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Hervé Le Tellier: „Ich verliebe mich so leicht“
Alternde Leidenschaft

Älterer Mann, junge Frau - der mit dem französischen Prix Goncourt ausgezeichnete Hervé Le Tellier variiert in seinem neuen Roman auf ungemein geistreiche Weise das Thema der vergeblichen, einseitigen Liebe.

Von Dirk Fuhrig | 20.09.2022
Hervé le Tellier: "Ich verliebe mich so leicht"
In seinem neuen Roman schreibt Hervé le Tellier über die Liebe. (Portraitfoto: Francesca Mantovani © Editions Gallimard / Buchcover: Rowohlt Verlag)
Wer sich an „Die Anomalie“ erinnert, dieses Buch über ein von den Radarschirmen verschwindendes Flugzeug, der wird nicht überrascht sein, wenn er auch in diesem Liebesroman auf Hervé Le Telliers Passion für die Fliegerei trifft:
„Eine herbstliche Kühle macht sich nach und nach in diesem Flughafen mit dem Namen des Generals und Präsidenten breit, wo niemand außer ihm ungeduldig zu sein scheint. Die Passagiere am Gate 26 fliegen nach Tel Aviv, die vom Gate 23 nach Algier, die vom Gate 22 nach Reykjavík. Das Personal der britischen Fluggesellschaft hat beschlossen, unsichtbar zu bleiben, obwohl die versprochene Abflugzeit bereits erneut weit überschritten ist.“

Ein literarisch vorbelasteter Ort

Der Wartebereich am Flughafen Charles de Gaulle in Paris wird zum Räsonier-Raum: Hier macht sich der namenlose Protagonist Gedanken über das Ziel seiner Reise, das - wie stets bei dem Referenzen-süchtigen „Oulipolisten“ Hervé Le Tellier - ein literarisch vorbelasteter Ort ist.
“Inverness stammt aus dem gälischen Ibhir Ness, für 'Mund des Ness'. Ein Monster spukt in seinem Loch, aber unser Held, der dort am nächsten Tag landen wird (Flug BA 823), begibt sich keineswegs auf die Jagd nach ihm.“
Auch nicht nach Shakespeares Macbeth, der auf Inverness Castle König Duncan ermordet. Vielmehr stellt er einer Liebschaft nach:
„Er reist ins Herz der Highlands, um eine Frau wiederzufinden, eine, wie das zuweilen in Schottland vorkommt, sehr blonde Frau, zwanzig Jahre jünger als er, womit ihr Porträt nicht einmal ansatzweise umrissen wäre.“
Dies ist der Kern dieses kompakten, ungemein konzentriert komponierten Romans: die Verzweiflung eines in die Jahre kommenden Mannes, der sich mit der Midlife Crisis herumplagt.
„Es ist nur recht und billig, am Anfang dieser Erzählung ein wenig mehr über unseren Helden zu sagen. Er wird bald fünfzig Jahre alt. Es gibt keine fünfzig Arten, fünfzig zu werden. Es gibt nur zwei: Bei der ersten redet man sich ein, noch jung zu sein; bei der zweiten beklagt man sich darüber, schon alt zu sein.“

Das Erkalten einer Leidenschaft

Die Reise nach Schottland endet - was hätte man anderes vermuten können - im Desaster. Beziehungsweise: Bereits der erste Moment des Wiedersehens mit der Angebeteten, die er in Paris kennengelernt hatte, ist eine schiere Katastrophe:
„Sie sieht ihn, es ist bewundernswert, wie gut sie ihre Freude verbirgt.“

Herrlich gemein, spöttisch und oft brutal sind die Sätze in diesem köstlichen Roman über eine spät erblühte Leidenschaft - die bei der Frau, die in einer anderen Beziehung lebt, offenbar sehr schnell wieder erkaltet ist. Die beißende, leichthändig hingetupfte Ironie wurde ebenso herrlich übersetzt von Jürgen und Romy Ritte, die alle bislang auf Deutsch erschienenen Werke Hervé Le Telliers übertragen haben.
Im Vergleich zur „Anomalie“, dem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Bestseller, in dem Le Tellier große Fragen nach Wirklichkeit und Manipulation in einer hochtechnisierten Überwachungswelt angerissen hatte, ist dieser bereits 2017 in Frankreich erschienene Text eine leichthändige spielerische Etüde, die durch ihre stilistische Brillanz mitreißt. Le Telliers Beschreibungen von Örtlichkeiten, wie hier bei der Ankunft in seiner schottischen Herberge, sind unerreicht:
„Das Etablissement ist an Scheußlichkeit nicht zu überbieten, und dieser Befund ist fast schon erfreulich, denn dort eine Liebesnacht zu verbringen, wäre gänzlich unpassend. Das Great Southern Hotel Braemore ist ein riesiger Kasten mit Dutzenden von Zimmern, kitschiger Beleuchtung, langen Fluren und höchst scheußlichen Teppichen mit Motiven aus goldenen Laubholzsprossen auf schwarzem Grund. Man würde sich nicht wundern, dort am Ende eines Korridors den blonden Zwillingsschwestern aus Shining zu begegnen, und Blut könnte in Strömen aus den Aufzugkabinen fließen.“

Literarische Referenzen

Shakespeare und Steven King/Stanley Kubrick sind nur zwei der zahllosen Anspielungen, die man als Leser lustvoll dechiffrieren kann - aber keineswegs muss. Vorangetrieben wird die Lektüre durch den flotten Rhythmus der zwölf Abschnitte, die alle mit einer bewusst altertümelnden Synopse überschrieben sind:
„Fünftes Kapitel
In dem die Spannung ihren Höhepunkt erreicht.
Wirkungslose List. Ankündigung des Desasters.“
„Ich verliebe mich so leicht“ ist mit seinen kaum 130 Seiten ein wundervolles Romänchen über das Altern des Mannes und die Vergeblichkeit der Liebe. Ein ewiges und zeitloses Sujet, hier enorm geistreich und bildungsgesättigt, unvergleichlich (selbst-)ironisch und witzig.
Hervé Le Tellier: „Ich verliebe mich so leicht“
Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
Rowohlt Verlag, Hamburg
128 Seiten, 20 Euro.