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Andrea Breth deutet "John Gabriel Borkman" am Schauspiel Frankfurt

In ihrer Version von Ibsens "John Gabriel Borkman" verzichtet Andrea Breth darauf, die Geschichte des gescheiterten Bankers als Studie über den ausufernden Finanzkapitalismus heutiger Tage zu inszenieren. Trotz Texttreue entscheidet sie sich dennoch für ein neues Ende.

Von Cornelie Ueding | 13.04.2013
    Der Vorhang geht auf, Frau Gunhild Borkman schält sich aus der Decke, unter der vergraben sie auf dem Sofa schlief – und erstarrt: sitzt doch am anderen Ende des steingrauen, kahlen Raumes leibhaftig ihre Schwester Ella, ihre lebenslange Rivalin, erst um den Mann, dann um den Sohn. Und Ella kommt näher, nimmt Kurs auf das Sofa, durchbricht nach achtjährigem Schweigen Gunhilds Kokon der sozialen Isolation. Aus Scham über die Schmach, die ihr Mann über die Familie gebracht hat, hatte sie sich in einem sozialen Schattendasein eingerichtet. Und auch er, John Gabriel Borkman, hat, nach langer Zeit wegen Unterschlagungen großen Stils in Untersuchungshaft und Gefängnis, sein selbst gewähltes Exil in der oberen Etage des heruntergekommenen Hauses seit acht Jahren nicht mehr verlassen.

    Andrea Breth verzichtet auf naheliegende Aktualisierungen. Aber Wolfgang Michael als Borkman ist kein gieriges Monster, sondern ein skurriler Hasardeur, ein Egomane mit kauzigen Zügen, dem es zuzutrauen ist, dass er sich in eine Art selbst gewählte Grufthaft im eigenen Hause begibt, um seinen Fall noch einmal selber, als sein eigener Ankläger, Richter und Zeuge minutiös durchzuspielen. Dass am Ende dieses Verfahrens ein glatter Freispruch steht, kann bei seinem Naturell kaum verwundern. Die Souveränität und Gleichgültigkeit, mit der dieser Mann über das Schicksal Tausender Gläubiger und durch ihn in Not Geratener hinweggeht, hat einen anderen Ursprung: den unerfüllten Traum einer Welt-Rettungs-Vision. Und ob nun diese Mission das Resultat ehrgeiziger Wahnvorstellungen, hybrider Selbstbezogenheit oder verdeckten Zynismus ist – seine Gefühllosigkeit im Umgang selbst mit ihm nahestehenden Menschen ist nicht Resultat von Sachlichkeit, Kälte und Strategie, sondern einer Macht- und Erfolgsbezogenen Leidenschaft.

    Er lächelt vor sich hin, wenn er mal wieder einen besonders treffenden verbalen Coup gelandet hat, sinniert, beobachtet, putzt regelmäßig unsichtbare Flecken von der rechten Schuhspitze und sichert seine überlegene Distanz zu allen anderen immer wieder, indem er den Rücken, wie windschief auch immer, pompös nach hinten gebogen aufrichtet. Wenn ihm so ist, bricht er auch noch mit dem demütigen letzten Freund. Maßt der sich doch an, sein kleines Geschick mit seiner "großen" Schmach vergleichen zu wollen.

    In Andrea Breths wort-und gefühlsgenauer Regie ist das auch eine urkomische Szene - bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Keine Situation, in der sie nicht die Ambivalenz der Gefühle minutiös herauspräpariert hätte. Bis hin zu der im Stil einer Boulevardfarce händeringend aufschluchzenden Mutter, die ihren Sohn verliert - nicht eine der Figuren, die nicht irgendeine Absicht verfolgte, wenn sie ihren Empfindungen freien Lauf lässt. Die egomanische Gemeinheit – und das wird in dieser grandiosen Inszenierung körperlich greifbar - lauert hinter jedem der schäbig verzweifelten, wackelig-großspurigen, in Wahrheit hoffnungslosen Akteure.

    Das ganze Stück ist so etwas wie ein verdichteter Augenblick der Wahrheit. Die Mutter, Corinna Kirchhoff, giftig wie eine Viper, baut ihren einzigen Sohn Erhart zum Rächer der väterlichen (und damit ihrer) Schmach, ja zum Erlöser auf. Dabei kommt ihr die todkranke Schwester ins Gehege, der Josefin Platt aber erst Anzeichen von Hinfälligkeit zugesteht, als auch sie Erhart nicht für sich erobern kann. Denn beide müssen entdecken, dass der Verklärte, Idolisierte längst alle Vorbereitungen getroffen hat, um den possessiven Bestrebungen des manischen Terzetts aus pathetischer Mutter, Arbeitsethos-süchtigem Vater und lauernd sentimentaler Pflegemutter zu entfliehen – und dabei in die Zange einer versierten Mätresse gerät.

    Werkgetreu, doch nicht am Text klebend, verzichtet Andrea Breth auf den schwer verdaulichen, von moralisierenden Bühnenkonventionen um 1900 dominierten vierten Akt, in dem sich die Schwestern über dem toten John Gabriel die Hand reichen. Statt dessen eine eisige Hölle. Drei schwarze Schatten im ewigen Eis. Slow Motion. Schuh putzend, auf der Stelle kriechend, Arme reckend. Unerlösbar. Kein lebendes Bild – ein sprachloses Endspiel.