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Angelika Overath: "Ein Winter in Istanbul"
Eine Liebe zwischen Orient und Okzident

Es mag wie ein Zufall wirken und doch haben sie sich gesucht. Der Schweizer Lehrer Cla begegnet in einem Istanbuler Café dem Kellner Baran. Ein Augenblick, der in Angelika Overaths Roman alles ändert. Ein anspruchsvoll komponiertes Buch mit historischem Tiefgang.

Von Angela Gutzeit | 20.11.2018
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    Die Schriftstellerin Angelika Overath und ihr Roman "Ein Winter in Istanbul" (Buchcover: Luchterhand Literaturverlag / Portrait: Frickenstein / Deutschlandradio)
    Der Held in Angelika Overaths neuem Roman ist ein 45jähriger Gymnasiallehrer aus dem Engadin, der sich auf Einladung einer Schweizer Privatbank für drei Wintermonate in Istanbul niedergelassen hat. Die Bank möchte den Dialog zwischen den Religionen fördern. Und dafür ist Cla, die verkürzte Form seines romanischen Namens Niculaus, kein schlechter Kandidat. Nicht nur dass dieser Cla an seiner Schule außer Deutsch und Ethik auch Religion unterrichtet, ist wohl ausschlaggebend für das Stipendiat.
    Er hat auch ein ganz spezielles Interesse, das auf seine Studienzeit in Köln zurückgeht. Da kam er einst mit einem deutschen Universalgelehrten und Kirchenreformer des 15. Jahrhunderts in Berührung: Nikolaus von Cues oder lateinisch Nicolaus Cusanus, der 1437 den byzantinischen Kaiser auf einer Schiffsreise von Konstantinopel nach Venedig begleitete. Das Ziel war, auf einem Konzil die römisch-katholische Kirche des Westens mit der griechisch-orthodoxen Kirche des Ostens zu versöhnen. Und nun möchte dieser Cla in seinem Kolleg im Istanbuler Vorort Tarabya seine Kenntnisse über Cusanus und seine Konzil-Reise vertiefen und sich dabei inspirieren lassen von der Geschichtsträchtigkeit dieser Stadt am Bosporus.
    "Er war am richtigen Ort in dieser Stadt, in der die großen Gegensätze aufeinandertrafen: Orient und Okzident, die politisch-religiös zerrissenen Augenblicke der Moderne mit dem Mosaikengrund eines versunkenen Byzanz. Ließ sich die theologisch aufgeheizte Gegenwart nicht als eine Kippfigur ins Mittelalter lesen? Und umgekehrt. Auf einmal schien ihm Istanbul-Konstantinopel ein Vexierbild zu sein, das mit dem Menschenwesen spielte, diesem Maß und Unmaß aller Dinge."
    Flucht vor der Lebenslüge
    Mit dem Begriff "Vexierbild" lässt sich die Konstruktion des Romans "Ein Winter in Istanbul" gut auf den Punkt bringen. Denn es gibt noch eine zweite Ebene des Geschehens, die sich mit Clas Studieninteresse zunehmend verschränkt. Cla ist nicht nach Istanbul gekommen, um sich weiterzubilden. Zumindest nicht vorrangig. In Wirklichkeit ist er geflohen, vor einer Lebenslüge. Cla kann sich nicht zu seiner Verlobten Alva bekennen, die er liebt und verehrt. Aber irgendwas stimmt nicht. Und dieses "etwas" offenbart sich ihm in Istanbul und deutet sich schon in den ersten Zeilen des Romans ganz zart an:
    "In beiläufiger Grazie hatte der Kellner einen türkischen Kaffee auf das weiße Tischtuch gestellt, sich leicht verneigt, und schon war er mit einer Drehung wieder von ihm entfernt und weiter auf anderen Umlaufbahnen durch die Ordnung des gläsernen Speisesaals. Cla sah ihm nach, nicht ohne ihn um die fraglose Sicherheit seiner Haltung zu beneiden. Auch hatte der Mann schöne Hände. Oder konnte Anmut täuschen?"
    Der türkische Kellner heißt Baran. Und es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen dem zehn Jahre jüngeren Türken und dem Schweizer. Nun mutet es zwar etwas unwahrscheinlich an, dass der immerhin schon 45 Jahre alte Cla erst nach Istanbul reisen musste, um zu erkennen, dass er bislang auf das falsche Geschlecht gesetzt hatte. Von einer Vorgeschichte dieses Comingouts erfährt man nämlich nichts. Aber davon abgesehen, gehört die Annäherung dieser beiden Männer zu den schönsten Szenen dieses Buches. Es ist aufregend zu verfolgen, wie Angelika Overath es vermag, dieses homoerotische Spiel des Paares zwischen Scham und Verführung nach und nach zu intensivieren. Eine knisternde Spannung entsteht und treibt ihrem Höhepunkt entgegen, wenn zum Beispiel der noch unsichere Cla mit dem sexuell erfahrenen Baran ein Hamam, ein türkisches Dampfbad, besucht.
    "Eine lange vergessene Mischung aus Angst und Neugierde, Unsicherheit und dem Anflug von Begehren kam unerwartet und heftig zurück. Ihm wurde heiß. Er verstummte und ging zwei Schritte zur Tür. Er griff nach der Klinke.
    - Ich warte draußen, schließt du ab?
    Aber Baran hatte sich im selben Moment umgedreht, nackt, das Tuch in der Hand, und sah ihm in die Augen. Rückhaltlos. Cla roch den fremden Schweiß, der nicht fremd roch; er senkte den Blick, er sah die Haut der anderen Schultern, die Bogenpartie des Schlüsselbeins. Baran war etwas kleiner als er. Schlanker, aber muskulöser. Cla murmelte eine Entschuldigung und zwängte sich durch den schmalen Spalt an dem duftenden Körper vorbei."
    Zusammenfall der Gegensätze
    Eine weitere Steigerung dann, als Baran den Engadiner, wie er ihn nennt, einlädt, einem Tanz der Derwische beizuwohnen. Durch die Geschichten, die sie sich anschließend wechselseitig in einem Lokal über Cusanus wie über den persischen Sufi-Mystiker und Dichter Rumi erzählen, blitzt immer offener ihr Begehren hervor, war doch diesen historischen Gestalten die Freundes- und Mannesliebe nicht fremd.
    Um auf das eben erwähnte Vexierbild zurückzukommen: Immer enger verflechten sich die beiden Erzählstränge miteinander - die Liebesgeschichte, die noch eine Dramatisierung erfährt durch den Besuch Alvas in Istanbul, und die historische Ebene, wie sie sich in den Erzählungen der Protagonisten u.a. über Istanbul bzw. Konstantinopel, über die Reise von Cusanus und das Leben Rumis darstellen. Diese Ebenen beleuchten und erklären sich gegenseitig. Dabei ist der geistig-philosophische Stichwortgeber in diesem Roman Clas Gewährsmann Cusanus, der Freidenker von der Mosel, der einst vom Zusammenfall der Gegensätze sprach.
    Wie aber auch vom Wissen um das Nichtwissen, das dem Denken Freiräume und damit eine Vielfalt von Möglichkeiten eröffnet. Ganz in diesem Sinne ist der Roman bestrebt, gewissermaßen in Kippbildern Orient und Okzident, Gegenwart und Vergangenheit zusammenfallen zu lassen - in der Liebe zweier Männer, die in einer neuen Lebensform zu sich selbst finden wollen. Dafür müssen sie sich in Frage stellen, das Unmögliche für möglich halten, sich öffnen und besonders Cla den Sprung ins Unbekannte wagen.
    Rausch und Glück einer homoerotischen Liebe
    Angelika Overaths Roman ist ein zartfühlendes wie gelehrtes Buch, das erkennbar aus ihrem eigenen Stipendiatsaufenthalt in Istanbul und ihrer intensiven Beschäftigung mit der aktuellen Türkei wie mit den historischen Bedingungen der byzantinischen und osmanischen Ära schöpft. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass sie ihr Buch mit diesen Kenntnissen überfrachtet und damit ihre Protagonisten allzu oft zu Sprachrohren dieses Wissens degradiert. Cla, Baran wie auch Alva tauchen, kaum sind sie aufeinander getroffen, stets in die Historie ab und fordern sich zum Geschichtenerzählen auf. Das nimmt ihnen viel von ihrer Geschmeidigkeit und hemmt den Fluss des Erzählens. Nicht immer überzeugend auch die Figur des Schweizer Lehrers, der doch eigentlich nach Istanbul gefahren ist, um sich Klarheit über sein Liebensleben zu verschaffen. Warum muss er sich dann in diese Cusanus-Geschichte dermaßen hineinsteigern, dass er schließlich eine Vision erlebt wie einst der Gelehrte auf dem Meer? Man hätte sich als Leser gewünscht, dass die verschiedenen Ebenen dieses Romans etwas eleganter, unaufdringlicher miteinander korrespondieren würden. Dann wäre der Lesegenuss größer gewesen. Zu bewundern ist aber auf jeden Fall, wie Angelika Overath uns Istanbul näher bringt und vor allen Dingen Konflikt, Rausch und Glück einer homoerotischen Liebe.
    Angelika Overath: "Ein Winter in Istanbul"
    Luchterhand, München, 272 Seiten, 20 Euro