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"Angela Merkel scheint die Kurve gekratzt zu haben"

Jetzt soll es also wirklich und definitiv kommen, das umstrittene Betreuungsgeld, inklusive möglicher Minderung des Arbeitslosengeldes für Hartz-IV-Eltern. Ein sehr guter Schachzug der Kanzlerin nach einer nicht unbedingt professionellen Politik, lobt der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse.

Das Gespräch führte Dirk Müller | 25.04.2012
    Dirk Müller: 150 Euro pro Monat sind geplant, das macht rund zwei Milliarden für die Staatskasse, falls das Betreuungsgeld so kommt, wie ursprünglich geplant. Aber es könnte noch viel teurer werden, wenn noch weiter draufgesattelt wird, wie Volker Kauder das beispielsweise will, nämlich die Rentenansprüche für Mütter ausdehnen. Das heißt, viel mehr Mütter als vorgesehen sollen von dieser Rente später profitieren. Wo könnte im Gegenzug gekürzt werden? Vielleicht bei den Hartz-IV-Familien. Die Kanzlerin wiederum hat sich immerhin dafür ausgesprochen, dass das Betreuungsgeld trotz anhaltender massiver Kritik umgesetzt werden soll, wie auch immer das in den Details dann aussehen wird.
    Das Hin und Her um das Betreuungsgeld in der Koalition, in der Union – unser Thema auch mit Politikwissenschaftler Professor Eckhard Jesse von der Universität in Chemnitz. Guten Tag.

    Eckhard Jesse: Schönen guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Herr Jesse, ist das noch professionelle Politik?

    Jesse: Das ist nicht unbedingt professionelle Politik in letzter Zeit, doch Angela Merkel scheint die Kurve gekratzt zu haben, denn auf diese Art und Weise wird eine offene Flanke geschlossen. Einerseits will man bis 2013 die Kindertagesplätze ausbauen, andererseits will man am Betreuungsgeld festhalten. Es gibt also keine falsche Alternative, entweder oder, das ist jetzt eine klare Regelung, und wir haben ja immer gewartet auf die Macht des Wortes der Kanzlerin. Jetzt hat sie ein Machtwort gesprochen und ich glaube, sie ist damit in die Offensive gekommen.

    Müller: Sie sagen, Herr Jesse, man muss immer darauf warten. Wir warten ja ganz oft auf diese Machtworte aus dem Kanzleramt, aus dem Munde der Kanzlerin. Warum müssen wir immer so lange warten?

    Jesse: Ja … Die Kanzlerin wartet ab, bis sie irgendwo merkt, in welche Richtung die Entscheidung geht. Hier war es schwierig, die CSU eindeutig dafür, die FDP im Grunde dagegen, aber letztlich kriegen sie es mit, ein Großteil der CDU dafür, ein kleiner Teil dagegen. Und jetzt hat sie gemerkt, ähnlich wie bei Stuttgart 21, sie muss klare Worte reden, und das hat dann die Konsequenz, dass sie jetzt im Wort steht, einerseits die Kindertagesplätze auszubauen und andererseits am Betreuungsgeld festzuhalten, und sehr gut ist der Schachzug zu sagen, dass Personen, die Hartz IV erhalten, dass diese das Betreuungsgeld formal kriegen, aber dass das Geld dann abgezogen wird. Das ist ja ohnehin nicht die Klientel der CDU/CSU, und hier kommt hinzu: Es waren ja bisher verkehrte Fronten. In der Vergangenheit sagte die CDU/CSU, na ja, das Geld wird ausgegeben für Zigaretten, für Alkohol, man soll Gutscheine geben, und die SPD sagte, keinen Generalverdacht. Jetzt kehrt sich es gerade um. Die Union sagt, keinen Generalverdacht, und die SPD gerät dadurch in die Defensive.

    Müller: Herr Jesse, wenn ich Ihnen jetzt folge, könnte man auch sagen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, unsoziale Politik ist klug?

    Jesse: Nein, das ist ja keine unsoziale Politik. In jedem Fall will die Kanzlerin ja festhalten an dem Ausbau der Kindertagesstätten. Andererseits sieht sie es natürlich auch so, dass es gut ist, wenn auch honoriert wird, wenn Eltern ihre Kinder zuhause erziehen wollen. Umfragen zeigen, dass das etwa 60 Prozent der Bevölkerung wollen, und wir müssen hier auch sehen: Die Elite sieht es etwas anders, als das die Masse der Bevölkerung sieht.

    Müller: Aber es geht ja um die Hartz-IV-Komponente, darüber hatten wir zuletzt gesprochen. Das war mit "unsozial" gemeint.

    Jesse: Ja! Aber das ist ja nicht unsozial. Wir müssen natürlich sehen, dass die Gefahr besteht, dass Leute, die Hartz IV bekommen, dies als Anreiz ansehen und sagen, wir schicken die Kinder nicht in die Kindertagesstätten, und es ist sehr wichtig, gerade für die Integration, gerade für Personen mit Migrationshintergrund, dass die Integration gefördert wird. Insofern war das Argument der SPD und der Grünen durchaus berechtigt.

    Müller: War das jetzt von Ihrer Seite aus ein Sippenhaft-Argument?

    Jesse: Nein, kein Sippenhaft-Argument, aber wir müssen ja sehen, dass das Argument der SPD und der Grünen durchaus rational war, weil viele Leute gesagt haben, ach, die 100 Euro, die 150 Euro nehme ich mit, die Kinder bleiben zuhause, und gegen dieses Argument geriet die Union in die Defensive und ein Teil der CDU hatte in der Tat Bedenken angemeldet, und mit diesem Kompromiss ist, glaube ich, eine Lösung erreicht, dass wir von der Ideologie wegkommen, die einen sollten nicht mehr sagen, Heimchen am Herd, und die anderen sollten nicht mehr sagen, Entfremdung der Kinder von der Mutter.

    Müller: Aber reden wir noch einmal über diese Hartz-IV-Variante, die ja jetzt jüngst in der Diskussion ist, Herr Jesse. Wenn die Union jetzt so weit geht und sagt, dort streichen wir, das hat zum Teil ja neben den ideologischen Argumentationen auch finanzielle Gründe. Man spart aufgrund dessen ja viele Hundert Millionen Euro, zumindest in der langfristigen Perspektive. Das heißt, es ist eine rein rationale politische Entscheidung?

    Jesse: Man befriedigt die Interessen der FDP, die ist massiv dafür, man befriedigt die Interessen der CDU-Gegner, die eher bisher Vorbehalte hatten, und man entkräftet Argumente der SPD. Also ich finde, das ist eine Lösung, die insgesamt allen zugutekommt, und ich könnte mir vorstellen, dass auf diese Art und Weise die Diskussion auch etwas entideologisiert wird, und das scheint mir dringend notwendig zu sein, denn es geht ja nicht darum, entweder oder. Die Kindertagesstätten müssen bis 2013 ausgebaut werden, die Union hat sich ja klar festgelegt, und umgekehrt will man an dem Betreuungsgeld festhalten.

    Müller: Dann schauen wir noch einmal auf diesen Merkelschen Kompromiss, den Sie quasi sogenannt haben. Sie haben gesagt, das ist ein intelligenter cleverer Schachzug.

    Jesse: Ja.

    Müller: Wieso kommt man nicht früher auf die Idee zu sagen, wir machen beides?

    Jesse: Angela Merkel hatte unterschätzt die Position in der CSU, dass doch erhebliche Leute in der Union Vorbehalte angemeldet haben, die Union und die FDP hätten keine Mehrheit gehabt. Und so kann sie Geschlossenheit erreichen, so hat sie sich klar festgelegt und auf diese Art und Weise kommt ein Thema in den Vordergrund, das die Bürger interessiert, denn das Thema Familienpolitik bewegt die Bürger. Es handelt sich um kein abgehobenes Thema. In der Tat hat Angela Merkel nicht rechtzeitig erkannt die Brisanz der Thematik, aber wie häufig so: Sie hat es noch geschafft, die Kurve zu kratzen.

    Müller: Und als Schlussfolgerung kann man festhalten, dass das Bier-Zigaretten-Argument mit Blick auf Hartz-IV-Familien nun definitiv Bestand hat?

    Jesse: Es ist so, dass das die eine Seite gesagt hat, früher die CDU/CSU, die FDP, und dann haben es gesagt die SPD und die Grünen. Beide haben das Argument gebraucht. Ich will hier nicht sagen, dass es in dieser Form richtig ist. Es war natürlich klar, ein gewisser Anreiz besteht für solche Gruppierungen, und dieser Anreiz wird jetzt ausgeschlossen. Ich finde es nicht richtig, wenn die SPD plötzlich nicht wahr haben will, dass man ihr in gewisser Weise jetzt entgegengekommen ist. Es ist in der Tat ein Kompromiss und wir haben die Wahlen 2013. Häufig ist es ja so, dass der Wahltermin manchmal Vorteile hat. Die Kinder, die Plätze müssen ausgebaut werden, sie werden ausgebaut, aber umgekehrt hat sich die CSU durchgesetzt und die FDP wird sich nicht sperren und die Union wird geschlossen dies akzeptieren.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler Professor Eckhard Jesse von der Universität in Chemnitz. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Jesse: Ja bitte sehr.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.