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Am Vorabend der Katastrophe

Schon 1913 braute sich zusammen, was bald darauf in Weltkriegen und Holocaust mündete. Am historischen Schauplatz des Wiener Parlaments gedenkt Marthalers "Letzte Tage - Ein Vorabend" dieses merkwürdigen Jahres – und findet viel vom Gestern im Heute und Morgen.

Von Sven Ricklefs | 18.05.2013
    Es ist, als käme diese Musik aus dem Jenseits oder als traue sie sich nicht herein, sie weht von weit her und es dauert lange, bis dann doch jemand plötzlich am Klavier sitzt, oben auf dem Balkon und damit im historischen Sitzungssaal des österreichischen Parlaments mit seiner riesigen Glaskuppel, den Neptunhaften Karyatiden im überhaupt imposanten gleichsam griechisch-römisch daherkommenden Gebäude. Später gibt es mit der "Wiener Gruppe" ein kleines Orchester, das die Stücke spielen wird dieser durch die Nationalsozialisten verfemten, verfolgten und ermordeten europäischen Komponisten, denen Christoph Marthaler diesen Abend gewidmet hat.

    Mit seinem Projekt "Letzte Tage – Ein Vorabend" hat Marthaler einen historisch-politischen Ort für die Wiener Festwochen okkupiert und füllt ihn zum einen mit der Erinnerung an diese vergessenen Komponisten wie Erwin Schulhoff, Pavel Haas, oder Viktor Ullmann. Erinnert an sie, leistet Trauerarbeit indem er ihre Musik spielen lässt, zum anderen setzt Marthaler ihre Musik wie eine aus der Vergangenheit heraufscheinende Utopie gegen das, was er hier noch aufzufahren hat.

    "Ja, in Wien gibt es doch Juden wie Sand am Meer, wohin man geht, nichts als Juden, geht man ins Theater, nichts als Juden …"

    Noch immer ist ein kleines Stück des Wiener Rings nach diesem Mann benannt, der hier in der Gestalt von Josef Ostendorf spricht: Dr.-Karl Lueger, dieser ausgewiesene Antisemit, der Wiener Bürgermeister war von 1897 bis 1910. Doch "Letzte Tage. Ein Vorabend" ist nur kurz ein Blick zurück in die Geschichte, greift doch da ein anderer zwischen den sonst fast leeren Stuhlreihen des Parlaments weit in die Zukunft vor und adressiert am 200. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager seine Rede an den Kaiser von Habsburg-Europa. Ob man so einen Gedenktag nicht eigentlich abschaffen müsse, ist seine Frage, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Antisemitismus doch nun zum Weltkulturerbe erklärt sei. Zwischen diese beiden zeitlichen Pole hat Christoph Marthaler aktuelle Reden von europäischen Politikern wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán montiert, die zeigen, wie weit nationalistisches, antisemitisches und antidemokratisches Gedankengut schon wieder gedrungen ist, und wie monströs es klingt, wenn man es ganz sanft präsentiert:

    "Wir hoffen nicht, dass wir anstelle der Demokratie ein neues politisches System einführen müssen, aber neue wirtschaftliche Verhältnisse, ein neues Denken brauchen wir schon. Wir sind Demokraten, wir brauchen keine Opposition."

    Während das Publikum auf der Regierungsbank Platz genommen hat, irrt Marthalers 12-köpfiges Ensemble durch die Stuhlreihen der Parlamentarier, stürzt herein und heraus, sitzt manchmal nur verteilt und verloren im Raum, wenn Musik erklingt, ergreift dann wieder das Wort, mal als Politiker mal als sogenannte Stimme des Volkes. Da schwadroniert eine ganz über das viele verschwendete Geld für die Toten und für noch ein Holocaustmahnmal, da singen alle gemeinsam "Flamme empor", da wimmelt es von Vokabeln wie "Volkscharakter" oder "bluthaft unterschiedene Europäer". Die letzte halbe Stunde dann schenkt Christoph Marthaler nur der Musik, so als könne sie etwas ausrichten gegen all das. Doch wenn sich das Ensemble mit Mendelssohn-Bartholdys Chor "Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig" oben in lange Reihe gebeugt und wie gedrängt aus dem Bild stiehlt, wenn ihr Chor dann wieder lange von draußen nachhallt, dann weiß man nicht genau, ob er wirklich Hoffnung geben kann und will, dieser ebenso erschreckende wie großartige Abend von Christoph Marthaler.