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Angriff auf den skandinavischen Traum

Norwegens Ministerpräsident Stoltenberg machte nach den Anschlägen deutlich: "Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität, nie jedoch Naivität." Doch die Realität der Attentate könnte den skandinavischen Traum der offenen Gesellschaft untergraben.

Von Marc-Christoph Wagner | 26.07.2011
    Es ist nur ein kleines Detail, das im Laufe des gestrigen Tages bekannt wurde – und doch so symbolisch. Als die Bombe im Osloer Regierungsviertel am Freitag explodierte, saß Ministerpräsident Jens Stoltenberg in seinem Amtssitz am Rande der Stadt, um die Rede zu schreiben, die er am darauffolgenden Tage vor den jungen Sozialdemokraten auf der Insel Utoya halten sollte. Alleine, denn seinen Personenschutz hatte Stoltenberg da bereits – in einem Gefühl vermeintlicher Sicherheit – ins Wochenende geschickt. Als der Regierungschef später vor die Öffentlichkeit trat, um die Anschläge zu kommentieren, schien er so auch persönlich getroffen – und wählte dementsprechend deutliche Worte:

    "Ich habe eine Botschaft an die, die uns angegriffen haben, und die, die hinter diesem Anschlag stehen – und zwar eine Botschaft von der ganzen Nation: Ihr werdet uns nicht zerstören – weder unsere Demokratie, noch unser Engagement für eine bessere Welt."

    Die Bluttat, machte Stoltenberg dann auch noch einmal vor der ganzen Nation deutlich, die den Trauergottesdienst im Osloer Dom am Sonntag verfolgte, war mehr als ein Angriff auf die Regierung beziehungsweise die sozialdemokratische Partei, sie war ein Angriff auf das Land – auf seine Offenheit, sein zwischenmenschliches Vertrauen, seinen Willen, ein Leben ohne permanente Überwachung und Kontrolle zu führen:

    "Wir sind ein kleines Land, aber ein stolzes Volk. Wir sind noch immer schockiert über das, was uns angetan wurde, aber wir werden unsere Werte nie aufgeben. Unsere Antwort ist mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität, nie jedoch Naivität."

    Dass Stoltenberg mit diesen Worten die verwundete norwegische Seele getroffen hat, ist nicht allein an den zustimmenden Leitartikeln der heimischen Tageszeitungen abzulesen. Quasi zum Symbol geworden für die Reaktion der Norweger auf das schier Unfassbare ist mittlerweile ein Telefoninterview, dass die junge Stine Renate Haheim, Augenzeugin der Tragödie auf der Insel Utoya, dem amerikanischen Nachrichtensender CNN gab. Auf die Frage, wie man Rachegefühle unterdrücke, ja gar eine Lynchstimmung dem Attentäter gegenüber verhindere, antwortete sie: Wenn ein einzelner Mann soviel Hass erzeugen kann, wie viel Liebe können wir dem dann nicht alle zusammen entgegenstellen?

    Und dennoch scheint die Offenheit der norwegischen Gesellschaft getroffen. Auch wenn sich Politiker bisher noch zurückhalten, die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen etwa im Regierungsviertel zu kritisieren, so gibt es hier arbeitende Beamte, die genau das inzwischen tun. Und auch Polizei und Sicherheitsbehörden werden ihre Routinen überprüfen müssen. Denn noch am Wochenende mussten sie erkennen, dass dieser Attentäter für sie gänzlich aus dem Nichts kam.

    "Wir wissen nicht mehr, als er im Internet auf seiner Homepage über sich selbst berichtet. Demnach hat er Haltungen, die mit der politisch Rechten sympathisieren, und gewisse anti-muslimische Einstellungen. Ob ihn das jedoch zu dieser Tat motiviert hat, bleibt abzuwarten."

    In hohem Masse symbolisch wurde gestern Mittag nicht nur in Norwegen eine Schweigeminute für die Opfer abgehalten, sondern auch in Schweden und Dänemark. Alle drei Länder teilen den Traum der offenen Gesellschaft, in allen drei Ländern kann man auch heute noch führende Minister auf der Straße antreffen – ohne Personenschutz und dergleichen. Und dennoch ist längst auch hier Realität, was der dänische Regierungschef Lars Lokke Rasmussen nach den Anschlägen vom Wochenende auf den Punkt brachte:

    "Wenn wir unsere Sicherheitsvorkehrungen verstärken, wie wir es müssten, dann erreichen all diejenigen ihr Ziel, die unsere offene Demokratie nicht wollen. Die jüngsten Ereignisse zeigen aber eben auch, diese Kräfte sind vorhanden – auf der extremen Linken, der extremen Rechten, im religiösen Fundamentalismus. Eben deshalb haben wir unsere Sicherheitsvorkehrungen in den vergangenen Jahren aufrüsten müssen, denn natürlich müssen wir all diese Kreise überwachen. Die traurige Wahrheit ist doch: Solchen Extremisten müssen ihre Untaten nur ein einziges Mal gelingen, wir als Staat hingegen müssen sie jedes Mal verhindern."