Samstag, 27. April 2024

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Amoklauf in Erfurt: Was steckt dahinter?

Jürgen Zurheide: Wir wollen reden über das, was gestern passiert ist, was uns einigermaßen sprachlos macht. Wir wollen versuchen, die Sprache wiederzufinden, und wir wollen vor allen Dingen fragen: Wie kann denn so etwas eigentlich passieren? Ich begrüße ganz herzlich am Telefon Professor Christian Pfeiffer, den niedersächsischen Justizminister. Schönen guten Morgen Herr Pfeiffer!

27.04.2002
    Christian Pfeiffer: Guten Morgen Herr Zurheide!

    Zurheide: Beginnen wir vielleicht gleich mal mit der schwierigen Frage, ohne jetzt natürlich auf diesen Einzelfall eingehen zu können: Was treibt denn eigentlich Menschen in so ausweglose Situationen, wo sie mit einer solchen Eruption von Gewalt andere Menschen mitnehmen in den Tod? Was passiert da?

    Pfeiffer: Das, was fast alle verbindet, wenn man so eine Psychologie des Tötens versucht herzustellen, ist ein Gefühl von Ohnmacht, grenzenloser Ohnmacht vor der Tat. Und das kulminiert dann in das Gegenteil, dass man Herr über Leben und Tod sein will, wenigstens für einen kurzen Augenblick. Aus der Ohnmacht erwächst dieser Wunsch, das gewaltig zu kompensieren; und dann kommt hier im konkreten Fall hinzu: Der Wunsch sich zu rächen. Menschen, die ohnmächtig sind, die wenig Selbstwertgefühl haben, haben keine große Frustrationstoleranz; und eine Zurückweisung durch eine Frau, die Kündigung durch einen Arbeitgeber, das Rausgeworfenwerden aus einer Schule kann plötzlich eine Sturm von Hass auslösen: An denen räche ich mich, die bringe ich um, den zeige ich es, einmal bin ich mächtig. Und dann entschließt man sich zu einer solchen Tat. In Amerika gibt es ja deutlich mehr davon, und da ist die typischen Vorgeschichten eben was ich gerade sagte: Die Kündigung. Und dann wird der ganze Vorstand einer Firma hingerichtet oder ähnliches.

    Zurheide: Kann man so etwas vorher erkennen? Gibt es Symptome, gibt es Signale? Ich habe irgendwo in den Unterlagen gelesen, dass viele doch solche Bemerkungen machen: Ja, dann machen ich so etwas.

    Pfeiffer: Ja, großsprecherisch sich aufspielen als Supermacho, der so etwas dann machen wird, das hat es gegeben, sogar mit verbalen Ankündigungen, die dann keiner richtig ernst genommen hat. "Den bring ich um", das sagt aus Wut manch einer und das ist natürlich klar, dass er es nicht so meint. Das hat es gegeben. Noch ein Merkmal, das nicht selten anzutreffen ist, ist, dass die Leute Waffennarren sind, weil Waffen ja das Gegenteil von Ohnmacht bedeuten. Sie bedeuten Power, sie bedeuten Angst bei dem Gegenüber, auf den man sie richtet. Die Panik in den Augen derer, die man dann vernichten wird, ist die Entschädigung für all die Demütigung, die man vorher nicht anders verarbeiten konnte. Also das war sehr, sehr oft - gerade auch in den USA, die die meisten Amokläufer haben - eine Vorgeschichte; und manchmal sogar, dass die ganze Familie gebannt war von diesem Waffenfetischismus und sich zu Hause ganze Waffenlager fanden.

    Zurheide: Über die Waffen werden wir gleich auch noch reden. Lassen Sie uns vielleicht mal auf die Frage kommen: Was passiert eigentlich bei jungen Menschen? Was passiert an unseren Schulen? Wir diskutieren wieder über ein mögliches Klima der Gewalt an Schulen. Haben wir ein Klima der Gewalt an Schulen bei jungen Menschen?

    Pfeiffer: Das Gegenteil ist richtig. Natürlich gibt es bei uns Gewalt an Schulen, aber sie ist nicht schlimmer als anderswo. Zweitens: Ich hatte im Auftrag vieler Städte und Länder aus dem Institut, das ich früher geleitet habe, Untersuchungen durchführen können zu dem Thema Gewalt an Schulen. Das Vergleichen vom Norden zum Süden und auch im Längsschnitt - da zeigt sich kein Hinweis darauf, dass es schlimmer geworden wäre - im Gegenteil: Die Kultur des Hinschauens hat an den Schulen zugenommen. Immer mehr Lehrer sind ausgebildet zu Konfliktlotsen und vor allem auch Schüler. Die Ächtung vor Gewalt unter Gleichaltrigen ist gewachsen und die innerfamiliäre Gewalt, die ein starker Faktor bei der Entstehung von Jugendgewalt ist, nimmt leicht ab. Wir sind an sich auf einem Kurs, der gar nicht mal negativ ist - im Gegenteil: Wir haben uns richtig gefreut. Wir waren überrascht über diesen Hoffnungsschimmer, der sich da abzeichnete für den Vergleich der Jahre 1998 bis 2000. Das wird man überprüfen müssen, ob das bleibt, und ob das stabil wird. Aber es war keine dramatische Situation. Das ist Gott sei Dank ein Einzelfall, der nicht skizziert wie es bei uns zugeht und in welche Zukunft wir hineinmarschieren.

    Zurheide: Das beantwortet fast die nächste Frage, die natürlich auch immer in diesem Zusammenhang angesprochen wird: Welche Interaktion gibt es zwischen der Gewalt in Medien und der realen Gewalt? Gibt es das überhaupt oder ist das eine spielerische Kompensation, in Medien bestimmte Dinge zu sehen, die wir da leider sehen, oder in Computerspielen Dinge zu sehen, die wir auch leider sehen?

    Pfeiffer: Nehmen wir die Täter von Littleton oder den aus Reichenhall. Da wissen wir, bei dem von gestern wissen wir es nicht: Die haben sich vor ihren Taten regelrecht berauscht an Gewaltbildern, indem sie Computerspiele gespielt haben, sehr realistisch gemacht Computerspiele, die für Jugendliche verboten sind, man fragt sich überhaupt: Warum wird so was hergestellt? Und das waren solche Spiele, wo man mit 1000 Punkten dann belohnt wird, wenn man den Gegner so getroffen hat, dass die Gedärme aus dem Körper fließen, das konnte man dann richtig sehen auf den Computerbildschirmen. Und es kommt eine Glocke, die einen dann noch zusätzlich stimuliert: Jetzt bist du ganz toll gewesen. Und das haben sie systematisch und immer wieder betrieben, beide sogar dasselbe Computerspiel. Der aus Reichenhall hatte davon erfahren, dass die Schüler in Littleton dieses Spiel verwendet hatten. Und auch Videofilme können so etwas auslösen, aber ich schränke jetzt ein: Nur bei solchen, den wenigen Jugendlichen, die ohnehin gefährdet sind, die ein schwaches Selbstbewusstsein haben, die auf der Suche sind nach Orientierung oder nach Gewaltphantasien, die sie gerne übernehmen möchten. Also das ist nicht der normale Jugendliche von nebenan, dem kann das alles nichts anhaben, der interessiert sich dafür auch gar nicht, sondern solche, die durch oft familiäre Rahmenbedingungen oder sonstige ergänzende schlimme Rahmenbedingungen in eine psychische Krise geraten sind, und dann natürlich durch so etwas beeinflusst werden können.

    Zurheide: Herr Pfeiffer, jetzt haben Sie gerade die familiären Zusammenhänge angesprochen. Wo könnte so etwas denn auffallen? In der Familie, aber wenn die nicht intakt ist, ist das schwierig. Kann und muss die Schule dann etwas merken?

    Pfeiffer: Also zuerst einmal ein Wort zur Familie. Unendlich leid tun mir die Eltern, denn natürlich zeigt jetzt jeder mit Fingern auf sie. Und wir können gar nicht vermeiden, dass wir das tun, weil es ein Faktor ist, der sich immer wieder bestätigt hat. Aber natürlich: Aus dem, was Eltern falsch machen, erwächst nicht notwendigerweise so ein Wahnsinn wie gestern. Da kommen andere Faktoren hinzu. Sie sind garantiert nicht die allein Verantwortlichen, aber ein ganz normal glücklich aufwachsendes Kind mit liebevollen Eltern, die es gewaltfrei erziehen, hat ein so starkes Selbstwertgefühl, so viel Selbstbewusstsein, dass es mit Krisen klar kommt, dass es mit Zurückweisungen klar kommt, auch mal eine Niederlage gut verkraften kann. Also da ist schon nach einem begleitenden Entstehungsfaktor zu suchen und man wird auch mit den Eltern nicht nur fragend, sondern auch stützend reden müssen, wenn sie überhaupt irgendetwas jetzt an sich heranlassen können. Aber da liegt ohne Zweifel ein zentraler Verunsicherungsfaktor, der eine Ausgangsbedingung ist für so ein Geschehen.

    Zurheide: Jetzt haben wir vorhin über Waffen schon einmal gesprochen. Ich will das auch noch mal hier tun. Es gibt Meldungen - ich weiß nicht, ob das überhaupt so sein kann - dass der junge Mann als Sportschütze für beide Waffen sogar eine Waffenbesitzkarte hatte. Halten Sie so etwas überhaupt für denkbar?

    Pfeiffer: Für eine Handfeuerwaffe ist das höchst selten. Natürlich gibt es Sportschützen, aber dann sind das Sportwaffen, und ich weiß nicht, ob er eine solche verwendet hat. Bei einer Pump Gun halte ich es geradezu für ausgeschlossen, wäre sehr überrascht und würde dann kritisch nachfragen, ob hier die Behörden, die die Genehmigung erteil haben, richtig gehandelt haben, denn schon bisher waren die Voraussetzungen eng, unter denen man an Waffen in Deutschland heran kommen konnte. Da musste man schon bestimmte Voraussetzungen erfüllen, Bedrohungen nachweisen und so weiter. Und sie sind zum Glück gestern noch ein weiteres Mal verschärft worden. Ich hätte bisher eher vermutet, die Wartezeit zwischen der Demütigung, dass er von der Schule verwiesen wurde und dem Ereignis von gestern sei erklärbar darüber, dass er sich auf illegalem Wege die Pump Gun beschafft hat. Wenn das anderes wäre, dann wirft das sehr, sehr kritische Fragen auf, was da gelaufen ist.

    Zurheide: Müssen wir vielleicht auch das, was gestern beschlossen wurde, noch einmal überdenken? Vielleicht gehen wir immer noch zu lax mit Waffen um, oder die andere Frage ist wahrscheinlich: Wie kommen wir an die vielen illegalen Waffen, die im Lande sind?

    Pfeiffer: Die illegalen Waffen sind in sehr, sehr hohem Maße gekommen nach der Öffnung der Grenzen nach Osten, nach der Wiedervereinigung als die russischen Soldaten noch ein Jahr bei uns stationiert waren und alle versucht haben ein bisschen Kohle zu machen über das illegale Verkaufen. Der Bürgerkrieg von Jugoslawien und die vielen Menschen, die als Flüchtlinge gekommen sind, die zur Selbstverteidigung Waffen hatten und die dann auch nicht gleich weglegen wollten. Das war ein weiterer Faktor. Die jetzt nach wie vor offenen Grenzen, also keine Illusionen: Illegale Waffen wird es bei uns weiterhin geben, aber ich bin schon sehr, sehr dankbar, dass der Gesetzgeber gestern einen weiteren Schritt getan hat zur Einschränkung der Verfügbarkeit von legalen Waffen. Das begrenzt dann Gott sei Dank auch den Markt für illegale, und ich muss unsere Polizei loben: Sie hat wirklich sehr, sehr viel Gewicht darauf gelegt, dass das illegale Besitzen von Waffen bei uns konsequent verfolgt wird, die ganze Strafverfolgung tut das. Wir sind eigentlich in Deutschland in dieser Hinsicht wesentlich besser dran als die meisten und trotzdem keine Illusionen: Es wird bei uns immer wieder die Möglichkeit geben mit viel Geld und Kontakten, sich illegal schlimme Waffen zu besorgen, weil wir kein abgeschottetes Land sind.

    Zurheide: Herzlichen Dank. Das war Christian Pfeiffer, der niedersächsische Justizminister.