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Annäherungen an eine Weltreligion

Aus unterschiedlicher Perspektive beleuchten zwei neue Bücher den Islam. Während Nicolai Sinai, Wissenschaftler in Oxford, als außenstehender Beobachter den akademischen Forschungsstand über den Koran zusammenträgt, schreibt Mouhanad Khorchide als Theologe, der mit seiner Religion immer wieder gerungen hat.

Von Stephanie Doetzer | 29.10.2012
    Wer über den Islam schreibt, der sagt beim Schreiben fast immer mehr über sich selbst als über den Islam. Er kann das Wort "ich” vermeiden und nichts über die eigene Biografie erzählen und doch erklärt er fast immer auch das eigene Weltbild: Wer oder was ist Gott? Was ist ein guter Mensch – und woher weiß man das?

    Offenbar gibt es so viele Islaminterpretationen wie Menschentypen. Für den Beobachter führt das zu dem Eindruck: Da steht ein Wort gegen das andere. Für die einen ist der Islam eine Religion des Friedens, für andere ein Aufruf zu Gewalt. Beide Seiten werfen mit Koranzitaten um sich – und wer kann schon selbst beurteilen, ob ein Wort – aufgezeichnet auf der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts - nun eher dies oder jenes bedeutete? Sinai und Khorchide gehören zu denjenigen, die von Berufs wegen mit dieser Beurteilung betraut sind. Khorchide ist islamischer Theologe in Münster, Sinai Islamwissenschaftler in Oxford. Er schreibt gleich zu Beginn seines Buches:

    "Um den Islam zu verstehen, so könnte man mithin meinen, muss man nur zum Koran greifen: Dort sei schwarz auf weiß nachzulesen, wie es der Islam wirklich mit der Religions- und Meinungsfreiheit oder der Stellung der Frau halte. Doch der Versuch, den Islam in seiner historischen Vielgestaltigkeit allein aus dem Koran zu erklären, ist ein Kurzschluss."

    Khorchide dürfte zustimmen. In seinem Buch zieht sich die Kluft zwischen dem koranischen Text und der tatsächlichen Religionspraxis vieler Muslime wie ein roter Faden durch alle Kapitel. Grundsätzlich aber haben die beiden Bücher wenig gemeinsam. Sinai schreibt als außenstehender Beobachter und trägt den Forschungsstand der akademischen Islamwissenschaft zusammen. Sorgfältig, neutral, und ein bisschen trocken. Khorchide dagegen schreibt als muslimischer Theologe, als einer, der mit dem Islam aufgewachsen ist und immer wieder mit der Religion gerungen hat. Oder mehr noch: Mit dem derzeitigen Zustand der Religionsgemeinschaft.

    "Als fromm wird heute vielfach wahrgenommen, wer betet, in die Moschee geht, als Mann einen Bart und als Frau ein Kopftuch trägt (…). Ist das alles?! Nur über die Fassade wird der Mensch als fromm definiert'! Soweit wurde der Islam reduziert: auf ein paar Rituale und Äußerlichkeiten?!”

    Khorchide schreibt engagiert und persönlich. Sein Ziel ist der Entwurf einer islamischen Theologie der Barmherzigkeit – als Alternative zu einer "Theologie des Gehorsams”, wie er sie als Kind in Saudi-Arabien vermittelt bekam. Nicht von seinen Eltern, aber in der Schule. Da hieß es: Wer nicht gehorcht, der verbrennt in der Hölle! Und Nicht-Muslime sowieso! Für Khorchide ist das rückblickend eine schwarze Pädagogik, eine, die kritisches Denken verbietet und Diktaturen begünstigt. Und eine Theologie, die sich gegen den Menschen selbst richtet – mit einem Gott, der zum kleinlichen Richter und Rächer wird.

    "Wie kann es sein, dass dieser Gott Menschen, die ungerecht sind und andere Menschen abfällig behandeln, ins Paradies eingehen lässt, andere aber, die gerecht sind und andere Menschen respektvoll behandeln, für immer in die Hölle verbannt? Weil sie die falsche Überschrift tragen?! Weil sie sich nicht Muslime nennen?! (…) Ist Gott so klein? Ich kam zu der Antwort: Mit Sicherheit nicht! Gott ist kein Diktator, kein Mubarak oder Gaddafi."

    Sinai dagegen interessiert sich weniger für die heutige muslimische Religionspraxis, sondern für den koranischen Text an sich. Er vergleicht Quellen, ordnet ein, sucht nach Wahrscheinlichkeiten. Eine endgültige Wahrheit gibt es bei ihm nicht, für den Leser wird deutlich, wie kompliziert eine Koranexegese ist und von wie vielen Faktoren abhängt, was dabei herauskommt. Seine eigene akademische Kompetenz steht Sinai dabei allerdings manchmal im Weg – falls einem Leser etwa die "durchschnittliche Verslänge früh- oder spätmekkanischer Suren” ziemlich egal ist, dann wird er einige Seiten überspringen müssen. An einem Punkt treffen sich die beiden Autoren wieder: Nämlich wenn sie betonen, dass der Koran kein Buch außerhalb der Geschichte sei. Dass er nur verstanden werden könne, wenn man auch den historischen Kontext seiner Entstehung kenne. Dabei betont Sinai, dass der Koran schon immer auf ganz unterschiedliche Weise rezipiert wurde – und nicht etwa mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit.

    "Viele islamische Koraninterpreten erheben nicht den Anspruch, den Sinn einer bestimmten Textpassage endgültig feststellen zu können und beenden ihre Ausführungen oft mit dem Ausruf: 'Gott weiß es am besten!'. (…) Die islamische Exegese zielt insofern keineswegs in erster Linie darauf ab, den Koran als Gesetzesquelle fruchtbar zu machen.”

    Für Khorchide ist sowieso klar: Wer den Islam als juristisches Schema sieht, hat ihn nicht verstanden. Jede Auslegung des Korans, die nicht mit dem Prinzip der Barmherzigkeit vereinbar sei, stehe im Widerspruch zum Koran selbst. Denn Gott sage darin über sich: "Meine Barmherzigkeit umfasst alles." Khorchides Theologie dürfte bei vielen Zuspruch finden, vielleicht gerade bei nicht-muslimischen Lesern, die darin eine Theologie finden, die auffallend ans Christentum erinnert. Sein Buch liest sich allerdings streckenweise so, als sei der Lektor sehr gutmütig gewesen. Es gibt so viele gedankliche Dopplungen, dass man als Leser das Gefühl bekommt, der Inhalt hätte sich auch auf 110 statt 220 Seiten gut sagen lassen können. Und mehr noch: Er käme dann sogar besser zur Geltung. Denn Khorchide nennt vieles, was so wichtig und so lesenswert ist, dass es verdient, aufzufallen. Seine Definition des Muslim-Seins etwa ist ziemlich revolutionär:

    "Der Mensch, der die Einladung Gottes zu Liebe und Barmherzigkeit annimmt und bereit ist, ein Medium der Verwirklichung göttlicher Intention zu sein, ist ein Muslim. (…) Und umgekehrt ist jeder, der meint, an Gott zu glauben, jedoch Liebe und Barmherzigkeit nicht durch sein Handeln bezeugt, kein Muslim.”

    Islamische Extremisten entsprechen Khorchide zu Folge exakt der koranischen Definition von "Ungläubigen”. Nun mag aber seine Position noch so theologisch fundiert sein – er schreibt an gegen eine Lawine von Gelehrtenmeinungen, die seiner Deutung diametral widersprechen. Und damit genau die Brücken einreißen, die das Buch zu bauen versucht. Immerhin: Der Koran, so schreibt auch Sinai, scheint das Nebeneinander verschiedener Religionen keineswegs als negativ zu betrachten. Und er zitiert dabei aus der fünften Sure:

    "Für jeden unter Euch haben wir einen Pfad und ein Brauchtum geschaffen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte er Euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch er will Euch in dem, was er Euch gegeben hat, auf die Probe stellen. So wetteifert nach dem Guten!”

    Da fragt sich nur: Wie konnte aus dem Wettstreit nach dem Guten oft eher ein Wettstreit der Dummheiten werden? Khorchide stellt sich eine ähnliche Frage: Wie kommt es, dass heute junge Menschen, die in Europa aufgewachsen sind, genau jene Positionen vertreten, die ihn in Saudi-Arabien so abgestoßen haben? Eine Antwort bleibt er schuldig. Er klammert sich an diesen Satz: "Islam ist Barmherzigkeit”. Es ist ein schöner Satz. Ob er stimmt, hängt allerdings von den Muslimen selbst ab.


    Nicolai Sinai: Die Heilige Schrift des Islams: Die wichtigsten Fakten zum Koran
    Herder Verlag, 128 Seiten, 8,99 Euro
    ISBN: 978-3-451-06512-5

    Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit: Grundzüge einer modernen Religion
    Herder Verlag, 220 Seiten, 18,99 Euro
    ISBN: 978-3-451-30572-6