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André Mumot: "Geisternächte"
Gespenster der Gegenwart

Der Berliner Autor André Mumot lässt in seinem neuen Thriller nicht nur die Untoten anrufen. Ein rechtkonservativer Autor, ein lutherischer Kirchenmann, zwei Elstern und ein kleines Mädchen fördern auch allerlei Unheimliches über unsere Gegenwart zu Tage.

Von Heidemarie Schumacher | 18.01.2019
    Der Schriftsteller Andre Mumot und sein Roman "Geisternächte"
    Der Schriftsteller Andre Mumot und sein Roman "Geisternächte" (Buchcover Eichborn Verlag / Autorenportrait (c) Nina Altmann)
    In "Geisternächte" von André Mumot ist Vieles nicht so, wie es aussieht. In einer herumflatternden Elster mutmaßt die kleine Sophie Kramer die Inkarnation ihres ermordeten Bruders Finn. Hochgeschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft, ein Mann der Kirche und ein Historiker, entpuppen sich als gewaltbereite Verteidiger ihrer Idiosynkrasien und ihres Fanatismus.
    Um nicht zu viel von der Handlung preiszugeben, sollen hier nur das Personal und das Eröffnungsszenario umrissen werden: Jakob Bechstein und sein Freund, der Student Kenan Akyüz sind ein Paar, aber Jakob hat an einem Sommerabend noch etwas vor, lässt den enttäuschten Kenan zurück und wird von Unbekannten überfallen und halb tot geprügelt. Jakobs Schwester, die arbeitslose Schauspielerin Kathi, verdient sich ein Zubrot mit dem Inszenieren spiritistischer Sitzungen, an die sie selbst nicht glaubt, die ihren Klienten jedoch offenbar helfen. Die kleine Sophie, deren Bruder Finn ermordet wurde, hofft auf Hilfe durch Frau Juniper, Kathis Künstlername, die ihr den toten Bruder zurückholen soll, damit sie ihn noch etwas fragen kann. Kathi lässt sich aus Geldnot darauf ein. Die Sitzung bekommt wider Erwarten den Anstrich von Authentizität, weil Kathi dabei ihren eigenen Bruder Jakob imaginiert, der als Folge des Überfalls im Koma in der Charité liegt. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, als Kathi, Kenan und Sophie sich auf Spurensuche nach den Tätern begeben. Weitere Handlungsträger in diesem Roman sind ein Bestsellerautor und ein lutherischer Kirchenmann, zwei Elstern und das Berliner Wetter, das viele Szenen orchestriert.
    Krimi in der Tradition der Romantik
    Der Roman stellt sich bewusst in die Tradition der Romantik: Er zitiert die unheimlichen Verse aus dem Märchen "Von dem Machandelbaum" der Brüder Grimm oder greift auf Andersens "Schneekönigin" zurück, in dem sich ebenfalls ein Mädchen aufmacht, seinen verschwundenen Bruder zu suchen. Märchen sind auch der Gegenstand des Bestsellers des rechtskonservativen Historikers Arvid Schönfeld, der an den Brüdern Grimm hervorhebt, das "wahrhaft Deutsche" gesucht zu haben, und Mumot selbst webt romantische Motive wie den Doppelgänger oder die Teufelsphantasien in das Geschehen.
    Sprachlich ist der Roman sehr genau gearbeitet, die Bilder sind treffend und nur an wenigen Stellen kippt der Text ins Triviale, so z.B., wenn sich Kathi aus dem Versteck befreit, in das man sie verschleppt hat. Hier wäre weniger mehr gewesen. Mumot ist jedoch in der Lage, eine enorme Spannung aufzubauen, einmal durch das Stilmittel des Perspektivwechsels zwischen den Protagonisten, zum anderen durch die Erzählhaltung, indem er einmal personal erzählt, dann aber auch von oben auf das Geschehen blickt und in der auktorialen Haltung Dinge vorwegnimmt und dem Leser einen Vorsprung vor den Protagonisten verschafft. Das eigentlich Interessante am Roman ist jedoch sein Subtext: In einem Interview zu seinem Erstling, dem Thriller "Muttertag", sagte Mumot, dass "Menschen immer gleich in ihrer Angst und ihrem Unbehagen, das alles Fremde in ihnen auslöst, reagieren."
    Die Angst vor dem Unheimlichen
    Nach Freud beruht das Unheimliche auf einer bestimmten Form von Angst, die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten. Auf den Roman bezogen hieße das: Der Homophobe wird durch den schwulen Mann an seine eigenen verdrängten Triebregungen erinnert, was Angst und Aggression auslöst, der religiöse Fanatiker muss den Teufel austreiben, weil der Andere den eigenen inneren Dämon weckt. Er habe sich, so Mumot, in "Muttertag" bemüht, in den Konflikten Stimmungen einzufangen, die unter der Oberfläche unserer Wirklichkeit spürbar sind. Dies trifft auch auf "Geisternächte" zu. Tote werden nicht nur in Kathis spiritistischen Sitzungen beschworen. Es geht im Roman auch um die Geister einer unheilvollen Vergangenheit, darum, dass – in Abwandlung eines Brecht-Zitats – der Schoss aus dem das kroch, wieder fruchtbar ist.
    Der angesehene Autor Arvid Schönfeld, der die Angst gegen Überfremdung schürt, ist ohne die homophob-rassistischen Schläger nicht zu denken. Dieses Nebeneinander von bürgerlicher Normalität und brutaler Gewalt, um das es im Roman geht, zeichnet sich schon im ersten Satz ab: "Der Abend, an dem Jakob Bechstein ins Koma geprügelt wird, ist einer der schönsten des Sommers." In diesem Sinne ist dem Autor nicht nur ein hochspannender Roman sondern auch eine Seismographie gefährlicher Gegenwartstendenzen gelungen.
    André Mumot: "Geisternächte"
    Eichborn Verlag, Köln. 414 Seiten, 22 Euro