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"Polska first. Über die polnische Krise"

Was ist nur mit dem Nachbarn Polen los? Das fragt der Sammelband "Polska first" und antwortet vielstimmig: In Form von Reportagen, Analysen, Interviews, Essays und sogar in einer Foto-Reihe und zwei Gedichten.

Von Johanna Herzing | 05.02.2018
    Eine polnische Flagge weht im Wind.
    Der Sammelband "Polska first" definiert Polen als zutiefst gespaltenes Land (imago stock&people)
    Polen ist für viele Europäer - und wohl auch für einen Teil der Polen selbst - zu einem rätselhaften und schwer berechenbaren Land geworden, einem Staat, der ausschert und in dem nach Ansicht der Europäischen Kommission die Grundwerte der EU gefährdet sind. Beide Seiten, EU und die polnische Regierung - haben harte Bandagen angelegt, - die EU-Kommission schiebt ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 an, die polnische Regierung reagiert schulterzuckend und mit trotziger Mine. Wie konnte es so weit kommen? Und warum scheint das der Beliebtheit der Regierungspartei PiS im Land selbst offenbar keinen Abbruch zu tun?
    Der Band "Polska first" bietet eine Vielzahl an Erklärungsansätzen. Dabei gehen die Autorinnen und Autoren über übliche Muster hinaus: Die Einführung von Kindergeld, die Absenkung des Renteneintrittsalters und ähnliche populäre Wohltaten der PiS werden zwar aufgegriffen, aber die Betrachtung geht sehr viel weiter und über den Moment hinaus.
    Ein zutiefst gespaltenes Land
    So wird Polen als gesellschaftlich und politisch zutiefst gespaltenes Land beschrieben. Sicher, das ist keine gänzlich neue Entwicklung. Schon seit vielen Jahren wird über "Polska A" und "Polska B" räsoniert, also über eine Teilung des Landes in einen wirtschaftlich wie weltanschaulich eher als rückständig beschriebenen ländlichen Teil, geografisch vor allem im Osten verortet, und den liberalen, aufstiegsorientierten und kosmopolitischen Teil, verortet eher in den urbanen Zentren und im Westen des Landes.
    Der Politikwissenschaftler Klaus Bachmann weist zwar auch auf den großen Teil der politisch völlig passiven Wählerschaft hin, definiert den aktiven Teil der Bevölkerung aber ebenfalls mithilfe dieser Kategorien. In einem Interview-Beitrag führt er aus:
    "Die eine Elite vertritt einen Traditionalismus, mit solchen - eigentlich kollektivistischen - Werten wie die Nation, die Familie, die Kirche, auch Landesverteidigung, materieller Wohlstand und, nennen wir es so, eine traditionelle Lebensweise. [...] Für die anderen sind wichtig: Kreativität, Entwicklung, Kontakte ins Ausland, liberale Werte, Toleranz und so weiter. Eine säkulare Gesellschaft, die Trennung von Kirche und Staat. Und das Problem in Polen ist, dass das praktisch die einzige Trennlinie ist. Die anderen, also die zwischen rechts und links, zwischen Arbeit und Kapital, ja selbst zwischen Kirche und Staat, die funktionieren in Polen alle nicht."
    Traditionalisten sind in Polen eher jung
    Im Prinzip handelt es sich dabei wie gesagt nicht um ein völlig neues Phänomen. Doch seit dem Regierungsantritt der PiS werde die gesellschaftliche Spaltung unübersehbar, die Gräben seien kaum noch überwindbar, so die Journalistin Kaja Puto in ihrem Aufsatz, der sich speziell mit der jungen Generation befasst:
    "Die Wahrheit ist, dass der Konflikt zwischen den zwei Polen - dem 'europäischen' und dem 'traditionellen' - ein Ausmaß erreicht hat, das die Kommunikation zwischen den beiden Informationsblasen unmöglich macht, und keine von ihnen hat Lust, das zu ändern, und auch hat keine eine Idee, wie das zu ändern wäre."
    Dabei, argumentiert Puto, habe die Trennlinie 'Globalisten gegen Traditionalisten' wenig mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe zu tun. Die junge Generation, so die Journalistin, sei mitnichten Träger des Widerstands gegen den Staatsumbau durch die PiS. Und tatsächlich haben ausgesprochen viele junge Menschen bei der Parlamentswahl 2015 ihr Kreuz bei der PiS oder einer der anderen rechts gerichteten Parteien gemacht.
    Technokraten haben eine Leerstelle hinterlassen
    Ebenso wie andere Autorinnen und Autoren in dem Sammelband verweist Puto auch auf die Versäumnisse der Vorgängerregierungen, also den Regierungen unter Donald Tusk und Ewa Kopacz von der Partei PO. Dabei liegt der Fokus stark auf dem Ideellen, auf den Werten. Noch einmal Kaja Puto:
    "Die acht Regierungsjahre der PO [...] standen unter dem Slogan 'Warmes Wasser aus der Leitung': Politik als technokratische und emotionslose Verwaltung des Staates. Eine radikale Rückkehr zum 'traditionellen' Polen, zur aggressiven Identitätspolitik, füllte diese ideologische Brache schließlich aus."
    Karolina Wigura und Jaroslaw Kuisz wiederum blicken weiter zurück und beschreiben, wie sie es formulieren, das "Ende des postkommunistischen Mythos vom Westen":
    "Nach 1989 war Polens Transformation vor allem Nachahmung. Seit dem Kollaps des Kommunismus 1989 herrschte in den Ländern Mittel- und Osteuropas eine fast völlig unkritische Haltung gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. [...] Nach dem Fall des Kommunismus repräsentierten die westlichen Staaten eine bessere Welt auch im moralischen Sinn. [...] Aber all das scheint schal geworden zu sein. Für einen gewissen Teil der Polen ist der Prozess, in dessen Verlauf der Westen durch eine rosarote Brille betrachtet wurde, an sein Ende gelangt."
    Souveränität und Nation als Schlüsselprinzipien
    Was an seine Stelle trat? Das beschreiben die Autorinnen und Autoren des Bandes in vielfältiger Form, bezogen auf die Außen- und Europapolitik, auf das gesellschaftliche Klima, die Wirtschaftspolitik, die Geschichtspolitik und viele weitere Bereiche mehr.
    Im Narrativ der PiS stellt sich die Welt demnach so dar: Polen müsse sich von den Knien erheben, aufhören lediglich die "verlängerte Werkbank" Westeuropas zu sein, stattdessen ein christliches Bollwerk zur Verteidigung Europas gegen muslimische Flüchtlinge und Migranten errichten. "Souveränität" und "Nation", so schreibt der Politikwissenschaftler Piotr Buras, seien Schlüsselprinzipien im Denken der PiS und ihrer Wähler - aber auch darüber hinaus. Er spricht von einer "De-Europäisierung" Polens und resümiert:
    "Ein einfacher Regierungswechsel wird nicht mehr unbedingt ausreichen, damit Polen bei der EU wieder gut angeschrieben ist. Käme Polens liberale Opposition an die Macht, würde sie sicher die guten Beziehungen zu Deutschland und Frankreich wieder herstellen und viele der illiberalen Entscheidungen der PiS-Regierung, das größte Hindernis für das Standing Polens in Europa, wieder zurücknehmen. In diesem Sinne würde die 'De-Europäisierung' verschwinden. Aber in anderen Bereichen könnte sie fortdauern - wie bei Fragen von Klima und Energie, Migration oder Verteidigung, also Bereichen, in denen polnische Interessen sich oft vom EU-Mainstream unterscheiden."
    Analysen mit pessimistischer Perspektive
    Ähnlich pessimistisch fällt der Tenor auch in anderen Analysen und Beiträgen des Bandes aus. Empfehlungen, wie die europäischen Partner, insbesondere Deutschland, mit der festgefahrenen Situation umgehen sollten, sind eher rar. Vielleicht einmal abgesehen vom Appell Irene Hahn-Fuhrs und ihres Kollegen Gert Röhrborn von der Heinrich Böll-Stiftung in Warschau. Sie fordern Deutschland auf, die Interessen Polens stärker zu berücksichtigen, etwa beim Streit um Nord Stream 2, die EU-Entsenderichtlinie, bei der Diskussion um ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und dergleichen mehr.
    "Polska first", so scheint es, ist eine Haltung, mit der sich Europa wohl noch länger beschäftigen müssen wird. Dafür lohnt es sich, das Phänomen aus vielen Perspektiven und hintergründig zu betrachten, wie es die Autorinnen und Autoren in diesem Band tun. Auch wenn sich manches Detail im Zuge aktueller politischer Entwicklungen im Nachbarland bereits überlebt hat - die grundsätzliche Analyse geht tief und bietet mehr als bloß augenfällige Erklärungen.
    Andreas Rostek [Hg.]: "Polska first. Über die polnische Krise"
    Edition fotoTAPETA, 240 Seiten, 15 Euro.