Donnerstag, 28. März 2024

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Angela Merkel wird 60
"Eine ganz erstaunliche Frau und eine ganz erstaunliche Karriere"

Bundeskanzlerin Angela Merkel sei eine "ungewöhnliche Persönlichkeit" und die "intelligenteste unserer Kanzler", sagte Arnulf Baring im DLF. Der Historiker und Politikwissenschaftler macht aber auch Mängel bei der CDU-Chefin aus.

Arnulf Baring im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.07.2014
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gibt im Bundestag eine Regierungserklärung zu dem bevorstehenden G-7-Gipfel in Brüssel ab.
    Baring: So einen Kanzler kriegen wir nie wieder. (dpa / Wolfgang Kumm)
    An Merkels Karriere sei bemerkenswert, dass kaum eine größere Gruppe für sie gewesen sei - einschließlich ihrer eigenen Partei. Anders als Helmut Kohl habe sie die CDU nicht hinter sich gehabt - "und mit dem bisschen Mecklenburg-Vorpommern ist ja nicht viel Staat zu machen".
    Sie sei eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, so Baring. Die heutige Kanzlerin sei die ersten zehn Jahre ihres Lebens ausschließlich von ihrer Mutter betreut worden. "Daraus erklärt sich vielleicht, was ich für das eigentliche Geheimnis von Frau Merkel halte: diese unerschütterliche Gelassenheit."
    Baring erzählt von einem Gespräch mit dem Linken-Politiker Gregor Gysi, der Merkel aus zwei Gründen für völlig unangreifbar hält: Sie sei nicht eitel und nicht korrupt, man werde sie nie bei krummen Geschäften erwischen. "Und das reicht für die meisten Leute", meinte Baring. "Dieses Gefühl der Verlässlichkeit vermittelt sie auf unglaublich eindrucksvolle Weise, so einen Kanzler kriegen wir nie wieder."
    Ihr Hauptbestreben: Die Deutschen ruhig zu halten
    Allerdings habe Merkel auch einen Mangel: Sie zeige keine Probleme auf, sondern versichere dem Land, dass man die Probleme alle im Griff habe und lösen könne - "und das hört das Land auch gerne". Zudem habe sie wie die meisten Politiker vergessen, dass der wichtigste Rückhalt für ein freies Europa die USA seien und dass der Kontinent "geliefert" wäre, wenn USA nicht mehr für ihn eintreten könnten. Das habe sie gerade in der NSA-Affäre zu wenig betont.
    Die Welt, so Baring, sei ja nicht ohne Probleme: Russlands expansive Neigung oder der andauernde Konflikt im Nahen Osten etwa seien eigentlich unlösbare Krisen. Die Kanzlerin aber vermittle das Gefühl: Kommt Zeit, kommt Rat. Ihr Hauptbestreben sei, die Deutschen ruhig zu halten. Weil sie den Eindruck habe: "Wenn die Deutschen in Erregung geraten, weiß man überhaupt nicht, was passiert."

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich den Zeithistoriker, Publizisten und Politikwissenschaftler Arnulf Baring. Guten Morgen, Herr Baring!
    Arnulf Baring: Guten Morgen!
    Dobovisek: Adenauer, der erste, der prägende, Willy Brandt, Kanzler der Ostpolitik, Helmut Kohl, Kanzler der Einheit - was werden wir eines Tages in den Geschichtsbüchern über Angela Merkel lesen?
    Baring: Auf jeden Fall, dass sie eine ganz ungewöhnliche Persönlichkeit war. Ich finde, darüber wird viel zu selten gesprochen, dass sie ja anders als Kohl zum Beispiel nicht die Partei hinter sich hatte und mit kleinen Hilfen bei der Wahlwerbung hier und dort gute Laune im Lande verbreitete. Mit dem bisschen Mecklenburg-Vorpommern ist ja nicht viel Staat zu machen. Ich finde, die erstaunliche Seite ihrer ganzen Zeit und ihrer Kanzlerschaft vor allem ist eigentlich, dass ja kaum eine größere Gruppe im Lande, einschließlich ihrer Partei, für diese Frau war.
    Und ich finde, dass das Interessante an Angela Merkel ist, dass man darüber nachdenken muss, wie kommt eigentlich diese große Seelenruhe zustande. Ich halte sie ja für die intelligenteste unserer Kanzler, von Adenauer angefangen. Intelligent ist ja nicht unbedingt für die Politik geeignet. Das ist also hier als Kompliment gemeint. Weil die Tatsache zum Beispiel, dass die Kanzlerin so wunderbar andere Leute, wen auch immer, nachahmen kann - diejenigen, die die Gnade hatten, das mal zu erleben, sagen, man lacht sich krumm, weil sie so gut das kann -, das zeigt ja, dass sie eine erstaunliche Beobachtungsgabe hat, die man gar nicht vermuten würde, wenn man sie so als Muttchen, Mutti wird sie ja auch genannt, auftreten sieht.
    Das eigentliche Geheimnis von Frau Merkel: unerschütterliche Gelassenheit
    Dobovisek: Aber sie ahmt keine Vorgänger nach in ihrem Politikstil.
    Baring: Überhaupt nicht! - Überhaupt nicht! Sie ist eine ganz ungewöhnliche Erscheinung. - Ich habe neulich jemanden getroffen - leider habe ich mir den Namen und auch das Buch nicht gemerkt -, der sagt, er habe eine Studie gemacht über die ersten zehn Jahre des Lebens von Angela Merkel. Und als ich das hörte, was er darin geschrieben hatte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, denn, um es kurz zu sagen, die ersten zehn Jahre ihres Lebens, also nicht nur in der Kindergartenzeit, sondern auch in den ersten vier Schuljahren, hat sich ausschließlich die Mutter um dieses Kind gekümmert.
    Wenn man heutzutage immer hört, man könne die Kinder ruhig in Krippen geben oder so, ist die Merkel ein lebender Beweis dafür, was passiert, wenn eine Mutter sich wirklich um ihr Kind kümmert. Die konnte ja nicht Lehrerin bleiben, weil der Mann kurz nach der Geburt in die DDR gegangen war und da Pfarrer war und so weiter. Aber das hat sie, die Mutter meine ich, zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, und ich glaube, daraus erzählt sich das, was ich für das eigentliche Geheimnis von Frau Merkel halte: diese unerschütterliche Gelassenheit.
    "Als Physiker ist sie daran gewöhnt, dass die meisten Versuchsanordnungen nicht klappen"
    Dobovisek: Sie nennen es Gelassenheit, Herr Baring. Andere nennen das auch die Teflon-Kanzlerin: An ihr perlt alles ab, sie sitzt vieles aus.
    Baring: Aber wieso? Wieso kann sie das? Überlegen Sie mal eine Sekunde, Sie oder ich wären in ihrer Position, in der von Frau Merkel. Wir würden doch unter der Fülle der unterschiedlichen Anforderungen, die man alle nicht wirklich erfüllen kann ... Dass sie da diese permanente Ruhe, auch eine ungeheure Pferdenatur übrigens, die ist ja an verschiedenen Stellen der Welt mehr oder weniger gleichzeitig und immer wach und schlicht.
    Nein, Teflon - ich meine, sie hat den Mangel, das finde ich auch selber eine bedauerliche Seitenerfahrung mit ihr, dass sie keine Probleme aufzeigt, dass sie im Grunde genommen ja dem Lande versichert - und das hört das Land auch sehr gern -, dass die Probleme eigentlich alle irgendwo im Griff sind. Ob man sie nun lösen kann oder nicht - ich denke da immer an meinen Physiklehrer, der immer geduldig irgendwelche Versuchsanordnungen aufbaute, die dann nicht funktionierten. Als Physiker ist sie daran gewöhnt, dass eigentlich die meisten Versuchsanordnungen nicht klappen.
    Dobovisek: Neun Jahre lang war sie ja Forscherin, Physikerin an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin. Wie viel DDR steckt denn in Angela Merkel?
    Baring: Ich finde, das ist eines ihrer Rätsel und eines der Dinge, die einen staunen machen. Sie wirkt ja gar nicht ostdeutsch. Sie wirkt aber auch nicht westdeutsch, und dass sie gesamtdeutsch wirkt, sie ist eben sie selber und sie ist in einem Maße unerschütterlich. Wissen Sie, neulich hat mal der Gregor Gysi, der Linken-Abgeordnete, zu mir gesagt: Die Merkel ist aus zwei Gründen völlig unangreifbar. Erstens, sie ist nicht eitel. Das kann man von den wenigsten Männern und schon gar nicht von den Frauen sagen. Und zweitens, sie ist nicht korrupt. Wir werden sie nie bei irgendwelchen krummen Geschäften erleben.
    Und die Tatsache, dass die Leute das irgendwo wissen oder ahnen, a) nicht eitel und b) nicht korrupt, das reicht ja für die meisten Leute. Und dieses Gefühl der Verlässlichkeit, das vermittelt sie, finde ich, auf eine unglaublich eindrucksvolle Weise. So einen Kanzler kriegen wir nie wieder!
    Dobovisek: Schauen wir uns doch mal den Aufstieg von Angela Merkel ein wenig an. Nach dem Aufbruch in ein neues Westdeutschland der Eintritt in die Ost-CDU zunächst. Dann war sie Kohls Schützling, sein Mädchen, wie es damals hieß, Frauenministerin, Umweltministerin, CDU-Generalsekretärin, und als solche ließ sie dann im Dezember 1999 die Bombe platzen. Mitten in der Spendenaffäre um Helmut Kohl schrieb sie in der "FAZ" folgendes:
    "Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von Zuhause lösen, eigene Wege gehen."
    Dobovisek: Auf deutsch gesagt, Herr Baring: Angela Merkel schoss ihn ab, stellte Kohl ins Abseits. Auch eine typische Merkel, leise, aber eiskalt machtpolitisch?
    Baring: Eiskalt passt eigentlich nicht. Wissen Sie, als Genscher 80 wurde, da gab es eine große Feier und ich war auch da, und da hat sie eine kleine Rede gehalten. Als sie nämlich das erste Mal in Moskau war, noch in der DDR-Zeit, also als stellvertretende Regierungssprecherin der Regierung unter Lothar de Maizière, hatte sie gehört, Genscher gibt eine Pressekonferenz, und sie hat gedacht, da kannst du was lernen, geh mal hin. Und sie sei hingegangen und hätte zugehört und hätte zwei Dinge dabei gelernt, sagte sie vor, was weiß ich, 150 Leuten am 80. Geburtstag von Genscher. Erstens habe sie gemerkt, er habe überhaupt nichts gesagt, und zweitens, die Zuhörer seien begeistert gewesen, also die Journalisten. Das habe sie sich gemerkt und zu eigen gemacht.
    Ich fand das ungeheuer, dass sie das sozusagen offen sagte, weil es ja zeigt, dass sie durchaus begreift, was in der Politik vor sich geht. Und dass sie das auf ihre eigene Weise sozusagen beherzigt und dabei an der Macht bleibt und auch populär bleibt, das ist ja doch eine große Gabe Gottes, die sie da hat.
    Dobovisek: Sie poltert nicht. Aber beißt Angela Merkel wie zum Beispiel im Fall Helmut Kohl?
    Baring: Ich würde sagen, Kohl war wirklich vorbei, und wie sehr er vorbei war, merken wir ja jetzt mit jedem Jahr mehr. Er hat ja erstaunliche Fehler gemacht. Dieser Euro, den er uns eingebrockt hat, war doch furchtbar.
    Dobovisek: Das sagen Sie!
    Baring: Wie?
    Dobovisek: Das sagen Sie! Das sagen andere ganz anders.
    Baring: Nein, nein, nein. Das ist eine Katastrophe. Dass das jetzt nicht explodiert, liegt doch nur daran, dass diese Riesenschirme gebaut worden sind, mit denen man alle Lücken bisher stopfen kann.
    Dobovisek: Bleiben wir, Herr Baring, doch lieber bei Angela Merkel und vielleicht auch der Position, die Angela Merkel heute hat. Wenn man diesen Höhepunkt der Macht, wenn man das so platt ausdrücken mag, gegensetzen möchte gegen den Höhepunkt der Macht Helmut Kohls, wer würde sich denn dann heute durchsetzen von den beiden, wenn sie sich heute gegenüber stünden?
    Baring: Das waren ganz andere Zeiten und ganz andere Herausforderungen. Ich bin auch nicht sicher, ob Merkel zum Beispiel, die uns ja immer beruhigt, was den Euro angeht, so wie Sie das tun, dass die mit der Eurokrise fertig werden könnte, denn die ist meiner Ansicht nach nicht lösbar.
    Aber das andere Problem, die Aggressivität von Putin, das passt doch überhaupt nicht in unser Bild moderner Staaten, die eben nicht aggressiv sind, sondern die Steigerung der Lebensqualität der eigenen Leute für das wichtigste Ziel halten. Das gilt nicht für Putin. Putin ist das nicht wichtig, und da hat er auch die Unterstützung eines großen Teiles seiner Bevölkerung, dass die Ausdehnung der Macht nach außen wichtiger ist als alle anderen Themen.
    Dobovisek: Angela Merkel hat, so könnte man sagen, die historischen Lehren der Bundesrepublik verinnerlicht, ihr nahezu bedingungsloses Eintreten für Europa, Israel als Teil der Staatsräson. Könnte ihr das in der historischen Rückschau eines Tages auch als Klotz am Bein angekreidet werden?
    Baring: Ich würde einen anderen Klotz sehen. Ich würde sagen, alle Politiker, aber eben auch Merkel, haben sozusagen vergessen oder haben die Bevölkerung vergessen lassen, dass unser wichtigster Rückhalt, eine unentbehrliche Schutzfunktion für uns und für ein freies Europa nur die USA darstellen können, dass der Kontinent geliefert ist, wenn die Vereinigten Staaten sich nicht mehr bereitfinden, für unsere Freiheit einzutreten.
    Und diese innere Abhängigkeit - da reden wir über die Spionagegeschichten; das sind doch alles Petitessen nach meinem Verständnis, verglichen mit der Frage, welche Bedeutung haben die USA für uns und unsere Sicherheit jetzt und in Zukunft. Das hat sie viel zu wenig betont. Ihre Gelassenheit hat auch ihre Grenzen, weil sie eben nicht Probleme benennt, sondern eigentlich sagt, alles läuft doch prima.
    Dobovisek: Was wird von diesen Petitessen, wie Sie sagen, der Spionage-Affäre, in der Geschichte, in der historischen Rückschau übrig bleiben?
    Baring: Na, doch eine Zeit, in der das Land sich problemlos in der Europäischen Union glücklich fühlte. Ich meine, der ungeheure Jubel, den wir jetzt erlebt haben bei der Weltmeisterschaft, in Berlin bei der Feier von 500.000 Leuten, angesichts der Rückkehr unserer Mannschaft, ...
    "Regt euch nicht auf, bleibt ruhig"
    Dobovisek: Eine Stimmung, von der, wie Sie ja vorhin auch sagten, "Mutti Merkel" profitiert heute?
    Baring: Die schafft sie ja auch weitgehend. Die Welt ist ja nicht ohne Probleme. Man könnte im Grunde genommen bei jedem der Themen, die wir heute haben, Russlands expansive Neigungen, der ganze Nahost-Konflikt, der doch überhaupt keine Anzeichen für irgendeine Beruhigung hat, das ist doch alles furchtbar. Das sind doch alles ausweglose Krisen. Aber die Kanzlerin vermittelt immer das Gefühl: Kommt Zeit, kommt Rat, regt euch nicht auf, bleibt ruhig.
    Das hat sie mal zu mir gesagt. Ihr Hauptbestreben sei, die Deutschen ruhig zu halten, weil sie den Eindruck habe, wenn die Deutschen in Erregung geraten, dann weiß man überhaupt nicht, was passiert. Sie sollen ruhig sein, ruhig bleiben, und ich glaube auch, würde sie sagen, dass ich, also die Merkel, so weit die Sache übersehe, dass sie das riskieren kann. Sie will ja nicht die Leute in die Irre führen. - Nein, das ist eine ganz erstaunliche Frau und eine ganz erstaunliche Karriere, und wir werden eines Tages sagen: Dass wir so was mal als Kanzlerin gehabt haben, ist doch ein erstaunliches Geschenk gewesen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.