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Alte und Junge unter einem Dach

Vor knapp 20 Jahren wurde in Brüssel das erste belgische Mehrgenerationenhaus gegründet. Vorteil ist die gegenseitige Solidarität nach dem Prinzip Algebra gegen Einkaufen. Inzwischen entstehen auch auf dem Land diese so genannten Känguruh-Wohnungen. Sven-Claude Bettinger berichtet.

14.02.2007
    Auf den Bänken des Quai Béco in Brüssel sitzen vereinzelt Passanten. Lastkähne ziehen den Kanal hinauf. Die Seitenstraßen sind gesäumt mit Bürgerhäusern der Jahrhundertwende. Zwei Häuser stechen heraus: Bereits seit den 80er Jahren gibt es hier Mehrgenerationenwohnungen. Das "Foyer", ein Zentrum zur Integrationsförderung, hat sie gekauft und eingerichtet. Auf die Idee ist vor knapp 20 Jahren "Foyer"-Mitarbeiterin Loredana Marchi gekommen, die Tochter italienischer Migranten:

    "In den Kulturen des Mittelmeerraums sorgen die Familien noch für ihre Senioren. In den nordeuropäischen Großstädten leben immer mehr alleinstehende Senioren. Sie möchten unbedingt in ihrem vertrauten Viertel bleiben. Oft wird ihnen jedoch gekündigt. Je älter sie werden, desto mehr sind sie auf Hilfe angewiesen. So kommen sie in entlegene Heime. Da haben wir drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen."

    Im Erdgeschoss der beiden Häuser wohnen alt eingesessene Senioren, im ersten Stock lebt eine Familie marokkanischer Herkunft. Beide Parteien zahlen dem Zentrum "Foyer" niedrige Mieten und verpflichten sich im Mietvertrag zu gegenseitiger Hilfe. Saida Bekkari, eine zierliche Frau im grauen Wollkleid und mit rosa Kopftuch, hat mit ihrer Familie zwei Frauen bis zu deren Tod versorgt:

    "Am Wichtigsten ist zunächst mal die menschliche Wärme. Mitgefühl haben, mit den alten Leuten bei einer Tasse Kaffee reden. Als sie hinfälliger wurden, habe ich eingekauft, geputzt, gewaschen und gebügelt. Umgekehrt hat eine der beiden älteren Damen mir mit meinen Zwillingen geholfen. Während ich den einen stillte, hielt sie den anderen auf dem Arm. Das sind kleine Gesten, die viel bedeuten."

    Seit ein paar Monaten lebt Ida Hendrickx im Erdgeschoß. Die 70-jährige Witwe ist fit und aktiv. Aber sie denkt auch an die Zeit, wenn sie nicht mehr so gut kann:

    "Da beruhigt mich, dass sowohl Saida als auch ihre Kinder mich immer wieder fragen, ob ich nichts nötig habe, ob sie mir nicht helfen können. Das flößt mir Vertrauen ein. Ich meinerseits schaffe es, indem ich dem jüngsten Kind, das eine flämische Schule besucht, bei den Hausaufgaben helfe. Wenn sie anklopft, bin ich für sie da."

    Ida Hendrickx lädt Saida Bekkari auch regelmäßig zu Ausflügen ein. Sie genießt das:

    "In der Vergangenheit habe ich mehr gegeben. Jetzt bekomme ich mehr. Madame Hendrickx bereichert mich. Das ist unwahrscheinlich wunderbar."

    Das Zusammenleben funktioniert so gut, weil beide Parteien sich an genaue Spielregeln halten:

    "Ich tue alles für die Seniorinnen. Aber ich respektiere auch ihre Intimsphäre, und sie müssen meine respektieren. Bei aller Nähe gibt es auch Grenzen. Dank diesem gegenseitigen Respekt funktioniert das Zusammenleben schon so lange."

    "Foyer" hat mit seinem Mehrgenerationenprojekt Pionierarbeit geleistet. Inzwischen wird das, was als Experiment begann, immer öfter nachgeahmt. Nicht nur in den Großstädten, sondern auch auf dem Land. In Opprebais, einem beschaulichen Dorf in Brabant, 40 Kilometer südöstlich von Brüssel, hat Bürgermeister Léon Walry vor sechs Jahren eine ganze Siedlung mit 22 schmucken Häusern für mehrere Generationen gebaut. Ausgangspunkt war auch hier das Bestreben, Senioren in ihrer vertrauten Umgebung zu lassen und junge Familien zu Solidarität anzuspornen. Ebenso wichtig war jedoch noch eine andere Überlegung:

    "Die Preise für Baugrundstücke und Wohnungen sind hier spektakulär gestiegen. Immer mehr gut verdienende Leute aus Brüssel, Namur, Louvain-la-Neuve und sogar aus Lüttich ziehen hier zu. Deshalb müssen wir etwas für die weniger betuchten jungen Leute tun, die hier geboren sind - und für die Senioren. Mehrgenerationenwohnen scheint die ideale Lösung zu sein."

    Zumal Laurent Belfosse, von Beruf Kraftwagenfahrer, nach sechs Jahren Erfahrung in der Siedlung lapidar feststellt, dass Alt und Jung gut zusammenleben.