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Andreas Speit
„Die Entkultivierung des Bürgertums“

Menschen beschimpfen, Grenzen überschreiten und die Reaktion darauf als Maulkorb abtun: Solche Verhaltensmuster begegnen einem oft in unserer Gesellschaft. Der Autor und Journalist Andreas Speit beschreibt sie als "Die Entkultivierung des Bürgertums".

Von Ina Rottscheidt | 02.12.2019
Anhänger der Republikanischen und Demokratischen Partei, die durch Megafone gegensätzliche Meinungen schreien PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xMitchxBluntx 12660105
"Es geht nicht darum, dass man seine Meinung nicht äußern kann, sondern dass man auch damit leben muss, dass Leute dem widersprechen." (imago stock&people)
Rückt Deutschlands Mitte immer weiter nach rechts? Oder waren rechte Haltungen und Wertvorstellungen nach 1945 eigentlich nie ganz aus deutschen Köpfen verschwunden? Und wird das, was lange als Tabu galt, jetzt einfach wieder sagbar? Das sind Fragen, die den Autor und Journalisten Andreas Speit schon länger umtreiben:
"Wir können das ja täglich in der Politik beobachten, wenn wir beispielsweise AfD-Politiker sprechen hören, wenn sie gegen Flüchtlinge hetzen. Und ich erlebe das aber auch im Privaten, dass beispielsweise sich abschätzig gegen Obdachlose oder Flaschensammler geäußert wird. Das sind Kleinigkeiten, an denen man merkt, da wackelt etwas, da bewegt sich etwas und das bewegt sich leider nach rechts."
Für Speit zeigt sich hier eine zunehmende "Entkultivierung des Bürgertums": eine Wortanleihe von dem Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Der diagnostizierte schon in den Nuller Jahren eine "Verrohung" der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland, sprich: Toleranz und Solidarität verschwanden zunehmend auch in den Schichten, die aufgrund von Bildung und ökonomischer Möglichkeiten diese Werte bislang überwiegend vertraten.
Manchmal sind wir selbst die Wutbürger
Aber, so Speits Erkenntnis: Geld und Bildung schützen nicht vor Abwertung schwächerer gesellschaftlicher Gruppen:
"Es sind keineswegs immer andere, Unbekannte, Fremde, sondern es können auch Eltern, Verwandte, Freunde, Kollegen, Kumpels und Vereinsfreunde sein, die mal im gediegenen Ton, mal mit lautstarker Empörung verkünden, dass die Politik die eigenen Leute vergessen habe und Randgruppen bevorzuge, dass ‘die Asylanten‘ die innere Sicherheit gefährdeten, die klassische Ehe entwertet sei, ‘die Juden‘ viel zu viel Einfluss hätten, […] und und und. Die vermeintlichen Wutbürger sind unter uns – und wir sind es manchmal selbst."
Aber was darf man noch sagen? Und ist die Meinungsfreiheit in Gefahr? Der ehemalige Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen beklagte nach seinem unrühmlichen Abgang im Jahr 2018, viele hätten heute Angst, ihre Meinung zu äußern, um nicht "in die rechte Ecke gestellt zu werden". Kritik an der Asylpolitik dürfe aus Gründen der Political Correctness nicht geäußert werden, so Maaßen weiter. Ein gängiges Argument, die Meinungsdiktatur der so genannten "Gutmenschen" beklagt mittlerweile auch so manches bürgerliche Feuilleton. Für Speit ein Scheinargument:
"Ich denke, man kann in der Bundesrepublik wirklich alles sagen. Der Unterschied ist nur, dass man auch damit leben muss, dass andere Menschen sagen: Das finde ich aber rassistisch oder antisemitisch und dann muss darüber öffentlich gestritten werden. Ich habe eher den Eindruck, dass unter dem Schlagwort gegen die ‘Political Correctness‘ eher versucht wird, sich der Kritik zu entziehen. Es geht nicht darum, dass man seine Meinung nicht äußern kann, sondern dass man auch damit leben muss, dass Leute dem widersprechen."
Die eigenen Werte überprüfen
Längst sei eine Kulturrevolution von rechts im Gange, befindet Speit, deren Akteure sich jedoch gar nicht als rechte verstünden. Grund dafür sei auch eine mangelnde Aufarbeitung des Themas nach 1945:
"Ich gehe sehr ausführlich darauf ein, dass der autoritäre Charakter - also dieses: ‘Nach oben buckeln, nach unten treten‘ wesentlich verbreiteter ist, als es wir uns so gerne vorstellen. Und zu diesem autoritären Charakter gehört auch etwas anderes, nämlich die Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung. Man will nicht, dass ständig alles hinterfragt wird. Und ich glaube, das ist ein ganz großer Aspekt, diese Sehnsucht nach Sicherheit, die auch zum Tragen kommt."
Speits Buch ist eine nachdenkliche Zustandsbetrachtung unserer Gesellschaft. Eine Warnung davor, Populismus und Extremismus nur an den Rändern zu suchen. Rechts und links sind für Speit da keine politischen Kategorien mehr. Mit jeder prominenten Stimme - von Martin Walser über Thilo Sarrazin bis Peter Sloterdijk - werden Tabugrenzen weiter verrückt – bis sie normal scheinen. Das nicht als Normalität hinzunehmen, ist die große Aufforderung von Speits Buch. Und der Aufruf an jeden Einzelnen, eigene Ansichten und Haltungen zu überprüfen:
"Erst recht gilt das, wenn die bürgerlichen Werte im Alltag, im Fußballstadion, bei der Familienfeier oder beim Grillabend angegriffen werden. Egal ob als Witz, als Polemik oder als Statement. Nicht immer ist dann der Mut dazu da, nicht immer die Lust. Den Streit um die zivilisatorischen Effekte müssen wir jedoch dringend führen – im öffentlichen Raum und nicht minder im eigenen Wirkungskreis."
Andreas Speit: "Die Entkultivierung des Bürgertums",
Orell Füssli, 101 Seiten, 12 Euro.