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Alltag unter Polizeischutz
"Die Gefahr ist groß, dass man sich daran gewöhnt"

Seit Grünen-Politiker Cem Özdemir im Bundestag sitzt, wird er bedroht, mal von türkischen Nationalisten, mal von deutschen Rechtsextremisten. Bei öffentlichen Terminen wird er immer von Personenschützern begleitet. Ein Zustand, den er inzwischen gut kennt – an den er sich aber nie gewöhnen möchte.

Von Barbara Schmidt-Mattern | 18.02.2020
Portraitbild des Grünen-Politikers Cem Özdemir
Mindestens drei Personenschützer sind dabei, wenn Grünen-Politiker Cem Özdemir in der Öffentlichkeit auftritt (dpa)
Küsschen links, Küsschen rechts, jeder umarmt jeden. Drumherum warten Autogrammjäger, Schaulustige pirschen sich heran, in der Hoffnung, hier im Babylon-Kino in Berlin-Mitte, ein Selfie mit Cem Özdemir zu ergattern. Der hat in diesem Moment jedoch ganz andere Sorgen: "Pia, you can join me. Meine Mama hat 'ne Jacke, die müsst Ihr noch holen. Die wissen am Eingang Bescheid, ja? Nicht vergessen! So!"
Für die drei Personenschützer, die den Grünen-Politiker und seine Familie begleiten, ist das hier der schwierigste Moment: Ein einziges Durcheinander am Endes des Abends mit wildfremden Menschen, die Cem Özdemir ziemlich nahekommen: "Herr Özdemir, würden Sie mir auch ein Autogramm geben?", fragt eine Frau. Özdemir unterschreibt: "Gerne. Oh, neben Can Dündar, das ist eine große Ehre."
Während die Beamten vom Bundeskriminalamt sich rund um die kleine Menschentraube aufbauen und permanent Blickkontakt halten, schiebt sich der Tross langsam Richtung Kino-Foyer. Seit 16 Jahren geht das jetzt so: Die Männer mit den Knöpfen im Ohr sind immer dabei. 1994 zog Cem Özdemir erstmals in den Deutschen Bundestag ein, seitdem wird er bedroht – mal von türkischen Nationalisten, mal von deutschen Rechtsextremisten. Deshalb: Kein öffentlicher Termin ohne Polizeischutz.
"Naja, der Klassiker ist immer, wenn die Veranstaltung rum ist. Die einen wollen Selfies, die anderen kennen einen von früher, der dritte will ein Buch signieren lassen. Und das alles gleichzeitig. Das ist immer eine sehr unübersichtliche Situation, da legt man sich auch selber Techniken zurecht", sagt Özdemir.
Wo ist der nächste Fluchtweg, wer steht da vor meinem Haus, welcher Sitzplatz ist der Sicherste in der Deutschen Bahn – Cem Özdemir hat gelernt, wachsam zu sein. Genauso wie der Gastgeber dieses Abends, der prominente türkische Journalist und Dokumentarfilmer Can Dündar.
Staatsfeind unter Staatsschutz
Dündar gilt in der Türkei als Staatsfeind und hat politisches Asyl in Deutschland erhalten. Auch er bekommt Personenschutz. "Es ist schon beschämend, dass wir sogar in Deutschland Leibwächter benötigen", sagt Dündar. Sicher fühle er sich nicht.
Alles geht gut im Babylon-Kino, obwohl mit Cem Özdemir und Can Dündar gleich zwei Männer an diesem Abend beschützt werden müssen. Den ständigen Druck verarbeitet Cem Özdemir mit schwarzem Humor: "Gutes Ziel eigentlich, man hat alle – in Anführungszeichen – 'Verräter' beieinander".
An seine Leibwächter hat sich Cem Özdemir längst gewöhnt, aber mancher Kino-Besucher reagiert überrascht auf die vielen Sicherheitsleute: "Das ist mir schon aufgefallen, jaja. Aber für die Sicherheit ist es die einzige Möglichkeit", sagt ein 67-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen möchte. Er bewundere den, wie er sagt, Mut mancher Politiker, sich trotz Drohungen in der Öffentlichkeit zu zeigen: "weil sie um ihr Leben fürchten müssen, und deswegen haben sie die entsprechenden Sicherheitsleute, aber das ist ja kein hundertprozentiger Schutz. Es kann ja trotzdem was passieren. Und das ist schon traurig, dass wir hier in unserem Land so eine Sicherheit benötigen für bestimmte Leute auch."
"Ja, erstmal bin ich sehr dankbar, dass ich diesen Schutz hab, und haben darf", sagt ein nachdenklicher Cem Özdemir. Aber, fügt der 54-Jährige hinzu: "Die Gefahr ist groß, dass man sich daran gewöhnt und das als Normalfall betrachtet. Das sollte aber natürlich nicht der Normalfall sein."
Bedrohungen gegen Politiker aller Parteien
Andererseits ist Özdemir längst keine Ausnahme mehr. Thüringens Noch-CDU-Chef Mike Mohring erhielt nach der Landtagswahl im Herbst Morddrohungen. In Sachsen-Anhalt schossen Unbekannte auf das Bürgerbüro des SPD-Bundestags-Abgeordneten Karamba Diaby, und erst kürzlich, nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen, wurden der FDP-Politiker Thomas Kemmerich und seine Frau bedroht:
"Ich hab keinen Kontakt zu ihm, aber ich habe ja auch gleich getwittert, dass ich das in aller Schärfe verurteile. Ähnliches gilt für Plakate der FDP oder gilt Kollegen der CDU", sagt Özdemir.
Nicht zu wissen, welche Gefahr in welchem Moment droht, ist das Schlimmste, sagt auch Pia Castro. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Cem Özdemir ist sie an diesem Abend zu Gast im Babylon Kino: "Wir wissen nicht, was Gefahr ist, bis man Gefahr empfindet und sieht. Natürlich, die Lage ist gefährlich, sonst würden wir ja nicht darüber sprechen jetzt."
Gemeinsam haben Pia Castro und Cem Özdemir zwei Kinder. Für sie die richtige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zu finden, fällt den Eltern bisweilen schwer. Und in manchen Momenten fühlen sie sich trotz Personenschutz von den Sicherheitsbehörden im Stich gelassen.
Castro:" Wenn jemand zumindest einmal zu uns gekommen wäre und uns vielleicht ein paar Tipps hätte geben können, mir, meine Familie, wann macht man Augenkontakt, wann empfindet man Gefahr – meine Kinder sind selbst trainiert. Wir sind alle selbst trainiert!"
Özdemir: "Was passiert zum Beispiel in einer Bedrohungssituation, sollen die Kinder bei mir bleiben, oder sollen sie weglaufen?"
Sogar Cem Özdemirs Mutter bekam aus Sicherheitsgründen zuhause in Baden-Württemberg schon Besuch von der Polizei, so erzählt die zierliche, kleine Dame, die extra zu der türkischen Filmreihe nach Berlin gereist ist. Ihr Sohn solle doch nach Dahlem ziehen, raten ihm die Sicherheitsbehörden. Aber trotz Steinwürfen und merkwürdigen Gestalten vor der Haustür: Cem Özdemir will weiter in Berlin-Kreuzberg wohnen.
"Deshalb weigere ich mich auch, wenn man mir sagt, ich soll umziehen ins vornehme Dahlem oder so. Das hat man mir schon aus Sicherheitsgründen nahegelegt, dass das ja einfacher wäre, aber warum eigentlich. Außerdem wäre das ja auch ein Widerspruch zu meinen Überzeugungen, denn wenn man sich einsetzt für eine offene, bunte Gesellschaft, dann kann man ja schlecht sagen, die ist gut für Euch, aber nicht für mich."