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Annette Pehnt : "Lexikon der Liebe"
Ein diffuses Gefühl präzise beschrieben

Große Emotionen haben es Annette Pehnt angetan: 2013 veröffentlichte sie ein "Lexikon der Angst". Jetzt hat sie sich einer weiteren großen Emotion gewidmet: der Liebe. Auch diesmal hat sie als literarische Form das Lexikon gewählt. Und das aus einem ganz bestimmten Grund, wie sie im Deutschlandfunk erklärt.

Annette Pehnt im Gespräch mit Gisa Funck | 30.01.2018
    Frankfurter Buchmesse 2017: Die Schriftstellerin Annette Pehnt spricht über ihr Buch "Lexikon der Liebe", Piper Verlag
    Für sie habe der Satz „Ich liebe dich“ auch etwas Unheilvolles, sagte Annette Pehnt im Dlf (Deutschlandradio / David Kohlruss)
    Gisa Funck: Lexika gelten ja eigentlich als staubtrockene Nachschlagewerke. Und stehen nicht unbedingt im Ruf, ein Genre für Schmacht- und Liebesgeschichten zu sein. Was hat Sie trotzdem daran gereizt, das große Herzschmerz-Thema Liebe ausgerechnet in Form eines Lexikons zu verhandeln?
    Annette Pehnt: Also ich fand Lexika früher immer richtige Schmöker. Denn wenn man so an das alte Konversationslexikon denkt mit zehn Bänden im Regal, schon mit ein bisschen Staub oben drauf, aber man konnte das ja rausziehen und einfach lesen und stöbern. Und zwar mit dem Zufallsprinzip. Und dann konnte man sich immer von Artikel zu Artikel weiterhangeln und hatte dann das Gefühl, jetzt irgendwann, wenn ich so weitermache, weiß ich alles!
    Und diese Geste hat mir immer sehr gut gefallen, also diese Anmutung, die Anmaßung, man könnte das gesamte Wissen in zehn Bänden haben und sich auch vielleicht sogar anlesen. Und damit spiele ich natürlich so bisschen mit meinem Lexikon hier.
    "Das ist ein größer angelegtes Projekt"
    Funck: Sie haben ja 2013 bereits ein "Lexikon der Angst" veröffentlicht. Und diesmal gibt es nun ein "Lexikon der Liebe", das wiederum gefüllt ist mit zwei bis fünf Seiten langen Kurz- und Kürzest-Geschichten. Warum nach dem "Lexikon der Angst" jetzt ein "Lexikon der Liebe"?
    Pehnt: Also das ist ein größer angelegtes Projekt, und ich habe mir eigentlich vorgenommen, das fortzusetzen und – ja – so die großen Befindlichkeiten und Gefühlszustände der Gegenwart so nach und nach mit diesen kleinen Geschichten zu erschreiben.
    Also es könnte so eine Art vielbändiges Lexikon der Gegenwart dann vielleicht werden. Ich habe auch schon weitere Ideen für andere Lexika, und ich nehme das auch als Formprinzip. Und versuche auch, die einzelnen Bände immer gleich aufzubauen. Also: Dieses zweite "Lexikon der Liebe" ist ganz genauso aufgebaut wie das "Lexikon der Angst". Und das gefällt mir sehr gut, wenn man ein strenges Form-Korsett hat, mit dem man dann arbeiten muss.
    Buchcover: Annette Pehnt: „Lexikon der Liebe“
    Die Autorin Annette Pehnt plant eine Lexikon-Reihe über die großen Gefühlszustände (Buchcover: Piper Verlag, Hintergrundfoto: Gerda Bergs)
    Funck: Das heißt, uns erwarten noch andere Lexika von Ihnen über weitere Gefühlszustände? Welche Lexika schweben Ihnen da vor?
    Pehnt: Ja, genau. Also was ich toll fände - einfach auch vom Titel her, weil es toll klingt - wäre ein "Lexikon der Scham". Das würde ich gerne machen. Oder was ich auch toll fände, aber da ist der Titel nicht so gut, wäre ein "Lexikon der Gerechtigkeit". Dieser Titel ist natürlich zu lang und zu sperrig. Da muss ich noch nach einem anderen Wort suchen. Der Klang ist ja auch wichtig. Und es soll dann auch wieder natürlich kein Lexikon werden, das wirklich das ganze Phänomen abgrast, sondern es handelt sich einfach nur um verschiedene Zustände, die ich gern erkunden würde auf diese Weise.
    Lieber kurze Geschichen als den großen Roman
    Funck: Steht dahinter vielleicht auch die Absicht, dem gerade allgegenwärtigen Roman-Hype ein bisschen entgegenzusteuern? Gerade beim Thema "Liebe" hat man ja schnell den großen Liebesroman im Kopf...

    Pehnt: Also es ist jetzt nicht so, dass ich die Genres nach Standpunkt in der Literaturdebatte wähle. Aber ich komme sowieso von der kleinen Form her, die ich sehr schätze. Und ich finde auch, dass die kleine Form im Moment gerade verschwindet. Es gibt nicht so sehr viele Autoren, die damit arbeiten.
    Doch gerade für große und diffuse Gefühlszustände finde ich die Präzision der kleinen Form eigentlich sehr gut geeignet. Die kann man anlegen wie so einen kleinen Hebel. Und kann immer wieder kleine Stücke herausbrechen und sich die genauer anschauen. Und die große Form, also der Roman, klar, da wird man mitgerissen und gerade bei der Liebe bietet sich das an. Ein großer Bogen, und es ist relativ vorhersehbar. Doch der große Liebesroman ist ja auch ein Schema, das unglaublich oft schon bedient worden ist. Und wie kann man hier noch seine ganz eigene Erzählform finden, das war schon auch eine Frage für mich jetzt bei dem "Lexikon der Liebe".
    Liebesminiaturen von A bis Z
    Funck: Ihr "Lexikon der Liebe" ist jetzt eine Sammlung von kleinen und Kleinst-Liebesgeschichten. Und die sind, wie für's Lexikon üblich, alphabetisch nach Stichworten geordnet. Also, es fängt an mit "A" wie "Ahnung" und "B" wie "Boden", geht dann weiter etwa mit "G" wie "Gast" oder "M" wie "Matsch" – und das zieht sich dann hin bis "W" wie "Wetterwechsel" und schließlich "Z" wie "Zittern".
    Was hatten Sie als Autorin eigentlich als erstes im Kopf? Gab es erst die Liebes-Kurzgeschichten, zu denen Sie dann die Stichworte gesucht haben? Oder hatten Sie zuerst die Stichworte von A bis Z im Kopf, und Sie haben sich dafür dann die Liebesgeschichten ausgedacht?
    Pehnt: Nee, ich hatte erst die Geschichten. Also die Geschichten sind nach und nach entstanden, und dann habe ich mir überlegt, in welcher Reihenfolge ich gerne die Geschichten hätte. Und dementsprechend habe ich dann die Überschriften dafür sozusagen ausgewählt. Und die Regel da war, dass immer ein Wort aus der Geschichte ein Stichwort für das Lexikon sein konnte. Ich wollte eben gerade nicht, dass man nachschlagen kann unter "T" wie "Trennung" oder "E" wie "Eifersucht", sondern, dass es eigentlich zufällige Begriffe sind, die dann zwar schon in die Geschichte hineinführen, aber eben nicht mit einer Logik. Und das hat immer wieder auch für große Irritationen gesorgt – und tut es immer noch.

    Funck: Sind das eigentlich ausgedachte – oder sind das erlebte Geschichten? Darf man das fragen?
    Pehnt: Sie dürfen gerne fragen, aber die Antwort ist so unklar wie immer bei diesen Dingen. Denn sie sind natürlich beides. Also diese Geschichten sind zwar extra für diesen Band gemacht, doch natürlich sind sie auch von meinem biografischen Material durchdrungen, natürlich spielen beim Erzählen auch eigene Erfahrungen mit hinein. Aber ich habe schon versucht, vieles auch wirklich zu erfinden. Doch die Erfindung ist ja auch irgendwie grundiert mit meiner Biografie und meinen Erfahrungen. Es ist alles sehr miteinander verwoben, würde ich sagen.
    Panoptikum ganz unterschiedlicher Spielarten der Liebe
    Funck: Sie kommen in diesem "Lexikon der Liebe" auf ganz unterschiedliche Liebesarten und Liebesformen zu sprechen. Also: Sie erzählen von der Mutterliebe, es geht um die amour fou, es geht um den Seitensprung, es geht um den Internet-Flirt, lesbische Liebe kommt vor, auch innige Freundschaft kommt vor, es kommt das Verhältnis zwischen Pfleger und Patient vor, die alternde Liebe – oder auch die egoistische Besitzgier, würde ich das mal nennen – die sich nur als Liebe tarnt. Es wird in diesem "Lexikon der Liebe" außerdem auch von der Liebe zu Tieren und Gegenständen erzählt, etwa von der Liebe zu einem Stofftier oder zu einem Auto. Also die thematische Spannbreite ist sehr breit und vielfältig, und ich habe mich gefragt: Wollten Sie mit diesem Lexikon tatsächlich so eine literarische Typologie der Liebe entwerfen?
    Pehnt: Ja, das ist ja schon die Möglichkeit, die in dieser Form steckt. Also diese Lexikon-Form ist ja auch eine Herausforderung, die einem sagt: "Na jetzt probier‘ doch mal aus! Was gibt es denn alles? Jetzt lote auch mal dieses Feld aus!" Mit ein bisschen so etwas wie einer Systematik, ohne dass es langweilig oder schematisch sein müsste. Da habe ich schon immer wieder neu angesetzt und überlegt, welche Facetten der Liebe kenne ich denn noch? Was würde mich interessieren? Was kann man noch alles als Liebe verstehen? Nicht nur die Entwürfe, die man sofort vielleicht vor dem Auge hat aufgrund von Filmerfahrungen. Was gibt’s da noch alles zu entdecken? Und dann kommt man eben auf diese ganzen vielen Facetten, und die habe ich dann jeweils versucht, auszuschreiben.
    Wo endet Freundschaft, wo beginnt Liebe?
    Funck: Ich fand das manchmal aber auch so ein bisschen verschwimmend zwischen Freundschaft und Liebe. Also manchmal habe ich mich gefragt: Naja, ist das wirklich schon Liebe - oder ist es nicht vielleicht noch Freundschaft? Oder auch dieser Mann, der sich sehnlich ein Kind wünscht, und dann will er auch ein Kind adoptieren, adoptiert es dann aber doch nicht, weil er denkt, dass ein Kind vielleicht auch mal undankbar sein könnte - da habe ich so gedacht: Naja, das ist ja eigentlich nicht Liebe. Das ist ja eigentlich mehr der Wunsch, geliebt zu werden. Also eigentlich auch sehr egoistisch auch, oder?
    Pehnt: Naja, klar, aber das gehört doch alles auch dazu, finde ich. Es geht hier natürlich nicht immer nur um die gelungene Liebe und auch nicht immer nur um die romantische Zweierliebe in ihrer erfüllten Form. Sondern das läuft oft auch aneinander vorbei. Das hat auch etwas mit Macht zu tun, in jedem Fall. Mit Besitzergreifen und Haben-Wollen. Und auch die Frage, die Sie gestellt haben: Ist das überhaupt schon Liebe oder ist das eher noch Freundschaft? Ich meine, Liebe als Phänomen zu fassen, ist ja wirklich sehr schwer. Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Ist eine Liebe zu meinem Hund genauso wie eine Liebe zu einem Partner oder zu einem Kind? Das finde ich auch interessant, mal zu versuchen, das ein bisschen nebeneinander zu stellen. Dann sieht man dann auch die Unterschiede in diesen vielen Variationen.
    Funck: Eine Liebe, die öfter vorkommt in Ihrem "Lexikon der Liebe", ist die Mutterliebe. Darüber gibt es gleich mehrere Geschichten. Warum hat Sie die so besonders interessiert, die Liebe der Mutter zu ihrem Kind?
    Pehnt: Naja, ich glaube, da sind wir dann doch wieder bei der Biografie. Ich habe drei Töchter, und die werden jetzt langsam erwachsen. Und das ist eine lange Zeit, die ich mit diesen drei Menschen sehr eng verbracht habe. Und es ja auch eine Form der Liebe, die schon ganz schön belastet ist. Was die Mutter mit ihrem Kind anstellt, hat – so sagt uns die Psychoanalyse – dann Folgen bis in die letzten Atemzüge des Kindes. Man kann das auf die Couch legen. Also es gibt einen ungeheuren Erwartungsdruck an die Mutterliebe, die sozusagen als "natürlich" gilt in Anführungsstrichen. Und sich das mal ein bisschen genauer anzuschauen, fand ich gut.
    Besonders heikel und mit Erwartung aufgeladen: die Mutterliebe
    Funck: Beim Stichwort "Mutterliebe" hatte ich auch sofort den Begriff "Mutterkult" im Ohr. Und es gibt ja gerade auch in Deutschland dieses Idealbild der immer liebevollen Mutter, die sich dann quasi für ihre Kinder aufopfert...
    Ein Baby wird gestillt
    Mutterliebe wird immer wieder als die stärkste Form der Liebe Propagiert (picture alliance / dpa / Heiko Wolfraum)
    Pehnt: Genau! Und da habe ich zum Beispiel eine Geschichte in dem Buch. Da ist eine Mutter mit ihrem Neugeborenen im Wochenbett, und die Mutterliebe setzt überhaupt nicht ein! Also das, was wir automatisch für gegeben halten, dass die Mutter verliebt in ihren Säugling ist, passiert da nicht. Und was macht man dann? Das ist ein fremdes Baby, das ihr da in die Arme gelegt wird. Oder das erwachsene Kind geht auf Reisen und kommt völlig verändert zurück. Und die Eltern sind ratlos. Mutter- und Elternliebe ist kein Automatismus. Wie knüpft man da an? Und wie muss man diese Beziehung zum eigenen Kind immer wieder neu definieren eigentlich?
    Funck: Und es gibt ja auch diese Geschichte in Ihrem Lexikon, in der eine Mutter eigentlich zu fürsorglich ist. Sie meint es eigentlich nur gut mit ihrer Tochter, aber sie erstickt die Tochter dann geradezu mit ihrer Fürsorge, so jedenfalls habe ich das gelesen.. Da schlägt eine an sich ja gut gemeinte Liebe also auch ganz schnell in etwas gar nicht mehr so Gutes um, oder?
    Pehnt: Ja. Aber genau das ist ja auch so heikel! Ich meine, welche Sprache wählen wir denn, um denen, die wir lieben, unsere Liebe zu zeigen? Das kann ja so schnell misslingen! Also diese Mutter, die Sie erwähnt haben, die finde ich jetzt eigentlich gar nicht so übergriffig. Die stellt dem Kind abends was Nettes hin, wenn’s nach Hause kommt, und macht das Bett schon mal und so. Und das ist dann schon zu viel. Und so ist Liebe eigentlich auch immer wieder eine Dosierungsfrage. Es kann ganz schnell zu viel sein, aber dann ganz schnell auch zu wenig.
    Ein Liebespaar am Meer.
    Ein Liebespaar am Meer. (imago / Westend61)
    "Ein starkes Bedürfnis nach Festhalten und Haben-Wollen"
    Funck: Haben wir vielleicht auch oft viel zu hohe Erwartungen an die Liebe?

    Pehnt: Tja, bestimmt. Also was ich immer so schwierig finde mit der Liebe, ist, dass so ein starkes Bedürfnis von Festhalten und Haben-Wollen eben auch zu ihr dazugehört. Das merkt man ja auch gerade bei der Liebe zu Kindern. Wenn dann der oder die, die man liebt, gehen wollen. Wie kann man das ertragen? Ich will doch das, was ich liebe, immer ganz nah bei mir haben! Dieses Verschlingen-Wollen eigentlich, das sehe ich als große Gefahr beim intensiven Lieben.
    Funck: Es gibt in Ihrem "Lexikon der Liebe" also durchaus auch die Geschichten des unglücklichen Liebens, des Liebesverlusts, der Trennungen, der Eifersucht, der Enttäuschungen, also letztlich der ganz großen Liebesdramen. Was mir aber aufgefallen ist bei Ihren Geschichten: Sie erzählen das dann oft gar nicht so dramatisch. Und ich hatte den Eindruck, dass hat durchaus Methode bei Ihnen, dass Sie in diesem Lexikon gerade nicht so ein Spektakel und ein Drama aus dem Thema Liebe machen - oder liege ich damit ganz falsch?
    Pehnt: Nee, da liegen Sie ganz richtig! Das war eigentlich sogar meine Hauptarbeit, dass ich versucht habe, diesen Stoff, der ja wirklich total aufgeladen ist, mit so einer möglichst klaren und vielleicht auch kühlen Sprache runterzukochen. Und damit auch zu verhindern, dass ich all’ diese Hülsen benutze, die immer sofort auf der Hand liegen, wenn man über Liebe nachdenkt. Es gibt ja so viele Formulierungen und fast alle Bilder, die wir irgendwie beim Wort "Liebe" im Kopf haben, die sind doch schon so abgenutzt. Und ich dachte, dass ich hier nur dagegensteuern kann, wenn ich das mit einer ganz genauen Sprache mache, die dann aber auch viel gar nicht auserzählt. Das hängt auch wieder mit dieser Lexikon-Form zusammen. Meine Figuren haben ja beispielsweise auch gar keine Namen, die sind also nicht so weit individuell, dass man sie mit einem Namen und einer richtigen Psycho-Biografie ausstatten könnte. Daher weiß man einfach auch ganz viel nicht über die. Und das gefällt mir sehr gut. Dass ich extra viel freilasse um die Figuren herum. Und der Leser kann ja dann fantasieren und kann das ja ausstatten und für sich weiterdenken.
    "Ein bis ins Letzte vorgefertigtes Feld"
    Funck: Wir leben heute in einer säkularen, postmodernen und spätkapitalistischen Gesellschaft. Und die Liebe ist hier eigentlich so eine letzte Sinn-Ressource, die wir noch haben. Und wahrscheinlich wird sie auch deshalb ständig so spektakulär und hochdramatisch inszeniert. Wenn ich da nochmals nachhaken darf: Ging es Ihnen mit diesem Lexikon also auch darum, dieses ständig Hochgetunte beim Thema Liebe mal etwas runterzudimmen?
    Pehnt: Ja. Denn ich glaube, dass die Liebe tatsächlich heute ein bis ins Letzte vorgefertigtes Feld ist. Wir meinen dann immer, das wäre unsere originelle, eigene Liebesgeschichte. Oder die Geschichte im Film wäre jetzt zum allerersten Mal ganz frisch erzählt. Doch dann nimmt man das auseinander und sieht, dass das ein Alphabet der Liebe ist, so wie es in unserer Gesellschaft heutzutage buchstabiert wird. Und dem kann man sich ja kaum entziehen. Dem kann ich mich ja auch nicht entziehen! Oder besser gefragt: Wie kann ich mich dem überhaupt noch entziehen? Vielleicht doch überhaupt nur, indem ich versuche, mit der Sprache in irgendeiner Weise einen eigenen Zugriff zur Liebe zu finden. Und es liegt dann halt an mir als Autorin das zu tun. Etwa mit dieser Knappheit der Beschreibung oder mit diesem Weglassen von dem, was ich eigentlich schon kenne oder auch erwarte, über die Liebe zu hören.
    Funck: Apropos: Sprache. Alle Ihre Protagonisten in diesem Lexikon vermeiden bezeichnenderweise den berühmten Satz: "Ich liebe dich!"
    Pehnt: Ja, das stimmt.
    "Ich kenne das fast als eine Art Aberglauben"
    Funck: Und das Wort "Liebe" kommt in diesen Liebesgeschichten auffälligerweise ebenfalls nicht vor. Nur einem einzigen Protagonisten rutscht das einmal versehentlich raus, aber er nimmt das Wort dann sofort zurück und sagt: "Ach, nee, von Liebe möchte ich gar nicht sprechen, weil dieses Wort schadet nur!" Oder so ähnlich sagt er das. Denn im Wort Liebe klinge immer gleich immer "viel zu viel" mit. Was meint er damit?
    Pehnt: Na, dieses Wort "Liebe", also ich kenne das fast als eine Art Aberglauben, es möglichst nicht zu benutzen. Denn, wenn man es benutzt, beschwört man damit alles herauf, was wir erwarten und erhoffen von der Liebe. Und dann ist das Scheitern ja einfach auch schon gleich mit drin. Das kann man ja gar nicht einhalten. Also lieber das Wort "Liebe" nicht benutzen und sich so kleine Hintertürchen auftun. Und andere, eigene Zugänge finden zur Liebe, die man sich vielleicht mit dem großen Wort eher verstellen würde.
    "Auf der Suche nach der eigenen Sprache der Liebe"
    Funck: Was mir auch aufgefallen ist. Es sind oft Kleinigkeiten, also kleine Gesten, die ganz wichtig sind in Ihren Liebesgeschichten. Sie erzählen zum Beispiel eine Geschichte von einem Paar, da ist der Mann dement, aber er bekommt immer leuchtende Augen, wenn seine Frau das Wort "London" ausspricht, weil sie sich in London kennengelernt haben. Und dieses Wort ist quasi ein Codewort ihrer Liebe.
    Oder Glückssteine spielen ja auch ein-, zweimal eine Rolle, die man jemandem dann vielleicht unters Kissen schiebt oder so. Sind es also eher die Kleinigkeiten, die beim Lieben entscheidend sind?
    Pehnt: Alle meine Figuren in diesem Buch sind eigentlich auf der Suche nach ihrer eigenen Sprache der Liebe. Und da ist es für die manchmal erlösend, wenn das jetzt mal keine Wörter sein müssen, sondern Dinge. Oder eben dieses Wort "London" bei dem alten Paar. Das ist hier fast so eine Art Zauberwort. Der Mann hat schon längst vergessen, welche Geschichte dahintersteht mit dem Kennenlernen. Aber das Wort alleine genügt, um etwas aufzurufen, was vielleicht noch Bestand hat für ihn. Und vielleicht auch Bestand hat, wenn einem sonst die Sprache verloren geht und die Erinnerungen verloren gehen. Denn eigentlich erzählen wir uns ja die Liebe vor allem über unsere Erinnerungen. Wann haben wir uns kennengelernt? Unsere guten Zeiten, weißt du noch? Oder auch: Hör mal, das ist unser Lied!
    Funck: Die Liebe in Ihren Geschichten erweist sich dann teilweise tatsächlich als sehr robust. Selbst Krankheit, Demenz - und selbst Paare, die sich eigentlich gar nicht mehr richtig erkennen oder miteinander sprechen können, selbst die schaffen es aber mitunter, dass sie weiterhin eine liebevolle Verbundenheit füreinander spüren. Also ich denke zum Beispiel an die Geschichte von dem alten Paar, wo die Frau dement ist und immer wieder hinfällt. Das ist ja schon erstaunlich, dass ihr Mann das Dementwerden seiner Partnerin trotzdem aushält und sie trotzdem weiterlieben kann, oder?
    Pehnt: Ja, das ist auch eine meiner Lieblingsgeschichten in dem Lexikon. Und ich gebe zu, dass ich die wahrscheinlich auch so geschrieben habe, wie es für mich erträglich ist. Denn die Vorstellung, dass sich eine Liebe oder eine lebenslange Vertrautheit auflösen könnte im Vergessen von einem der beiden Partner, die finde ich einfach unerträglich. Das ist eine meiner ganz großen Ängste. Und hier in meinen Geschichten habe ich den Menschen, die da ins Vergessen abrutschen, dann doch immer noch erlaubt, dass sie den anderen irgendwie noch erkennen können und auch vom anderen noch gehalten sind. Das ist von mir einfach ein ganz großer Wunsch. Und den konnte ich mir in diesem Lexikon erschreiben. Allerdings weiß ich nicht, ob das wirklich immer so sein muss. Also ich bin mir nicht sicher, ob die Liebe wirklich immer alles aushalten kann. Und ich befürchte sogar, dass Persönlichkeiten sich manchmal auch ganz auflösen können und dass dann nichts von der Liebe übrigbleibt. Aber bei mir in den Geschichten wenigstens nicht.
    Ein Rest von Liebesromantik
    Funck: Da bleiben Sie dann also doch ein bisschen Romantikerin?
    Pehnt: Ja, in diesem Punkt ist bei mir vielleicht ein Rest von Liebesromantik zu finden, ja.
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