Als am Abend des 8. November sein Sieg bei den Präsidentschaftswahlen feststand, wusste Donald Trump, bei wem er sich nicht zuletzt zu bedanken hatte. Es waren die Wähler aus der weißen Arbeiterschaft, die ihm in Industriestaaten des Nordostens wie Ohio, Michigan oder Pennsylvania die entscheidenden Stimmen gegeben hatten. Traditionell tendiert diese Wählerschicht zu den Demokraten, diesmal wechselten viele zu den Republikanern. Der Niedergang der Kohlegruben in den Appalachen, der Stahlindustrie im Mittleren Westen und der Autofabriken entlang der Großen Seen hat das Lebensgefühl in den Arbeiterstädten dermaßen erschüttert, dass alte Wählerbindungen nicht mehr viel zählen, berichtet der Politologe Francis Fukuyama von der Stanford University.
"Das Schicksal der weißen Arbeiterklasse in Amerika ist lange ignoriert worden, von der Politik, der Gesellschaft, aber auch der Wissenschaft. In den vergangenen zwei, drei Jahren sind jedoch eine Reihe Studien erschienen, die ihren Niedergang beschreiben, der wirklich beispiellos ist in der amerikanischen Geschichte.
Der amerikanische Traum handelt ja immer vom Aufstieg, davon dass es den Kindern besser geht als den Eltern, aber weiße Arbeiter erleben heute, dass ihre Reallöhne geringer ausfallen als in den 70er-Jahren, als ihre Väter in der Industrie beschäftigt waren."
Deutliche Lohnsteigerungenin in Zeiten der Vollbeschäftigung
Die Väter und Großväter der heutigen Arbeiter waren meist in den 40er-Jahren aus ländlichen Regionen in den Nordosten der USA gekommen. Dort zog die Industrieproduktion damals kräftig an, als der Staat seine Armee für den Zweiten Weltkrieg ausrüstete. Weil der demokratische Präsident Roosevelt in den Jahren zuvor mit seinen Reformen im Rahmen des New Deal den Einfluss der Gewerkschaften gestärkt hatte, konnten die jetzt in Zeiten der Vollbeschäftigung deutliche Lohnsteigerungen durchsetzen.
Als nach Kriegsende die Produktion wieder auf zivile Güter umgestellt wurde, konnten sich plötzlich auch Arbeiter ein Haus und ein Auto leisten. Dieser Anstieg des privaten Konsums kurbelte die Wirtschaft weiter an. Die Gewerkschaften und Sozialpolitiker der Demokratischen Partei sorgten dafür, dass die Arbeiter ihren Anteil am Aufschwung bekamen.
"The great compression" nennen Sozialwissenschaftler heute die 50er-und 60er-Jahre, weil in dieser Epoche die Unterschiede zwischen Arm und Reich deutlich schrumpften.
"Wenn Donald Trump sagt 'Make America great again', dann erinnern sich viele daran, wie es ihren Eltern und Großeltern ging, die einen vernünftig bezahlten Job im verarbeitenden Gewerbe gefunden hatten, die sozial abgesichert waren, von einer Gewerkschaft geschützt, und die in funktionierenden Nachbarschaften lebten. Das alles gibt es für viele Arbeiter heute nicht mehr."
Denn in den 70er-Jahren begann die Krise dieses Sozialmodells, das auf hohe Einkommen, Massenkonsum und umfangreiche Staatsausgaben aufgebaut war. Nach dem Ölpreis-Schock von 1973 brachen die Unternehmens-Gewinne ein und Ende der 70er-Jahre begann eine erste Pleitewelle, die Hunderttausende Arbeitsplätze kostete.
Die Gewerkschaften reagierten mit wütenden Streiks, aber Arbeitgeber, die ohnehin Werke schließen wollten, beeindruckten sie damit nicht. Und der demokratische Präsident Jimmy Carter verweigerte angesichts leerer Kassen staatliche Hilfsprogramme. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wandte sich ein nennenswerter Teil der weißen Arbeiterschaft den Republikanern zu und stimmte 1980 für Ronald Reagan. Der weitete die Staatsausgaben kräftig aus, vor allem für Militärausgaben. Gleichzeitig senkte Reagan massiv die Steuern. Das erhöhte die Staatsschulden, stabilisierte aber Teile der alten Industrien. Und so konnte Reagan, als er sich 1984 zur Wiederwahl stellte, auf durchaus passable Arbeitsmarktzahlen verweisen.
Wahl-Werbespot "Reagan-Bush 84": "It's morning again in America. Today more men and women will go to work than ever before in our country's history.”
Weil Reagan aber gleichzeitig die Rechte der Gewerkschaften gezielt einschränkte, stiegen die Löhne kaum noch. Im Gegenteil: Reagan förderte den Dienstleistungssektor, dessen Unternehmen deutlich weniger zahlten als die Industrie. Im Dienstleistungsbereich entstanden die meisten neuen Arbeitsplätze. Diese Politik, die von seinem Nachfolger Bush Senior fortgesetzt wurde, leitete für viele Familien einen langsamen, aber stetigen Abwärtstrend ein.
"Viele Beschäftigte sind nur in Teilzeit angestellt in Dienstleistungsbetrieben, ihre Arbeitszeiten variieren sehr stark, je nach der aktuelle Auftragslage des Unternehmens, und entsprechend variieren auch ihre Löhne ständig. Ihre Arbeitgeber bieten wenig soziale Absicherung und kaum Krankenversicherungsschutz, oft nicht mal für die wenigen Vollzeitkräfte."
In den 80er-Jahren, erzählt der Soziologe Ryan Finnigan von der University of California, konnten viele Arbeiterfamilien ihren Lebensstandard noch halten, weil sich anders als früher auch Frauen einen Job suchten und ihn im expandierenden Dienstleistungssektor auch fanden. Gut bezahlte Industriejobs wurden dagegen zunehmend rar.
"Die amerikanischen Industrieunternehmen machen heutzutage 50 Prozent ihrer Profite mit Finanzgeschäften. Das ist ein Trend, der in den 80er-Jahren einsetzte und sich laufend verstärkt hat. Unternehmen aus der Realwirtschaft investieren ihr Geld nicht in neue Produktionsanlagen, sondern lieber an den Finanzmärkten in Spekulationsgeschäfte."
Sterben vieler Traditionsunternehmen
Wegen fehlender Investitionen waren viele Industrieanlagen bald hoffnungslos veraltet und verschlissen. Noch mehr Betriebe wurden geschlossen, weil sie nicht mehr rentabel waren. Traditionsunternehmen wie US Steel, Bethlehem Steel oder später Kodak verschwanden von der Landkarte. Auch die großen Autokonzerne gerieten in Bedrängnis. Ihre traditionellen Straßenkreuzer verkauften sich wegen der gestiegenen Spritpreise nur noch schleppend. Immer mehr Verbraucher entschieden sich für Mittelklasse- und Kleinwagen der japanischen Konkurrenz.
"Die US-Firmen, General Motors, Ford und Chrysler, die alten Firmen, die etabliert waren, haben nicht investiert, haben nicht modernisiert und in den 80er- und 90er-Jahren haben sie dann Verluste erzielt. Sie haben es nicht mehr geschafft, konkurrenzfähig zu bleiben."
Stattdessen, erinnert sich der Wirtschaftshistoriker Marc Levinson, riefen Vorstände und Betriebsräte gemeinsam nach Protektionismus. Präsident Reagan drängte daraufhin die Regierung in Tokio zu einem Abkommen über freiwillige Ausfuhrbeschränkungen.
"Man dachte in der Auto-Industrie, sie hätten die japanische Konkurrenz gestoppt, sie konnten nicht viel importieren, einführen. Sie hatten nicht erwartet, dass die Japaner Fabriken in den USA bauen würden. Und dann kamen die Japaner in der Mitte der 80er-Jahre."
Die Gefahr nicht richtig erkannt
Doch sie kamen nicht an den Autostandort Detroit, sondern gingen in die Südstaaten, wo die Grundstücke billig, die Löhne niedrig und die Steuerquote gering waren.
"Die Fabriken der etablierten Produzenten waren alle gewerkschaftlich organisiert. Die Japaner sind gekommen, sie haben sich gegen die Gewerkschaften gewehrt. Bis heute haben diese Werke meistens keine gewerkschaftliche Vertretung."
"In den USA sind die Gewerkschaften sehr betriebsorientiert und auch so strukturiert. Wenn ein Betrieb schließt und ganz woanders hingeht, muss die Gewerkschaft am neuen Ort völlig neu aufgebaut werden. In dieser Zeit haben viele Gewerkschafter die Gefahr nicht richtig erkannt, dass sie zu eng an einzelnen Betrieb gebunden waren und keine strategische Vorstellung hatten, wie sie über den Betrieb hinaus kommen könnten und eine Gesamtstrategie für die Industrie zu entwickeln."
Die aber, sagt der Berliner Politologe Michael Fichter, hätten sie dringend gebraucht, denn: Den japanischen Firmen folgten europäische Konzerne, die ebenfalls in den Südstaaten und bald auch in Mexiko neue Fabriken errichteten. Auch die US-Autoproduzenten kopierten bald diese Strategie. Wenn sie die Beschäftigten dort vertreten wollte, musste die Automobilarbeitergewerkschaft gemäß US-Gesetzen in jedem einzelnen neuen Werk versuchen, einen Betriebsrat wählen zu lassen. Sie scheiterte fast überall an konservativen Lokalpolitikern, die Gewerkschaften als Störfaktoren in einer freien Marktwirtschaft betrachten.
"Das ist deren Argumentation, dass die Gewerkschaften die Wirtschaft kaputt machen. Die haben die Arbeitsplätze zu teuer gemacht im Norden und deswegen sind die Unternehmen in den Süden gegangen und wenn im Süden die Gewerkschaft da wäre, dann würde das Unternehmen wahrscheinlich weiter gehen nach Mexiko."
Einst hatten die drei großen US-Auto-Produzenten fast den gesamten Heimatmarkt aus dem Großraum Detroit beliefert. Heute kommt nur noch etwa die Hälfte aller verkauften Wagen von dort. Doch wo weniger Autos produziert werden, wird weniger Stahl geordert. Und weniger Stahlproduktion bedeutet weniger Nachfrage nach Kohle.
Durch Billigkonkurrenten unter Druck
Eine Abwärtsspirale geriet in Gang, die auch nicht gestoppt wurde, als sich die Arbeiter-Wähler enttäuscht wieder von den Republikanern abwandten und Bill Clinton zur Präsidentschaft verhalfen. Auch Clinton setze auf liberalisierte Märkte und Freihandel, vor allem mit Asien. Das ermöglichte den aufstrebenden IT-Unternehmen im Westen der USA ein rasantes Wachstum und ließ in diesem Sektor Millionen neuer Jobs entstehen. Doch die alten Industrien gerieten durch Billigkonkurrenten, vor allem aus China, noch weiter unter Druck. Was einst eine prosperierende Industrielandschaft war, heißt im amerikanischen Volksmund heute "Rust Belt", auf Deutsch etwa "Rost-Gürtel". Die soziale Realität dort nennt Francis Fukuyama trostlos.
"In gewisser Weise sind die gesellschaftlichen Folgen des Niedergangs noch schlimmer als die wirtschaftlichen. Drogensucht ist heute eine regelrechte Epidemie in den Vierteln der weißen Arbeiter. Heroinsucht wurde in vielen Umfragen dort als das größte Problem in den Gemeinden genannt. Das Zweite ist die Zerrüttung der Familien. 70 Prozent der weißen Arbeiterkinder wachsen heute in Single-Haushalten auf. In den 80er-Jahren galten solche Zustände als Probleme der schwarzen Gettos. Heute erlebt die weiße Arbeiterschaft genau das Gleiche."
Wachsender Drogenkonsum
Die Ökonomen Justin Pierce und Peter Schott kommen in einer Studie der Yale School of Management sogar zu dem Schluss, dass die Krise die Sterblichkeitsrate in den alten Industrieregionen deutlich erhöht habe. In jenen Landstrichen, wo nach dem Jahr 2000 besonders viele Jobs abgebaut wurden, stiegen sowohl die Selbstmordrate als auch die Zahlen der Drogen- und Alkoholtoten. Betroffen waren vor allem weiße Männer.
"Osama bin Laden is dead and General Motors is alive.”
So hat der scheidende Vizepräsident Joe Biden einmal die Bilanz der Präsidentschaft seines Chefs Barack Obama zusammengefasst. Biden, der selbst aus dem "Rust-Belt" stammt und dort sehr beliebt ist, erweckte damit den Eindruck, als seien die Demokraten zu ihrem alten Modell des starken und sozialen Staates zurückgekehrt.
Tatsächlich hat Obama die Arbeitslosenquote von zehn auf fünf Prozent halbiert. Und er hat den insolventen Autobauer General Motors gerettet und damit die größte Industriepleite in der Geschichte der USA abgewendet. Doch auch während seiner Regierungszeit hat sich die Schere zwischen arm und reich immer weiter geöffnet.
"Nach allen Daten, die ich ausgewertet habe, vergrößern sich die Unterschiede zwischen den Einkommen der weißen Arbeiterhaushalte und denen der ethnischen Minderheiten immer noch. Der Lebensstandard der traditionellen Arbeiter ist den letzten Jahrzehnten gesunken, aber sie sind keineswegs die größten Verlierer der ökonomischen Umwälzungen."
Sie fühlen sich aber so. Darin sind sich Ryan Finnigan und Francis Fukuyama einig. Denn während die Afroamerikaner eine Bürgerrechtsbewegung aufgebaut haben, die ihnen trotz vieler Rückschläge politisches Selbstvertrauen gibt, haben die weißen Arbeiter den Schutz ihrer Gewerkschaften und der Demokratischen Partei verloren.
"Keine der beiden großen Parteien hat ihnen geholfen. Die Republikaner waren immer wirtschaftsfreundlich und die Demokraten haben sich in den letzten Jahren für die Homo-Ehe eingesetzt, für Umweltschutz und für alle möglichen ethnischen Minderheiten.
Die einzige ethnische Gruppe, der sie nichts zu bieten hatten, war die weiße Arbeiterklasse, die immer mehr zur weißen Unterklasse wurde. Und so konnte eben ein Anti-Establishment-Politiker die Wahlen gewinnen, in dem er von der Wut dieser Leute profitierte."
Große Versprechen an die Arbeiterschaft
Donald Trump hat den weißen Arbeitern eine Politik versprochen, die an die Ronald Reagans erinnert. Er will Milliarden ausgeben für Infrastrukturprojekte und gleichzeitig die Steuern drastisch senken. Das bedeutet mehr Staatsschulden und in der Folge steigende Zinsen. Die Zinsen aber werden den Kurs des Dollars nach oben treiben. Amerikanische Waren werden auf dem Weltmarkt teurer, Importe in die USA günstiger. Dagegen will Trump hohe Zollschranken errichten. Doch wenn Handelspartner wie China oder Mexiko darauf ihrerseits mit protektionistischen Maßnahmen reagierten, dürften nicht viele neue, gut bezahlte Industriearbeitsplätze entstehen. Da ist sich Francis Fukuyama sicher.
"Ich glaube, man muss kein Hellseher sein, um festzustellen, dass Donald Trumps Vorschläge die Probleme der weißen Arbeiterschaft nicht lösen werden. Das ist eine Erfahrung, die diese Wählergruppe schon mehrfach machen musste. Jedes Mal, wenn sie den großen Ankündigungen der Republikaner gefolgt sind, hat sich ihre ökonomische Situation am Ende noch mehr verschlechtert."