Sonntag, 19. Mai 2024

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Angeblicher Hitler-Vergleich
"Die Übertreibung hat uns aufhorchen lassen"

Diffamierungen und erfundene Meldungen kursieren in den sozialen Medien gerade im Wahlkampf. Treffen kann es jeden, wie ein Beispiel aus Frankreich zeigt. Dort soll Front-National-Chefin Marine Le Pen Präsident François Hollande mit Hitler verglichen haben - hat sie aber nicht, bestätigte "Le-Monde"-Journalist Adrien Sénécat im Deutschlandfunk.

Adrien Sénécat im Gespräch mit Anne Raith | 30.11.2016
    Der französischen Tageszeitung "Le Monde"
    Bei der französischen Tageszeitung "Le Monde" überprüfen die sogenannten "Décodeurs" Zitate auf ihren Wahrheitsgehalt. ( AFP / MATTHIEU ALEXANDRE)
    Anne Raith: Am Wochenende machte in den sozialen Netzwerken ein Zitat die Runde, das in Frankreich für Aufsehen gesorgt hat. Marine Le Pen, Chefin des rechten Front National, soll Staatspräsident François Hollande mit Hitler verglichen haben. Während sich das Zitat im Internet weiter verbreitet, machen sich bei der französischen Zeitung "Le Monde" die sogenannten "Décodeurs" ans Werk, Kollegen, die Zitate wie dieses auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Ihr Fazit: Das Zitat ist falsch. Wir wollten wissen, wie die Kollegen dabei vorgegangen sind und haben mit Adrien Sénécat gesprochen:
    Warum haben Sie sich entschieden, das Zitat infrage zu stellen?
    Adrien Sénécat: Ich denke, es war einfach diese Übertreibung, die uns bei dem Zitat hat aufhorchen lassen. Den Präsidenten der Republik mit Hitler zu vergleichen, das geht dann doch ziemlich weit, das ist ganz schön exzessiv. So dass wir uns recht schnell gefragt haben, ob Marine Le Pen das wirklich hat sagen können.
    Raith: Wo und wie haben Sie dann zu recherchieren begonnen?
    Sénécat: Wir haben zunächst beobachtet, wie sich das Zitat am Wochenende in den sozialen Netzwerken verbreitet hat. Und haben schnell festgestellt, dass die Internetseite AWD News dahintersteckt. Sie hat den Artikel mit dem angeblichen Zitat publiziert, auf den sich viele Nutzer bezogen haben. Also haben wir uns erst einmal diesen Artikel vorgenommen und nach einer Quelle gesucht. Und da ist uns sehr schnell aufgefallen, dass weder gesagt wird, wo, wann, noch in welchem Kontext Le Pen das gesagt haben soll. Und das allein ist schon problematisch, egal, ob das Zitat nun stimmt oder nicht.
    Das Prinzip: "Eine mutmaßlich schockierend Nachricht ohne jedwede Quelle"
    Raith: Was ist das für eine Seite, die mit dem angeblichen Zitat aufwartet?
    Sénécat: Die Seite hat uns auch hellhörig werden lassen, denn es ist nicht das erste Mal, dass wir uns für Falschinformationen interessieren, die diese Seite in Umlauf gebracht hat, gerade auch, wenn es um falsche Zitate geht. Erst kürzlich kursierte ein angebliches Zitat von Donald Trump, der Nicholas Sarkozy ins Gefängnis stecken wolle. Das lief nach dem gleichen Prinzip: Eine mutmaßlich schockierende Nachricht ohne jedwede Quelle.
    Raith: Welchen Spuren sind Sie von der Seite aus weiter gefolgt, um dieses angebliche Zitat zurückzuverfolgen?
    Sénécat: Wir sind in diesem Fall ähnlich vorgegangen wie damals bei dem mutmaßlichen Trump-Zitat. Wir untersuchen das ganze semantisch, schauen in Blogs und Foren, ob Bruchstücke vielleicht in einem anderen Zusammenhang schon einmal aufgetaucht sind. Um zu sehen, ob es zumindest einen Ausgangspunkt gibt, von dem aus das Zitat vielleicht verändert und weiterbreitet wurde. Wir haben festgestellt, dass weder das Zitat noch Teile davon aus dem Mund von Marine Le Pen stammen. Stattdessen haben wir ganze Passagen auf einem der identitären Bewegung nahestehenden Blog gefunden. Und aus diesem Text ist das Zitat entstanden.
    Raith: Nur warum wissen wir nicht…
    Adrien Sénécat: Es ist schwer, sich in die Köpfe der Menschen hineinzuversetzen, die falsche Nachrichten in Umlauf bringen. Klar ist nur, dass es mit Absicht passiert ist.
    "Es geht uns nicht um die Person"
    Raith: Als Rechercheresultat steht für Sie fest: Das Zitat ist falsch. Gab es darauf Reaktionen? Etwa in die Richtung, dass Sie dem Front National damit etwas Gutes getan haben?
    Sénécat: Wenn wir Behauptungen wie diese im Netz entdecken, prüfen wir sie auf ihren Wahrheitsgehalt, ganz egal, von wem sie stammen sollen. Wenn es sich um Falschinformationen handelt, die sich im Netz verbreiten, wenn sich Nutzer Fragen stellen, dann müssen wir Antworten finden, egal, ob es um Falschinformationen über François Hollande, Nicholas Sarkozy oder Marine Le Pen geht. Was schon bemerkenswert ist, ist, dass wir von der extremen Rechten oft kritisiert werden, unser Artikel jetzt jedoch ganz bereitwillig geteilt wurde. Aber das zeigt deutlich, dass es uns nicht um die Person geht, sondern darum zu erklären, was da überhaupt passiert.
    Raith: Ist das ein typischer Fall für Ihre Redaktion?
    Sénécat: Ja, uns geht es darum, Fakten zu überprüfen und Zusammenhänge zu erklären. Das kann in Form eines Textes sein oder einer Infografik. Das hier ist inzwischen ein klassischer Fall. Es geht nicht darum, dass etwas missinterpretiert oder umformuliert wurde, sondern es ist schlicht falsch. Eine Nachricht, die nur kreiert wurde, um zu desinformieren. Und das begegnet uns in den vergangenen Monaten leider immer häufiger.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.