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"Alte Menschen gelten in der Gesellschaft nichts mehr"

Wiese: Morgen ist der internationale Tag der Menschenrechte und zu den Menschenrechten gehört sicherlich auch das Recht auf ein würdiges menschliches Alter. Ob das allerdings in Deutschland gewährleistet ist, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden, jedenfalls wenn man den Angaben des Forums zur Verbesserung der Situation pflegebedürftiger Menschen in Deutschland Glauben schenkt. Dessen Gründerin Christiane Lüst begrüße ich jetzt am Telefon. Guten Morgen.

    Lüst: Guten Morgen.

    Wiese: Frau Lüst, Sie beklagen erhebliche Missstände in den Pflegeheimen, welche meinen Sie konkret, nennen Sie einige Beispiele bitte.

    Lüst: Also wir haben Zahlen zum Beispiel, das geistert immer wieder durch die Presse und durch Fachleute, dass jährlich 10.000 Menschen an den Folgen von Mangelversorgung sterben in der Bundesrepublik, dass Menschen verhungern, dass Menschen in Pflegeheimen oder Einrichtungen bis über 80 Prozent der Bewohner unterernährt sind, dass es 400.000 Freiheitsentziehungen am Tag gibt, dass 30 Prozent an offenen Wunden leiden, also an so genannten Dekubiti an Geschwüren und dadurch wahnsinnige Schmerzen ausstehen müssen. Das ist so der Iststand, der mich auch dazu gebracht hat, hier tätig zu werden.
    Wiese: Sind das gesicherte Zahlen, die Sie selbst erhoben haben oder wo kommen die her?

    Lüst: Nein, das sind Zahlen, die wir bekommen haben aus verschiedenen Berichten, zum Beispiel vom Ernährungsinstitut in Aachen, die immer wieder Erhebungen machen über die Ernährungssituation in Heimen, auch vom MDK gibt es immer wieder Zahlen, es wurde jetzt erst wieder eine Studie gemac ht, die auch offiziell ist, wo es sogar bei angemeldeten Kontrollen festgestellt worden ist, dass bei 40 Prozent der untersuchten Mängel in der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung festgestellt worden sind, bei 50 Prozent Versorgungsdefizite bei Dekubitus und so weiter. Und das sind Zahlen, die sogar bei angemeldeten Kontrollen erhoben wurden. Also wenn die Leute hinkommen, da wird ja normal kaschiert und nur die besten Seiten eines Hauses gezeigt, also die Dunkelziffer ist weit höher.

    Wiese: Aber wie kann es in einem so reichen Land wie Deutschland angehen, dass mehr als die Hälfte der rund 800.000 Pflegeheimbewohner fehl- oder unterernährt sind, dass 30 Prozent an offenen Wunden leiden, wie ist das zu erklären?

    Lüst: Das ist damit zu erklären, dass bei uns alte Menschen in der Gesellschaft nichts mehr gelten, das ist damit zu erklären, dass Grundrechte in Pflegeheimen nicht mehr einklagbar sind, dass man dort ja zu wenig Personal hat, das zu wenig ausgebildet ist, größtenteils unterbezahlt ist, dass wir eine Heimaufsicht und einen Medizinischen Dienst haben, die in der Regel angemeldet kommen und dort natürlich nicht viel vorfinden können, dass man Schäden oder Mängel in den Häusern mit zu wenig Sanktionierungsmöglichkeiten nicht beheben kann, dass Häuser nicht geschlossen werden können, wie es zum Beispiel gesetzlich vorgeschrieben ist, wenn eben Mängel bestehen, weil es zu wenig Häuser gibt und zu viele pflegebedürftige Menschen, wohin will man mit 200 Pflegebedürftigkeiten, die plötzlich auf der Straße stehen, weil das Heim zugemacht werden soll. Das ist alles nicht möglich.

    Wiese: Man hört ja auch immer wieder von menschenunwürdigen Bestrafungen in Pflegeheimen, Sie haben da vorhin schon einige Worte zu gesagt, etwa wenn ein alter Mensch sein Essen nicht essen will. Was wissen Sie darüber?

    Lüst: Es gibt eine große Gewalt, ja ein großer Prozentsatz an Gewalt in Pflegeheimen, genau, also dass die Pflegekräfte aufgrund der Überforderung, der Belastung, des Personalmangels oft eben ja, dass es eskaliert einfach auch aufgrund des Drucks von Vorgesetzten und so weiter und die stehen eben unter solchem Zeitdruck, die sind manchmal zu zweit oder zu dritt für 30, 40 Leute zuständig und wenn das dann nicht in fünf Minuten zum Beispiel eben das Essen eingegeben ist, dann ja, dann wird es halt schwierig. Und das macht sich auch auf die Bewohner dann bemerkbar beziehungsweise im Umgang mit den Bewohnern.

    Wiese: All diese Missstände, die Sie jetzt beschrieben haben, Frau Lüst, wie reagiert die Gesellschaft, wie reagiert die Politik darauf, dringen solche Fälle von Misshandlung überhaupt an die Öffentlichkeit?

    Lüst: Ja, also wir haben es momentan geschafft, dass wir jede Woche zur besten Sendezeit im Fernsehen sind, also die Gesellschaft ist informiert.

    Wiese: Das liegt vielleicht an der Weihnachtszeit, da ist so was immer ganz en vogue, aber wie ist es im Rest des Jahres?

    Lüst: Auch, also wir haben sehr gute Kontakte zur Presse und so weiter, es ist wirklich oft was drin, aber was ja auch zum Beispiel in den Zeitungen berichtet wird, es kommt keine Reaktion, es kommen fast keine Leserbriefe, keine Empörung, kein gar nichts.

    Wiese: Wie kommt das, wie ist dieses Schweigen zu erklären, Abstumpfung, Desinteresse?

    Lüst: Ich denke Tabuisierung, die Leute wollen mit dem Alter nichts zu tun haben.

    Wiese: Frau Lüst, wie werden sich denn eigentlich die geplanten Sozialreformen, Stichwort Hartz IV, auf die Pflegesituation auswirken, sind da Verschlechterungen zu befürchten, weitere Verschlechterungen?

    Lüst: Ja, auf jeden Fall. Also jetzt sollen ja diese Ein-Euro-Kräfte eingeführt werden und es ist jetzt schon absehbar und wird auch von Fachleuten bestätigt, dass damit auch probiert wird, die Fachkraftquote in den Häusern zu unterlaufen. Das heißt, man stellt halt dann statt einem Altenpfleger lieber eine Ein-Euro-Kraft ein, das ist zwar nicht gesetzlich, aber wo keine Kontrollen oder zu wenig Kontrollen, da kann man das natürlich dann auch machen, weil es nicht sanktioniert wird. Und das andere zum Beispiel Taschengeld für Bewohner wird auch um ein Drittel gekürzt, die ganzen Sozialhilfeleistungen, das führt dazu, dass die Leute die Zuzahlungen zum Arzt nicht mehr zahlen können. Die haben dann 80 Euro im Monat zur Verfügung, jetzt rechnen Sie mal, die haben Medikamente, die haben Arztbesuche, die haben auch noch einen Fahrdienst zum Arzt, der teilweise schon 40, 50 Euro kostet, wenn man nur mit dem Auto vom Pflegeheim zum Arzt fährt. Das wird darauf hinauslaufen, dass Gesundheitsleistungen für Pflegeheimbewohner eigentlich nicht mehr bezahlbar sind.

    Wiese: Und wie sieht es in den Familien aus, auch da hört man ja immer wieder, dass Pflegebedürftige, die in Familien gepflegt werden, misshandelt werden. Man hat kürzlich erst einen Film im Fernsehen darüber sehen können, einen sehr bedrückenden Film.

    Lüst: Das ist richtig, das hört man immer wieder. Wobei die Dunkelziffer in den Familien weitaus größer ist, weil man da viel weniger die Möglichkeit hat eben zu sehen, was da abläuft. Dafür gibt es aber zum Beispiel eben auch die Beschwerdestellen, in der Bundesrepublik sind es 15 Stück ungefähr, wo eben wenn irgendwie Nachbarn oder so, wenn irgendwas auffällt, wo man sich hinwenden soll und wo versucht werden soll eben da zu intervenieren, aber die Dunkelziffer ist natürlich da viel höher.

    Wiese: Ich danke Ihnen vielmals für diese Informationen, das war Christiane Lüst, sie ist Gründerin des Forums zur Verbesserung der Situation Pflegebedürftiger Menschen in Deutschland. Viel Erfolg für Ihre Arbeit und danke schön, auf Wiederhören.