Stimmen von Schauspielern und Sängern schon wichtiger?
Sevillia: Frankreich ist leider wie alle europäischen Gesellschaften eine Mediengesellschaft, und die Leute, die schauspielen, oder die Sänger, die man im Fernsehen sieht, spielen eine wichtigere Rolle als die Intellektuellen, leider.
Liminski: Das heißt, es werden weniger Bücher gelesen, vielleicht auch Ihr Buch wird weniger gelesen?
Sevillia: Oh nein, nein, ich habe Leser, Gott sei Dank.
Liminski: Besten Dank nach Paris, Herr Sevillia.
Jean Sevillia: Guten Morgen!
Liminski: Herr Sevillia, läuft es drei Wochen vor dem ersten Wahlgang wieder auf einen Zweikampf Sarkozy-Royal zu, hat Bayrou noch eine Chance, ist noch alles offen?
Sevillia: Wer weiß! Meiner Meinung nach sind alle Prognosen möglich. Erstens, die Hälfte der Wähler sind noch unentschieden, und was meinen diese Wähler? Niemand weiß es. Zweitens, fast ein Drittel der Wähler können noch ihre Meinung oder ihre Wahl ändern. Vielleicht hat Bayrou noch eine Chance. Niemand weiß es, aber Sie haben mir keine Frage über den dritten Mann oder den vierten Mann gestellt, Le Pen. Le Pen hat seine Anhänger. Sie sind nicht salonfähig in der Tat, aber diese Leute wählen, sind sie zahlreich heute? Man weiß es nicht. Also meiner Meinung nach ist alles offen.
Liminski: Fast die Hälfte der Wähler sind noch unentschieden, alles ist offen, sagen Sie. Bedeutet das, dass die Franzosen mit den Programmen der Kandidaten nicht zufrieden sind?
Sevillia: Das wichtigste Problem ist das Vertrauen in die Politiker. 69 Prozent der Franzosen vertrauen nicht den Politikern. 77 Prozent der Franzosen vertrauen weder der Linken noch der Rechten. In diesem Fall, noch einmal, ist alles möglich.
Liminski: Wahlkämpfe plakatieren auch Wertedebatten. Versteckt sich denn hinter der Unentschiedenheit der Wähler oder dem Misstrauen der Wähler auch die Unzufriedenheit mit der öffentlichen Wertedebatte. Sie schreiben in Ihrem Buch, Werte verzweifelt gesucht. Welche Werte vermissen denn die Franzosen?
Sevillia: Die französische Gesellschaft ist vom Individualismus tief geprägt, einer Ich-Mentalität. Jemand will mehr, mehr Recht, mehr Geld und so weiter, mehr und mehr, aber das will er für ihn und nur für ihn. Das Gemeinwohl ist heute vergessen. Die Gewerkschaften zum Beispiel vertreten die Interessen von ihren Mitgliedern, aber nur von ihren Mitgliedern. So gibt es einen Widerspruch. Alle Franzosen wollen Solidarität und sind mit Solidarität einverstanden, aber niemand will auf seine Vorteile verzichten.
Liminski: Das erinnert sehr stark an die Debatte hierzulande, aber es wird in Frankreich derzeit auch viel über Patriotismus gesprochen. Ist das ein Ersatzwert? Denn die Werte, die meist vermisst werden, haben doch mehr mit dem persönlichen Verhalten zu tun, wie Sie sagen, als mit kollektiven Überzeugungen. Also ist der Patriot ein Gutmensch und der Nichtpatriot ein schlechter Franzose, und reden die Politiker deshalb so viel über die Vorzüge der Nation?
Sevillia: Frankreich hat ein Problem mit ihrer gemeinsamen Identität. Frankreich ist eine alte Nation, aber Frankreich hat viele Einwanderer und Migranten, und man weiß heute nicht, wer ist Franzose oder fremd. Das ist ein Problem, und das hat mit Rassismus nichts zu tun, das hat mit dem gemeinsamen Schicksal des Landes zu tun.
Liminski: Für einen Wert, Herr Sevillia, muss der Staat sorgen, das ist die Sicherheit. Darüber gibt es auch hier in Deutschland derzeit eine Debatte. Ist man in Frankreich bereit, auf Freiheiten zu verzichten, also mehr Kontrollen zu ertragen, um mehr Sicherheit zu haben?
Sevillia: Ja, das glaube ich. Die Sicherheit, die innere Sicherheit ist ein Problem, ein sehr starkes Problem. In den Vororten der großen Städte kann heute eine Frau nicht allein auf der Straße nachts gehen, und das ist unerträglich. Und alle Franzosen, links oder rechts, wollen Sicherheit, und sie sind bereit, auch mehr Kontrollen zu ertragen. Dessen bin ich sicher, ja.
Liminski: Profitiert von diesem Bedürfnis nach mehr Sicherheit vor allem Sarkozy vermutlich?
Sevillia: Wahrscheinlich, ja.
Liminski: Für welche Werte, glauben Sie, würden die Franzosen denn auf die Straße gehen, um diese Werte auch gegen die Regierung zu verteidigen?
Sevillia: Das ist nicht ein Problem mit der Regierung, das ist ein Problem mit den Franzosen, mit ihnen selbst. Ich hoffe, dass die Franzosen nicht auf die Straße gehen werden, um Werte zu verteidigen, mit oder gegen die Regierung.
Liminski: Sondern Sie hoffen, dass sie die Werte sozusagen auch so verteidigen können?
Sevillia: Die Sicherheit zum Beispiel, ja.
Liminski: Welche Rolle spielen eigentlich die Intellektuellen im Wahlkampf? Die Intellektuellen sind ja die Träger oder die Stimme der Wertedebatte. Zählt die Stimme der Intellektuellen noch oder sind die Stimmen von Schauspielern und Sängern schon wichtiger?
Sevillia: Frankreich ist leider wie alle europäischen Gesellschaften eine Mediengesellschaft, und die Leute, die schauspielen, oder die Sänger, die man im Fernsehen sieht, spielen eine wichtigere Rolle als die Intellektuellen, leider.
Liminski: Das heißt, es werden weniger Bücher gelesen, vielleicht auch Ihr Buch wird weniger gelesen?
Sevillia: Oh nein, nein, ich habe Leser, Gott sei Dank.
Liminski: Besten Dank nach Paris, Herr Sevillia.