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Angst als Prinzip der US-Politik nach 9/11

Amerika reagierte schnell auf die Terroranschläge. Der damalige Präsident George W. Bush setzte auf Krieg und Folter statt auf Strafverfolgung und Freiheitsrechte - und verriet damit die Werte Amerikas. Zu dieser Einschätzung kommt Elmar Theveßen in seinem Buch "Nine Eleven".

Von Peter Carstens | 05.09.2011
    Präsident Bush, der am 11. September wie auf der Flucht quer durch Amerika geflogen war, war am Abend nach Washington zurückgekehrt. Mitten in der Nacht hatte ein abermaliger Alarm ihn geweckt, der Secret Service brachte den Präsidenten in den Bunker des Weißen Hauses. Angeblich war ein weiteres Terror-Flugzeug im Anflug auf Washington. Ein Fehlalarm, der aber doch zeigt, wie tief verunsichert Amerikas Führung in jenen Stunden war. Angst, Wut und das "Schuldgefühl der Überlebenden" – diese Regungen bestimmen nun die Politik Amerikas, schreibt Theveßen.

    Die Anschläge sind mehr als nur ein Terrorakt, sie sind ein Akt des Krieges. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der versucht, sich zu verstecken, aber das wird ihm nicht immer gelingen ... dies ist ein monumentaler Kampf zwischen Gut und Böse, aber das Gute wird siegen. (Zitiert aus: Ansprache vom 12. September)

    Das Gute werde siegen, versprach der Präsident am nächsten Tag in seiner Rede. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Denn Amerika habe nach 9/11 den falschen Weg eingeschlagen, glaubt Theveßen und meint, die Ursache dafür sei zu finden in:

    Trauma und Schuldgefühl einer Regierung, die ihr Land nicht schützen konnte, obwohl sie die Chance dazu gehabt hätte. ... Angst wurde zum beherrschenden Prinzip der amerikanischen Politik. ... Angst, Schuldgefühle und eine rücksichtslose Entschlossenheit verhinderten, dass die eigentlich notwendigen Schlussfolgerungen aus 9/11 gezogen wurden.

    Die guten Gründe für seine Auffassung fand Theveßen in zahlreichen Interviews, die er während der vergangenen zehn Jahre mit Politikern, Sicherheitsexperten und Militärs, aber auch mit anonymen Gesprächspartnern in Geheimdiensten und im Sympathisantenumfeld des Terrors führte. Außerdem standen ihm natürlich die Berichte des amerikanischen Kongresses und der großen US-Zeitungen zur Verfügung.

    Zu Beginn seines Buches schildert er noch einmal den Verlauf jenes Septembertages. Dann blickt er zurück auf die lange Vorgeschichte der Anschläge, die schon 1993 begann, als radikale Islamisten zum ersten Mal versuchten, die Twin-Towers zu zerstören. Arroganz, Kompetenzgerangel und eine unglaubliche Ignoranz hätten dazu geführt, dass die Täter von 9/11 ihre Verbrechen begehen konnten. Dafür gibt es, so Theveßen, zahlreiche Belege. Viele ahnten, was kommen würde, und versuchten vergeblich, die Führung auf die drohende Gefahr hinzuweisen. So schrieb Richard Clarke der Terrorismusexperte im Nationalen Sicherheitsrat in einer wütenden Notiz an Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice:

    Die Entscheidungsträger sollten sich den Tag vorstellen, an dem die Sicherheitsbehörden Al Qaida-Attacken nicht würden stoppen können und an dem Hunderte von Amerikanern unter den Opfern sein würden, auch in den USA, dieser Tag kann jederzeit kommen.

    Das Memo trug das Datum 4. September 2001. Sieben Tage vor 9/11. Regierungsversagen habe die Anschläge begünstigt, schreibt Theveßen. Aber weder gab es eine angebliche zionistische Verschwörung, noch habe die amerikanische Führung höchstselbst die Anschläge verübt, erläutert er unter der Überschrift "Wie es nicht war". Wer dieses knappe, pointierte Kapitel liest, kann sich die Lektüre der zahlreichen wieder aufgewärmten Verschwörungsbücher guten Gewissens sparen.

    Kurz nach dem 11. September 2001 befahl die amerikanische Regierung den Krieg gegen die afghanischen Taliban, später den Einmarsch in den Irak. Zugleich eröffnete sie die weltweite Jagd nach allen, die als Täter, Helfer oder auch nur Sympathisanten Osama bin Ladens infrage kamen. Militärische Großangriffe waren dabei ebenso im Repertoire wie kleine Spezialoperationen, gezielte Tötungen aus der Luft, Entführungen und Folter. Es gehöre, so Theveßen

    ... zu den schlimmsten Folgen von 9/11, dass noch Jahre später die Grundprinzipien genau jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit Füßen getreten werden, die Osama bin Laden und seine Anhänger zerstören wollten.

    Die Angriffe waren, fährt der Autor fort,

    ... ein schreckliches Verbrechen, aber noch erschreckender ist, wie schnell und umfassend wir uns auf das gleiche Niveau herab begeben haben, um unsere Freiheit gegen solche Angriffe zu verteidigen.

    Die Resultate sind bedrückend: zwei Kriege ohne Siege, über einhunderttausend Tote, ruiniertes Ansehen, geschleifte Freiheitsrechte, verlorene Billionen. Die Weltwirtschaftskrise - die Theveßen als mittelbare Folge der falschen 9/11-Reaktion sieht - hat Millionen Arbeitsplätze gekostet.

    Profitiert habe vor allem China, das im Schatten des "war on terror" planvoll seine Weltstellung ausbaute. Der Autor, der sich in manchen Passagen seines Buches in etwas aufgeblasener weltumspannender Systemanalyse bewegt, kritisiert auch die deutsche Politik. Die sei ohne eigenes Konzept in die Auseinandersetzungen gegangen, hin- und hergerissen zwischen "uneingeschränkter Solidarität" und empörtem "Ohne uns!" Er empfiehlt:

    Ein offener und ehrlicher Diskurs über ein ganzheitliches Konzept für die Integration von Zuwanderern Deutschlands ist genauso dringlich wie unser Beitrag zur Integration möglichst vieler Staaten in eine neue, friedliche Weltordnung.

    Trotz solcher, gelegentlich auftauchender Plattitüden hat Elmar Theveßen ein interessantes Buch geschrieben. Es verbindet wichtige Mosaiksteine zu einem anschaulichen Ganzen. Theveßen macht es dem Leser leichter, zu begreifen, was in den Jahren vor und vor allem nach den Terroranschlägen schiefgelaufen ist und warum die Welt heute viel unsicherer ist, als sie es am 10. September 2001 noch war.


    Elmar Theveßen: Nine Eleven: Der Tag, der die Welt veränderte
    Propyläen
    352 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-5490-7381-0

    Mehr zum Thema 9/11:
    Sammelportal 9/11 - Zehn Jahre danach

    Literaturliste zum 11. September 2001