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Alltag in Griechenland
"Die Probleme werden in den nächsten Tagen größer"

Es herrsche eine absurde Normalität in Griechenland, sagte Alexander Theodoridis im DLF. Er versorgt Armenküchen mit Essen. Die Probleme im Alltag würden aber in den nächsten Tagen größer werden. Die Unsicherheit bei den Menschen sei groß, es gebe viele widersprüchliche Aussagen.

Alexander Theodoridis im Gespräch mit Sandra Schulz | 07.07.2015
    Obdachloser in Athen, Ende Mai 2015
    Ein Obdachloser in Athen - die Menschen in Griechenland leiden unter der Krise. (dpa / picture-alliance / Orestis Panagiotou)
    "Die Meisten wissen nicht mehr, was sie denken sollen", sagte Theodoridis. Schon in den vergangenen Jahren seien immer mehr Menschen auf Armenküchen angewiesen gewesen. Er befürchtet, dass sich die Situation weiter verschlimmern könne.
    Der Alltag sei davon schon beeinflusst: Zum Beispiel bekomme man bei Banken kaum noch 20-Euro-Scheine. Das führe dazu, dass man gar nicht den Maximalbetrag von 60 Euro erhalte. "Man bekommt nur 50 Euro statt 60". Die Unsicherheit sei derzeit sehr groß, die meisten Menschen wüssten gar nicht mehr, was sie denken sollen. "Die Menschen hoffen, dass es irgendwann wieder aufwärts geht, dass man irgendwann wieder ein normales Land in der Europäischen Union wird."

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: In Brüssel beraten heute wieder die Finanzminister der Eurogruppe, danach auch wieder die Staats- und Regierungschefs. Neue Vorschläge verspricht die griechische Regierung. Neue Vorschläge fordern die Geldgeber. Ob beide Seiten jetzt heute zusammenfinden nach diesem donnernden Nein aus Griechenland bei dem Referendum, das ist offen. Unerwartet deutlich hatten sich die Bürger Griechenlands gegen den Reform- und Sparkurs von EU und IWF ausgesprochen. Damit ist die Unsicherheit um die Situation in dem Land natürlich noch einmal gewachsen. Wir wollen darüber sprechen, über die Situation in Athen, mit Alexander Theodoridis. Er versorgt in Athen Armenküchen mit Lebensmitteln, koordiniert übers Internet, und ist jetzt bei uns am Telefon. Guten Morgen!
    Alexander Theodoridis: Guten Morgen!
    Schulz: Herr Theodoridis, so traurig es ist, Ihr Geschäft gehört zu denen, die in den letzten Jahren Konjunktur hatten?
    Theodoridis: Ja, leider. Wir sagen immer, unser Endzweck ist, dass wir nicht mehr nötig sind, aber leider in den letzten Jahren waren wir immer mehr nötig.
    Schulz: Angekurbelt wird das Ganze durch den Sparkurs in Griechenland aus den letzten Jahren?
    Theodoridis: Ja, auf jeden Fall. Das ist eindeutig, dass dies die ganze Wirtschaft zugrunde gebracht hat und die Arbeitslosigkeit steigt, und dadurch steigt auch die Anzahl der Menschen, die Hilfe brauchen jeden Tag.
    Schulz: Kann man das quantifizieren? Der Bedarf an Armenküchen, an ähnlichen Einrichtungen, ist der deutlich gewachsen in den letzten Jahren?
    Theodoridis: Ja. Die besten Zahlen, die wir haben, die sind von den Sozialdiensten der Städte, und mit denselben Kriterien in den letzten vier, fünf Jahren können wir von einer Verzehnfachung der Menschen sprechen, die das Recht haben, unter denselben Kriterien soziale Hilfe zu bekommen.
    "Referendum eine Abstimmung, ob die Griechen jetzt in Europa bleiben wollen oder nicht"
    Schulz: Das heißt, dass es offenbar immer mehr Menschen gibt, die ohne Unterstützung ihren Alltag nicht meistern können. Sie haben trotzdem bei dem Referendum vorgestern mit Ja abgestimmt, also im Grunde für einen weiteren Sparkurs. Warum?
    Theodoridis: Ja, weil es ja nicht um den Sparkurs eigentlich ging. So wie ich das verstanden habe, war das Referendum eine Abstimmung, ob die Griechen jetzt in Europa bleiben wollen oder nicht, und da ich bei dieser Frage ein eindeutiges Ja in meinem Kopf habe, habe ich mit Ja gestimmt.
    Schulz: Aber nach allem, was wir gehört haben, haben die Menschen, die mit Nein gestimmt haben, ja eigentlich die gleiche Meinung wie Sie. Die allermeisten wollen sicherlich im Euro bleiben, in Europa bleiben, das zeigen Umfragen, sind aber gegen die Austeritätspolitik. Ist es denn doch wahr, was an Kritik vorher geäußert wurde, dass dieses Referendum ein großes Missverständnis ist?
    Theodoridis: Ja, absolut. Ich finde das eine Absurdität. Es gab auch konstitutionelle Fragen, ob es richtig ist, so wie es passiert ist. Theoretisch war das über ein Abkommen, das nicht mehr auf dem Tisch ist und nicht mehr auf dem Tisch war seit letztes Wochenende. Also habe ich das Ganze persönlich gar nicht verstanden, warum das stattfindet. Natürlich verstehe ich politisch, warum das stattgefunden hat, aber theoretisch war die Grundlage nicht mehr da. Danach gab es die ganzen Stimmen von allen anderen Menschen am Verhandlungstisch aus Europa und die haben alle gesagt, es geht um Europa und nicht um den Sparkurs, und wenn der stärkere Partner am Verhandlungstisch das sagt, dann geht es nach meiner Analyse darum und nicht um das, was jemand anders sich vielleicht vorstellen kann.
    "Eine absurde Normalität herrscht"
    Schulz: Jetzt wachsen ja langsam auch wirklich die praktischen Probleme. Die Banken, die bleiben allerwenigstens bis morgen noch zu. Es bleibt bei den 60 Euro, die man aus dem Geldautomaten holen kann. Was heißt denn das für Ihren Alltag?
    Theodoridis: Erstens muss man sagen, dass seit letzten Donnerstag es keine Zwanziger mehr gibt an den Banken, oder sehr selten, und man bekommt nur 50 Euro statt 60. Für den Alltag kann man im Moment noch sagen, dass eine absurde Normalität herrscht. Aber die Probleme werden in den nächsten Tagen sicher größer werden auch im Alltag. Ich persönlich fahre jeden Tag mit der U-Bahn und das ist umsonst seit letzten Montag. Das ist zum Beispiel für mich ein Plus im Alltag. Natürlich meine ich das ironisch, weil diese Situation ist wirklich nicht sehr erfreulich, muss man sagen, um es milde auszudrücken.
    Schulz: Worauf stellen die Menschen sich jetzt ein?
    Theodoridis: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, die Unsicherheit ist so groß und die Aussagen von jeder Seite und von jedem sind so viel und so divers, dass, glaube ich, die meisten nicht mehr wissen, was sie denken sollen mittlerweile. Man kann nur sagen, was die Menschen hoffen. Die Menschen hoffen, dass es irgendwann wieder aufwärtsgeht und dass man wieder ein normales Land in der Europäischen Union wird und dass international das Wort Griechenland nicht mehr mit Misere, ökonomischer Krise und diesen negativen Sachen assoziiert wird, sondern nur mit guten Wörtern wie zum Beispiel "sehr schönes Land", "Urlaub", "Freude", "gutes Essen", "schöne Leute" und so weiter.
    Schulz: Alexander Theodoridis, Mitbegründer der Hilfsorganisation Boroume in Athen. Danke für diese Eindrücke heute Morgen.
    Theodoridis: Vielen Dank.
    Schulz: ..., wenn auch die Mobiltelefon-Leitung dann doch schlechter war, als von uns erwartet. Das bitten wir zu entschuldigen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.