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Anett Keller: "Indonesien 1965ff."
Die Nachwirkungen des Massenmordes

Vor 50 Jahren begann der Systemwechsel in Indonesien, dem Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Ereignisse wirken bis heute nach - in welcher Form, zeigt das Buch "Indonesien 1965ff.", das die Journalistin Anett Keller herausgegeben hat. Darin kommen ausschließlich indonesische Quellen zu Wort, die sich sich einem aktiven und öffentlichen Erinnern widmen.

Von Martin Zähringer | 14.09.2015
    Eine Frau mit einem schwarzen Kopftuch bindet Zettel an einen dünnen Ast an einem Baum, an dem schon viele Zettel hängen.
    Gedenken an die Opfer des Massenmordes in Jakarta: Das Thema ist in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch ein Tabuthema. (imago/stock&people/ZUMA)
    "Es ist ein Tabuthema, weil es von staatlicher Seite als Tabuthema gesetzt wurde und weil das noch sehr stark nachwirkt. Da spielt die jahrzehntelange Indoktrinierung über alle möglichen Medien, über das Schulsystem immer noch eine Rolle, man darf nicht vergessen: Suharto war 32 Jahre an der Macht, also dieses System wirkt nach."
    Generalmajor Suharto, von 1967 bis 1998 Staatspräsident in Indonesien. Das Tabu, von dem Anett Keller spricht, betrifft die mörderische Radikalität, mit der Suharto seine Herrschaft begründete. Die konkrete Opferzahl ist nicht bekannt, geschätzt werden bis zu drei Millionen Tote, auch die Hintergründe um einen Putschversuch gegen den damaligen Staatspräsidenten Sukarno sind umstritten. Sicher ist: Am 1. Oktober 1965 wurden 7 hohe Armeeangehörige ermordet aufgefunden, innerhalb weniger Stunden übernahm Suharto die Kontrolle über das Militär und machte die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) mit damals 3 Millionen Mitgliedern für die Morde verantwortlich. Gemeinsam mit der sunnitischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama führte das Militär von Oktober 1965 bis März 1966 eine landesweite Vernichtungskampagne durch. In deren Verlauf wurden die Mitglieder der PKI, der Frauenorganisation Gerwani und der Kulturvereinigung Lekra verfolgt, gefoltert, vergewaltigt und massenhaft ermordet. Zehntausende wurden bis in die späten 1970er Jahre illegal gefangen gehalten, in Suhartos Neuer Ordnung (Orde Baru) galten die Opfer als Verbrecher. Zur Vorgehensweise schreibt Hutu Oka Sukanta, Begründer des Institutes für kreative Menschlichkeit, das künstlerische Initiativen zur Aufarbeitung der Gewaltgeschichte fördert:
    "Dabei bediente sich Suhartos Regime von Anfang an zwei verschiedener Strategien: Zum einen wurden die Informationsformen der linken Bewegung und ihrer Anhänger durch Verleumdung, Einschüchterung und andere Mittel der psychologischen Kriegsführung zerschlagen. Die zweite Strategie glorifizierte die neuen Machthaber, ihr angebliches Heldentum und ihre vermeintliche Tugendhaftigkeit wurden betont. Beide Strategien wurden so systematisch und strukturiert angewandt, dass der Prozess der Gehirnwäsche seinen freien Lauf nehmen konnte."
    Geistige Bevormundung und politische Entmündigung
    Eine Geschichte der Sieger nennt es Putu Oka Sukanata in einem von sechs Profilen, die Initiativen der Zivilgesellschaft vorstellen. Und dies, so wird in verschiedenen Beiträgen deutlich, hat sich nach der Zeit des Gewaltherrschers Suharto bis heute fortgesetzt. Das wesentliche Moment dabei ist die Dämonisierung des Kommunismus. Es begann schon 1965, als behauptet wurde, Frauen der linken Organisation Gerwani hätten die entführten Generäle vergewaltigt und ihnen die Genitalien abgeschnitten. Tatsächlich ist diese Lügengeschichte - die Autopsien haben nichts Derartiges ergeben - das perfide Modell der indonesischen Siegergeschichte, die Opfer zu Tätern macht. Vergewaltigt wurden die Frauen der Gerwani von den Militärmachthabern, selbst nach ihrer Freilassung aus den illegalen Gefangenenlagern. Dazu der in Jakarta lehrende Philosoph Wijaya Herlambang in seinem Essay "Film als Mittel der Propaganda":
    "Neuere Fälle, bei denen dieser Antikommunismus zum Vorschein kam, wie etwa das gewaltsame Auflösen von Treffen ehemaliger politischer Gefangener, Proteste gegen Bücher, die alternative historische Erklärungen anbieten, sowie gegen Filme wie "Act of Killing" oder "The Look of Silence" weisen klar auf pathologische Züge in der indonesischen Gesellschaft hin, die sich dagegen wehrt, aus ihrer "Wohlfühlzone" namens Kommunistenphobie vertrieben zu werden."
    "Act of Killing" ist eine Produktion des amerikanischen Filmemachers Joshua Oppenheimer, die viel Aufsehen erregt hat. Es ist ein Dokumentarfilm, in dem einige der Täter ihre Mordtaten von 1965 im Stil ihrer Lieblingsfilme nachspielen. Selbstbewusst schildern sie ihre Mordtaten, die Straflosigkeit erscheint ihnen sicher. In Oppenheimers Film wirken sie dann doch sehr abstoßend in ihrer blutrünstigen Selbstgerechtigkeit. Aber sie fühlen das Recht auf ihrer Seite, schließlich hat die staatliche Propaganda alle Indonesier jahrzehntelang indoktriniert - zu einem langen "Leben mit der Lüge", so Wijaya Herlambang, dessen Forschungsschwerpunkte politische Gewalt und der Einfluss ausländischer Politik auf Indonesien sind. Es würde noch dauern, bis die Dekonstruktion des antikommunistischen Diskurses - möglicherweise - zu einem radikalen Perspektivenwechsel führt. Oppenheimers Film wird in Indonesien nicht gezeigt.
    Der Historiker Hilmar Farid forscht zur Geschichte sozialer Bewegungen und hat das Institut für Sozialgeschichte Indonesien (ISSI) mitbegründet. Er schreibt in seinem Beitrag "Was 1965 für die Gegenwart bedeutet" über geistige Bevormundung und politische Entmündigung:
    "Die Depolitisierung der gesamten indonesischen Gesellschaft war auch deshalb so effektiv, weil die Neue Ordnung das "Gespenst des Kommunismus" als angeblich ständige Bedrohung lebendig erhielt. Das Erinnern an die politischen Konflikte während Sukarnos Regierungszeit und die Gewalt, mit der diese geendet hatte, wurde instrumentalisiert, um jegliche Motivation zur politischen Betätigung zu lähmen. Die Neue Ordnung stellte sich selbst als Retter dar, als einzige Macht, die Indonesien vor blutigen politischen Unruhen bewahren könnte."
    Befreiung von persönlicher Angst
    Dabei waren die westlich orientierten Teile der Streitkräfte selbst ein Element, das Sukarnos gelenkte Demokratie bedrohte. Der Staatsgründer Sukarno, der Indonesien 1945 nach über dreihundert Jahren aus der kolonialen Abhängigkeit herausführte, praktizierte einen indonesischen Sozialismus. Dazu gehörte außenpolitisch die Blockfreiheit und innenpolitisch die sogenannte NASAKOM, ein Akronym für Nationalismus, Religion und Kommunismus. Die national gesinnten Streitkräfte, die religiösen Verbände und die Kommunistische Partei Indonesiens PKI sollten sich gleichermaßen an der gelenkten Demokratie beteiligen. Das Gleichgewicht dieser Kräfte ließ sich jedoch nicht mehr aufrechterhalten, als die politischen Spannungen im ganzen Land zunahmen, die CIA auf Sukarnos Sturz hinarbeitete und die PKI in den Verdacht geriet, kurz vor einer Revolution zu stehen. Nach Suhartos Machtübernahme wurden dann sie, die Kommunisten, exklusiv für alle Schwierigkeiten verantwortlich gemacht. Das Bild vom kommunistischen Landesverräter bestimmt bis heute das Prestige der Linken, auch der Opferverbände und Hilfsorganisationen, die sich um eine andere Erinnerungspolitik bemühen. Ihre Aktionen und Arbeitsweisen, auch ihre Anfeindungen durch nationalistische oder radikal muslimische Gruppen, werden in zahlreichen Profilen in diesem politischen Lesebuch vorgestellt. Putu Oka Sukanta vom Institut für kreative Menschlichkeit schreibt dazu:
    "Den Großteil der Freiwilligen zeichnet im Übrigen aus, dass sie der Generation angehören, die nach 1965 geboren wurde und ihr Wissen zu den damaligen Ereignissen von der Neuen Ordnung geformt wurde. Trotzdem ist ihr Interesse an der Vergangenheit nicht versiegt, sie sind wissbegierig und möchten die indonesische Geschichte entdecken, und zwar aus der Sicht der Opfer."
    "65" - so heißt es in Indonesien kurz und bündig, ängstliche Menschen machen schweigend ein Hakenzeichen mit der Hand. Der Fingerhaken steht für die Sichel im kommunistischen Emblem. Er steht für die Angst, die noch immer ein offenes Sprechen über die Massenmorde und ihre Folgen behindert. Man ahnt die Befreiung von dieser persönlichen Angst und dem sozialen Druck bei der Lektüre der Opferberichte, die subjektive Zeugenschaft in diesem Buch. Es sind meist weibliche Zeugen, Berichte von Folter, Vergewaltigung, sexueller Demütigung und systematischer Stigmatisierung, dazu kommt die oft folgende Ausgrenzung durch die eigene Familie. Diese Frauen zeigen am eindringlichsten, wie brutal jenes Lügensystem der Siegergeschichte wirkt - das die Opfer des Kalten Krieges zu Tätern macht. Und sie zeigen, wie dringlich die Anerkennung der Opfergeschichte ist. Die Herausgeberin Anett Keller sieht das als zentrales Anliegen:
    "Auch wenn sich nicht alle Überlebenden an erster Stelle eine juristische Aufarbeitung wünschen, viele wünschen sich einfach nur, nicht mehr als Täter dargestellt zu werden. Sie wünschen sich, dass ihnen ihre Menschenwürde wieder gegeben wird, die ihnen genommen wurde. Das ist im Prinzip, was ganz oben auf der Agenda steht."
    Für die Leser hierzulande bietet dieses politische Lesebuch eine gute Gelegenheit, sich in das Thema "Indonesien 1965" zu vertiefen. Zu weiteren Kontextlektüren führen die aktuellen Quellenhinweise. Das Buch ist ein Lehrbeispiel dafür, wie Antikommunismus zu Geschichtsblindheit führt, es erinnert aber auch an den politischen Kern der Solidarität, der die Gastlandauftritte in Frankfurt seit ihren Anfängen geprägt hat.
    Anett Keller (Hrsg.): "Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines Massenmordes. Ein politisches Lesebuch"
    regioSpectra Verlag Berlin. 213 Seiten. 19,90 Euro.