Wir leben in einer Epoche der Sehnsucht: Während sich die einen angesichts globaler Krisen in die Nostalgie einer vermeintlich behüteten, nationalen Heimat flüchten, suchen andere ihr Heil gerade im Aufbruch in die Ferne. Trotz aller Gegensätze verbindet beide Seiten der Hang zur Verklärung. Die einen rufen nach der Schließung der Grenzen, die anderen wollen sie überwinden. Beide Seiten aber glauben an einen idealen Ort, den es so vielleicht nie gab oder geben wird.
Auch die Protagonisten in Andrej Kurkows neuem Roman "Kartografie der Freiheit" träumen von einem besseren Leben. Hoffnungsvoll begeben sich zwei litauische Paare (statt "ukrainische", Anm.d.Red.) auf den Weg nach Westeuropa. Ingrida und Klaudijus treibt es nach England. Dort kommen sie zeitweise als Gärtner und Hausmädchen in der Grafschaft Kent unter. Barbora und Andrius halten sich in Paris als Babysitterin und Clown für erkrankte Kinder über Wasser. Ein drittes Paar, Renata und Vitas, beschließt hingegen, in Litauen (statt "im ukrainischen Osten", Anm.d.Red.) zu bleiben und in der Provinz einen Hundesalon zu eröffnen. Drei Schicksale also in parallel verlaufenden und abwechselnd erzählten Kapiteln. Nie ist der Handlungsverlauf dabei frei von Komik und abstrusen Wendungen. Dennoch weicht bei den Arbeitsnomaden die Hoffnung bald schon der Ernüchterung:
"Eine Perspektive ist was für Leute, die bleiben, weggehen tut man, weil man einen Traum hat. Und der hat meistens keine Perspektive."
Europa zwischen Optimismus und Realismus
Statt auf paradiesische Zustände treffen die Migranten auf die Realität der Leistungsgesellschaft. Sie schlagen sich durch, meistens die Frauen erfolgreicher als die Männer. Sie kämpfen ums harte Überleben, was nicht spurlos an den bald schon zerbrechenden Partnerschaften vorüberzieht. So nimmt Ingrida nach den ökonomischen und sozialen Verwerfungen nur noch ein Schlachtfeld wahr:
"Wir führen Krieg. Krieg um eine glückliche Zukunft. Nur dass ich jetzt meinen Krieg führe und du deinen."
In seiner "Kartografie der Freiheit" veranschaulicht Kurkow die Folgen von Globalisierung und Europäisierung des Marktes direkt an den Biografien seiner strauchelnden Helden. Der Autor selbst versteht sich als Zwitter zwischen "Europa-Optimist" und "Europa-Realist" und weiß um die wechselvolle Geschichte des Kontinents. Entsprechend stellt er das neue Europa in Kontrast zum alten und gespaltenen.
"Im Krieg wird Europa klein. In Friedenszeiten breitete der Kontinent wieder seine Felder und Wälder aus und wurde zu einer schier unendlichen Fläche, zerschnitten von endlosen Straßen, auf denen eine gleiche Anzahl von Autos und Menschen hin- und herfuhr, damit das Gleichgewicht stimmte."
Eine Kultur des Gedenkens und Mahnens
Das Bild der zerschnittenen Straßen verdeutlicht in seiner negativen Konnotation auch die Kehrseite eines grenzenlosen Staatenbundes. Denn oftmals decken sich die westlichen Versprechungen auf Freiheit nicht mehr mit den individuellen Erfahrungen der Entwurzelung und Orientierungslosigkeit.
"Der Mensch versucht, die Geschichte der Erde zu schreiben, obwohl er eigentlich nur eine Geschichte schreibt, die er mit seinen Augen gesehen hat", heißt es daher gleich zu Beginn des Textes. Dass Kurkow den "European dream" als Schimäre entlarvt, stellt jedoch nur einen Aspekt seines Denkens und Schreibens dar. So hat er ebenso das historische Friedensprojekt im Blick. Kukutis, eine weitere Figur des Romans, repräsentiert eine literarische Kultur des Gedenkens und Mahnens. Als Folge des gewaltsamen 20. Jahrhunderts trägt der Greis ein Holzbein und avanciert dadurch zu einem lebendigen Denkmal. Er bewegt sich im Hier und Heute und trägt doch das Gestern als Erbe mit sich herum.
"Er erinnerte sich, dass er irgendwann zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg an einem deutschen Tisch tatsächlich nur ein Kotelett bekommen hatte. Aber die Gastgeber hatten jeder auch nur eins gegessen. Es waren schwere Zeiten, nach der Mahlzeit schmeckte es auf der Zunge nicht nach Essen, sondern nach Hunger."
Starke politische Aussagekraft
Aus dem früheren Mangel ist ein Erinnerungsschatz für die Gegenwart hervorgegangen. Mehr noch als an König Ödipus und seinen Klumpfuß erinnert der hinkende Senior an den griechischen Gott Hermes. Kukutis hat die Zeiten durchwandert und durchquert nun als freundlich-verschrobener Tramper die Landschaften Europas. Zu spät kommt er allerdings, um Andrius vor einem tödlichen Unfall zu bewahren. Am Ende wird diese mirakulöse Boten- und Prophetenfigur zu Renata und Vitas – dem einzigen, glücklichen Paar – in die Ukraine zurückkehren. Der Reisende verbindet Osten und Westen sowie Vergangenheit und Zukunft, er fungiert als Vermittler einer historisch gewachsenen und verantwortungsbewussten europäischen Gemeinschaft.
"Kartografie der Freiheit" von Andrej Kurkow überzeugt weniger durch seine recht konventionelle Sprache, die weder mit anregender Metaphorik noch mit anderen rhetorischen Raffinessen aufwartet. Der eigentliche Reiz zur Lektüre besteht vielmehr in der ambivalenten Positionierung innerhalb des politischen und kulturellen Diskurses. Während Kurkow in der Betonung der Chancen eines geeinten Kontinents durchaus eine Nähe zu den proeuropäischen Visionen Robert Menasses aufweist, knüpft seine Skepsis eher an den konservativen Andrej Stasiuk an. Mit dem polnischen Denker verbindet ihn die Befürchtung, ein Mehr an Integration und Internationalisierung könne den Verlust von stabilisierender Identität bedeuten. Der Romancier Kurkow schlägt sich weder auf die progressive Seite Menasses noch auf die konservative Stasiuks. Diese eigenständige Souveränität tut seinem mit über 600 Seiten zweifelsohne etwas zu lang geratenen Neuling gut. Ohne sich einer banalen Schubladenlogik zu bedienen, geht er den wichtigen Fragen unserer Zeit nach, mit unverstellter Ehrlichkeit und einem feinen Gespür für Differenzierung.
Andrej Kurkow: "Kartografie der Freiheit", aus dem Russischen von Claudia Dathe. Haymon Verlag, Innsbruck. 624 Seiten, 29,90 Euro.