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Andris Nelsons dirigiert Beethoven
Schön und beliebig

Zum 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens präsentieren Stardirigent Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker eine neue Gesamtaufnahme seiner Sinfonien. So richtig freuen, mag sich unser Kritiker über dieses Geburtstagspräsent jedoch nicht. Zu viele Fragen lässt dieser Beethoven-Zyklus unbeantwortet.

Am Mikrofon: Christoph Vratz |
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    Der lettische Dirigent Andris Nelsons (Marco Borggreve)
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, Finale
    "Monströs, trivial, geschmacklos" – der Komponist Louis Spohr redete nicht um den heißen Brei herum. Für ihn war Beethovens neunte Sinfonie ein klingendes Unding. Viele seiner Zeitgenossen sahen das ähnlich. Sie konnten nicht ahnen, dass dieses Werk mit dem berühmten Schlusschor nach Schillers "Ode an die Freude" sich zum Welthit entwickeln würde. Egal, wann und wo: Wenn es etwas zu feiern gibt, taucht die Neunte auf. In Japan etwa erlebt sie zum Jahreswechsel regelmäßig mehr als 200 Aufführungen. Und monumentaler als in Osaka tönt sie wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt. Jedes Jahr verbünden sich rund 10.000 Sänger, um gemeinsam den Schlusschor zu schmettern.
    Dass Schillers radikal gekürzter Text in Beethovens genialer Vertonung auch als politische Botschaft taugt, wissen wir spätestens, seit Leonard Bernstein den Text anlässlich des Mauerfalls in "Ode an die Freiheit" umtaufte. Nun legen die Wiener Philharmoniker eine Neueinspielung vor. Einmal pro Jahrzehnt laden sie einen Dirigenten ein, um mit ihm Beethovens neun Sinfonien neu einzustudieren. In unserem Jahrhundert waren dies bislang Simon Rattle und Christian Thielemann. Der Dritte im Bunde ist nun der gebürtige Lette Andris Nelsons, vielgefragt, er steht bei allen Spitzenorchestern so hoch im Kurs, dass er es sich sogar leisten konnte, Aufführungen in Bayreuth kurzfristig platzen zu lassen. Derzeit amtiert Nelsons als Chef bei den Edel-Klangkörpern von Boston und Leipzig. Just heute, in gut zwei Stunden, dirigiert Nelsons erneut die Wiener Philharmoniker. Erstmals darf er das ruhmreiche Neujahrskonzert leiten, übrigens auch mit einer kleinen Hommage an Beethoven. Auf dem Programm steht einer jener Contretänze, der durch seine thematische Weiterverarbeitung in der "Eroica" populär geworden ist.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, Finale. Allegro molto
    Die Ursprünge dieses Themas führen nach England. Beethoven spielt also, wenn er den Contretanz in seiner dritten Sinfonie aufgreift, auf die von ihm bewunderte britische Demokratie an. Was übrigens auch erklärt, warum er die ursprüngliche Widmung der "Eroica" an Napoleon so wütend zurückzog, nachdem der sich zum französischen Kaiser gekrönt hatte.
    Wo steht Andris Nelsons?
    Andris Nelsons deutet dieses Thema in der Tat vorsichtig tänzerisch, doch je mehr der Klang danach anschwillt, desto pauschaler klingt die Musik. Einzelne Konturen beginnen zu verwischen. Das ist innerhalb dieser Edition kein Einzelfall, sondern begegnet dem Hörer an etlichen Stellen. Die Frage ist natürlich: Welche Erwartungen hat man an eine solche Neuaufnahme? Bekanntermaßen sind in Beethovens Haus viele Wohnungen frei. Es gibt aufrüttelnde Gesamteinspielungen auf historischen Instrumenten etwa durch John Eliot Gardiner. Es gibt großartige Interpretationen mit Orchestern, die zwar auf modernen Instrumenten spielen, aber einen historisierenden Ansatz verfolgen, etwa unter Paavo Järvi, Riccardo Chailly oder zuletzt Adam Fischer. Und es gibt Dirigenten wie Christian Thielemann, die Beethoven durch eine klassisch-romantische Brille und auf dem Hintergrund des Erbes aus dem 20. Jahrhundert betrachten. Wo also steht Andris Nelsons? Zunächst ein Ausschnitt aus dem Kopfsatz der "Eroica":
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, Allegro con brio
    Wenn im Fortissimo die tiefen Streicher das Hauptthema spielen, hebt Nelsons kommentierend davon die markant bohrenden Trompeten und Hörner ab. So entstehen Reibungen, die dem aufrüttelnden Geist dieser Sinfonie durchaus entsprechen. Doch nachdem diese Sequenz wiederholt wird, verflüchtigt sich der Klang ins Ungefähre. Den nervösen Figuren der Geigen fehlt es an Schärfe, an Deutlichkeit. Was besser gelingt, sind die ständigen dynamischen Übergänge, anschwellend, abschwellend, Anlauf nehmend, ermattend. Doch wenn wenig später eine Sequenz folgt, in der Beethoven die Spannung auf einen weiteren Höhepunkt treibt, durch rund 40 aufeinander folgende "Sforzato"-Vorgaben, dann klingt das bei den Wiener Philharmonikern und Andris Nelsons seltsam statisch. Bohren durch Wiederholen – das ist dann doch etwas einfältig.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, Allegro con brio
    Andris Nelsons hat die neun Sinfonien schon mehrfach zyklisch aufgeführt, etwa am Ende seiner Zeit als Chef beim Birmingham Symphony Orchestra. Er kennt diese Werke genau, und doch fragt man sich: Für welche Beethoven-Sicht steht Nelsons eigentlich? Verfolgt er eine eigene Linie oder, auch das wäre legitim, erstellt er ein Amalgam aus verschiedenen Traditionen? Wie sieht er die jahrelange Entwicklung des Sinfonikers Beethoven? Schon der erste Akkord in der ersten Sinfonie war für damalige Verhältnisse etwas Ungeheures, harmonisch ein Reizpunkt. Doch bei Nelsons klingt dieser Einstieg, wie auch dessen abgewandelte Wiederholung, eher sanft und zugleich auffallend breit. "Adagio molto" schreibt Beethoven. Diese Vorgabe dehnt Nelsons bis zu einer gewissen Schwermut.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 C-Dur, Adagio molto –Allegro con brio
    Flämmchen statt musikalisches Feuer
    Es gibt immer wieder einzelne Inseln, die betörend Schönes offenbaren, etwa wenn Nelsons am Ende der langsamen Einleitung zur ersten Beethoven-Sinfonie die Flöte schwebend herausstellt. Doch dann, wenn der "Allegro con brio"-Teil beginnt, erwartet der Hörer einen kompletten Umschwung: weg vom breit-gedehnten "Adagio" hin zu einem aufrüttelnden "brio", einem Feuer, das in dieser Aufnahme jedoch eher zu einem Flämmchen gerät.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 1 C-Dur, Adagio molto –Allegro con brio
    Wo ist das Bärbeißige Beethovens, wo ist sein erkennbarer Wille, etwas völlig Neues seinem Publikum zu präsentieren? Die Sinfonien dienten Beethoven als Visitenkarten für die breite Öffentlichkeit, während er seine Sonaten und Quartette mehr als Labor für Experimente nutzte. Die Erfahrungen, die Beethoven im Kleinen gesammelt hat, bündelt er in seinen Sinfonien als Botschaften fürs große Publikum.
    Auch an den Beginn der Vierten setzt Beethoven eine langsame Einleitung. Bei Nelsons klingen die lang gezogenen Töne der Bläser wie ein Vorläufer der Sinfonik von Anton Bruckner.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 4 B-Dur, Adagio molto –Allegro vivace
    Wieder wählt Nelsons ein eher breites Zeitmaß, bevor der schnelle Teil dieses Kopfsatzes folgt: Allegro vivace. Beim Übergang sind es abermals Trompeten und Hörner, die Nelsons als dramatisierendes Moment herausstellt. Das ist sicher eine der Konstanten in diesem neuen Beethoven-Zyklus. Aber zu den Konstanten zählt auch, dass der anschließend schnelle Abschnitt in den ersten Takten beliebig und unscharf bleibt. Erst wenn das ganze Orchester zusammenspielt, entwickeln die Wiener eine dem Gestus der Musik angemessene, sich entladende Energie. Die keck kommentierende Funktion des Fagottes in der anschließenden Sequenz geht allerdings von Takt zu Takt mehr verloren. All das sind Indizien dafür, wie uneinheitlich dieser Beethoven-Zyklus letztlich bleibt.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 4 B-Dur, Adagio molto –Allegro vivace
    Klangschönheit ohne klare Handschrift
    Neben der Fokussierung auf einige hervortretende Bläser in den lauten Passagen gibt es eine weitere Grundtendenz in diesem Zyklus, die sich am ehesten mit dem Begriff "Schönklang" umschreiben lässt. Damit ist der Grundklang des Orchesters gemeint, mit seinen seidigen Streichern, unverkennbar wienerisch. Dass die Wiener Philharmoniker ihren Beethoven hinreichend kennen und ihn im besten Sinne "schön" zu spielen verstehen, ist keine solche Neuheit, dass dies allein eine Neueinspielung aller Beethoven-Sinfonien rechtfertigen würde. Wie aber geht ein Dirigent mit diesen Voraussetzungen um? Andris Nelsons hält sich an manchen Stellen auffallend zurück. Etwa im zweiten Satz der Pastorale, "Szene am Bach". Das Naturidyll in der sechsten Beethoven-Sinfonie zeichnet er mit pastellenen Farben. Illustrativ trillern immer wieder die Geigen, elegant wechseln die Melodien von Instrument zu Instrument. Doch erleben wir hier mehr die innige Naturfrömmigkeit Beethovens oder eher eine "mélancolie pastorale" im Sinne Rousseaus, die Beethoven natürlich bekannt war? Dass Beethoven hier eine grundlegende existenzielle Erfahrung komponiert, wenn auch mit sanft gewählten Farben, vermittelt sich dem Hörer allenfalls in Ansätzen.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 6 F-Dur, Andante molto mosso
    Man sucht in der Gesamtaufnahme der neun Beethoven-Sinfonien mit Andris Nelsons und den Wiener Philharmonikern immer wieder nach echten Höhepunkten, nach einzelnen Sätzen, die in ihrer Stringenz, in ihrer Unverkennbarkeit Nelsons‘ Handschrift verraten, so wie bei Chailly das geschärfte "brio", bei Järvi das visionäre Glühen oder die Verlebendigung der Architektur bei Adam Fischer. In dieser Edition gibt es höchstens einzelne Momente, die uns zum Hinhören zwingen, darunter der wunderbar fahle Beginn des langsamen Satzes der siebten Sinfonie. Die Melodie schält sich mehr und mehr heraus wie die Sonne, die sich ihren Weg durch den Morgennebel bahnt.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 7 A-Dur, Allegretto
    Der heutige Musikbetrieb gestaltet sich zunehmend als ergebnisoffen. Soll heißen: Es gibt einerseits die Dialektik zwischen traditioneller und historisierender Spielweise, es gibt aber auch längst Synergien, etwa wenn moderne Geigen mit Darmsaiten bespannt werden oder wenn die Reduktion von Vibrato nicht zum Dogma, sondern zum variablen Stilmittel erhoben wird. Genau diese Chance, undogmatisch und ergebnisoffen einen neuen Zyklus der Beethoven-Sinfonien mit einem der bekanntesten und sicher auch besten Orchester der Welt aufzunehmen, nutzt Andris Nelsons nur in begrenztem Maße. Mag er in Interviews noch so sehr von Beethovens Einzigartigkeit schwärmen, man möchte diese Einzigartigkeit letztlich auch hörend nachvollziehen können, so wie die gekonnt herausgearbeitete vitale Leichtigkeit beim "Allegro ma non tanto"-Abschnitt im Finale der neunten Sinfonie.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, Finale
    Das Solistenquartett stellen Lucy Crowe, Gerhild Romberger, Klaus Florian Vogt und Günther Groissböck, die ein harmonisches Ensemble bilden. Das gilt auch für den Wiener Singverein, der übrigens auch in der fast zeitgleich veröffentlichten Aufnahme mit Philippe Jordan und den Wiener Symphonikern zu hören ist.
    Beethovens Wahl von Schillers Ode am Ende der Neunten ist ein Bekenntnis, sie ist weder Laune noch Notstopfen. Denn Beethoven findet in diesem Text seine eigene Mentalität wieder: ein Aufbegehren gegen die bürgerliche Ordnung, eine Sprengkraft gegen Fesseln und Ausdruck seiner Sehnsucht nach Freiheit. Genau das zeichnet Andris Nelsons am Ende des Werkes letztlich überzeugend nach. Warum erst hier, fragt man sich etwas irritiert.
    Musik: Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll, Finale
    Ludwig van Beethoven
    Sinfonien Nr. 1-9
    Lucy Crowe, Gerhild Romberger, Klaus Florian Vogt, Günther Groissböck
    Wiener Singverein
    Wiener Philharmoniker
    Leitung: Andris Nelsons
    Deutsche Grammophon
    5 CD + Bluray Audio