
Paris 1935. Ein ausgebrannter Psychiater im letzten Halbjahr vor seinem Ruhestand. Seine Arbeit besteht aus Routine und lebloser Langeweile und er zählt die verbleibenden Therapiesitzungen. Seine Patienten sind ihm nur noch lästig, während der Sitzungen malt er von ihnen Vogelkarikaturen, je nach Befund etwa einen Vogel Strauß oder einen zerrupften Spatz mit gebrochenem Flügel
"Die morgendlichen Gespräche vergingen, ohne dass auch nur einer meiner Patienten es vermocht hätte, mich zu überraschen oder mein Interesse zu wecken (…) `Wir sehen uns in einer Woche, Doktor.´ Genau diese Worte sagte Monsieur Bertrand jedes Mal, wenn er sich verabschiedete, und vielleicht bestand in meinem Alter nur noch alles aus Wiederholungen. Vierhundertachtundvierzig, dachte ich im Bemühen, mich aufzumuntern. Nur noch vierhundertachtundvierzigmal musste ich mit diesen Menschen sprechen, die ich inzwischen nicht einmal versuchte zu verstehen."
Während der Ich-Erzähler seine Pensionierung herbeisehnt, wächst aber auch die Angst vor dem Lebensabend. Er hat immer allein gelebt, hat nie jemanden geliebt und ist kaum über Paris hinausgekommen. Sein Leben fand unter Aufsicht seiner Sekretärin in der Sicherheit seiner Praxisräume statt. Er fürchtet die Leere, die ihm im Ruhestand droht.
Der hilflose Helfer
Anne Cathrine Bomann, selbst Therapeutin, zeichnet die Seelennöte des alten Psychiaters feinfühlig und eindringlich zugleich. Zu Hause besteht sein Kontakt zur Außenwelt lediglich durch Blicke aus dem Fenster oder den Geräuschen, die von einem Nachbarn zu ihm dringen. Er stellt sich vor, wie sie beide über Laute den Lebensrhythmus des jeweils anderen kennenlernen. Als der Psychiater den Nachbarn nach Monaten das erste Mal vor dem Haus zu grüßen wagt, stellt sich heraus, dass der Andere taub ist. Ein besseres Bild hätte die Autorin nicht wählen können, um die hermetische Einsamkeit des Alten zu beschreiben.
Sehnsucht manifestiert sich auch in einem wiederkehrenden Tagtraum des Therapeuten: In einem Café hat er einmal ein Paar mittleren Alters beobachtet. Die Frau hatte ihren Arm ausgestreckt, um dem Mann über die Wange zu streichen.
"Er schmiegte sich in ihre Hand, und ich spürte ganz genau, als ob ich selber dort gesessen hätte, wie die Wärme vom einen in den anderen hinüberfloss, und es unmöglich machte zu unterscheiden, wer wer war. Seitdem hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht (…) mir vorzustellen, dass auch ich möglicherweise eines Tages dort sitzen würde."
Und eines Tages taucht Agathe auf, eine als nichttherapierbar diagnostizierte Deutsche, die – obwohl der Psychiater sie abwimmeln will – eine Behandlung bei ihm erzwingt. Agathe ist anders als seine übrigen Patienten. Kommen diese mit scheinbar kleinlichen Angelegenheiten, die durch das Desinteresse des Therapeuten auch kleinlich bleiben, so herrscht bei Agathe wirklich große Not. Ein unerbittliches Über-Ich hat ihr beigebracht, dass sie nichts wert sei, nichts zu bieten habe, nur eine leere Hülle sei. Und weil sie sich als Versagerin fühlt, bestraft sie sich, indem sie sich in ihre Unterarme schneidet. Mit einem anderen eindringlichen Bild zeigt Bomann, dass den Therapeuten etwas mit Agathe verbindet:
"Ich drehte den Hahn zu und richtete mich auf. Ein nur allzu bekanntes Schwindelgefühl jagte durch meinen Körper, und ich klammerte mich am Waschbecken fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als ich mein Gesicht im Spiegel anstarrte, war es leer. Da war niemand. Und obwohl ich wusste, dass wir hier drinnen überhaupt keinen Spiegel hatten, brauchte ich gerade lange genug für diese Erkenntnis, um denken zu können: Genau so ist es!"
Der Therapeut spiegelt eine Leere
In diesem Abschnitt liegt eine feine Raffinesse, denn der Therapeut spiegelt hier die vermeintliche Leere seiner Patientin. Agathe ist jedoch im Gegensatz zu den anderen Patienten in den Sitzungen leidenschaftlich und heftig. Sie reißt den alten Mann aus seiner Lethargie und reanimiert sein Interesse an der therapeutischen Arbeit. Er ist aber auch verbotenerweise von ihr fasziniert und angezogen. Voller Scham verfolgt er sie bis zu ihrer Wohnung, sieht ihr zu, wie sie mit Freundinnen im Café sitzt, beobachtet durch das Fenster ihrer Wohnung ihren "fischäugigen" Ehemann.
Nach dem Besuch bei einem Sterbenden wird seine Angst vor dem Leben, das ihm noch bleibt, unerträglich. Der Todkranke gibt ihm den Rat, sich selbst nach seiner größten Sehnsucht zu befragen. Dieser Abschnitt gehört nicht zu den stärksten des Romans und hier schrammt der Text haarscharf am Kitsch vorbei. Auch der Abdruck eines Apfelkuchenrezepts gegen Ende fällt aus dem Rahmen des ansonsten so feinziselierten Zusammenspiels von Patientin und Therapeut.
Interessant ist, dass Anne Cathrine Bomanns Roman den üblichen Gang einer Therapie umdreht, dass es eine Patientin ist, die den Therapeuten aus dem Labor ins wirkliche Leben führt und nicht umgekehrt. Inwiefern die Autorin auch ein wenig den Phantasien von Patienten folgt, ihre jeweiligen Therapeuten zu verführen, wissen wir nicht.
Alles in allem ist "Agathe" ein leises, sehr klug gebautes, manchmal auch humorvolles Debüt.
Anne Cathrine Bomann: "Agathe"
aus dem Dänischen von Franziska Hüther
Hanser blau, München. 156 Seiten, 16 Euro.
aus dem Dänischen von Franziska Hüther
Hanser blau, München. 156 Seiten, 16 Euro.