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Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens"
Das große Gedächtnis der Scham

Eine Art literarisches #MeToo: In „Erinnerung eines Mädchens“ leuchtet die französische Schriftstellerin Annie Ernaux die Umstände ihrer Entjungferung 1958 in schonungsloser Offenheit aus. Ernaux erforscht nicht nur die sexuelle Scham, die das Erlebnis flankiert, sondern findet eigene Wege, damit umzugehen.

Von Christoph Vormweg | 02.11.2018
    Buchcover: Annie Ernaux: „Erinnerung eines Mädchens“
    Annie Ernaux arbeitet sich in "Erinnerung eines Mädchens" an den Geschlechterrollen der 50er-Jahre ab - eine Art literarischer Beitrag zu #MeToo (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: imago / Sophie Bassouls Leemage)
    18 Jahre lang ist Annie, die grundanständige "Tochter der Krämerin", von ihrer Mutter und den Nonnen ihrer Schule kontrolliert worden. Dann nimmt sie 1958 während der Sommerferien eine Stelle als Kinderbetreuerin in einer nordfranzösischen Ferienkolonie an. Nach drei Tagen wird die sexuell vollkommen Unerfahrene auf der ersten Party zum Spielball der Gelüste des 22-jährigen Chefbetreuers. Gleich im ersten Absatz fokussiert Annie Ernaux das Psychodrama aus einer verallgemeinernden Perspektive:
    "Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinanderzuschlagen, eine Zigarette anzuzünden. Die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Sie können nicht mithalten mit dem Willen des Anderen. Er ist ihnen immer ein Stück voraus."
    Hier ist er wieder: der Ton von Annie Ernaux' "unpersönlicher" und doch so aufwühlender Autobiografie "Die Jahre". Auch in "Erinnerung eines Mädchens" macht sie eines sofort deutlich: Was ihr als 18-Jähriger in der Ferienkolonie widerfahren ist, haben zahllose andere heranwachsende Frauen genauso erlebt. Denn die 1950er Jahre waren so: dominante Männer, gehorchende Frauen. Selbst das Intimste ist von den Rollenmustern geprägt, die in Familie, Kino oder Literatur vorgegeben werden. Zur sozialen Scham des Provinzmädchens aus einfachen Verhältnissen kommt die sexuelle Scham.
    Das Ringen um die literarische Form
    Das "große Gedächtnis der Scham", schreibt Annie Ernaux, sei "erbarmungsloser als jedes andere". Deshalb beugt sie sich noch im Alter von 73 Jahren über ihre – so der Buchtitel - "Erinnerung eines Mädchens". 55 Jahre lang hat sie versucht, die 18-Jährige in sich zu vergessen. Doch die Erlebnisse des Sommers 1958 lassen sich nicht verdrängen. Zur Verstörungskraft der sexuellen Thematik kommt das kompromisslose und deshalb faszinierende Ringen der Schriftstellerin um die passende literarische Form. Immer wieder bietet Annie Ernaux Einblicke in das "Making of" ihres Buches:
    "Soll ich […] das Mädchen von 58 und die Frau von 2014 zu einem ,Ich' verschmelzen? Oder, was mir – rein subjektiv – zwar nicht am stimmigsten, dafür aber am aufregendsten erscheint, beide voneinander trennen, sie in ein ,sie' und ein ,ich' aufspalten, um bei der Darstellung von Ereignissen und Handlungen bis zum Äußersten gehen zu können? Und das aufs Grausamste, so wie die Menschen, die man hinter einer Tür über einen selbst reden hört, die ,sie' oder ,er' sagen, und in diesem Moment meint man zu sterben."
    Wie eine Forscherin umkreist Annie Ernaux "das Mädchen von 58", diese "Fremde, die mir ihre Erinnerung hinterlassen hat". Sie recherchiert mehr als ein halbes Jahrhundert danach vor Ort in dem Feriencamp, lässt sich von Freundinnen ihre Briefe von damals zuschicken und sucht im Internet nach den Adressen der Beteiligten. Das erzeugt eine unterschwellige Spannung. Denn, so fragt man sich: Sucht sie späte Genugtuung, ja Rache? Psychologisieren und die Umstände soziologisch einordnen: Das ist Annie Ernaux' Weg hin zum Erzählen, hin zum unmittelbaren Schmerz, hin zur Verwirrung des jungen Mädchens. Sie "konstruiere" hier keine Romanfigur, schreibt sie, sondern "dekonstruiere" das Mädchen, das sie gewesen sei. Folgerichtig zersplittert Annie Ernaux' Erinnerungsarbeit in Textblöcke von einer Länge zwischen einer Zeile und drei Seiten. Das erzeugt eine ganz eigene Erzähldynamik: einen steten Wechsel von analytischer Distanzierung und Ganz-nah-Heranzoomen.
    Langzeitfolgen der "wilden Männlichkeit"
    Was in der Ferienkolonie 1958 passiert ist, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Annie Ernaux' Buch "Erinnerung eines Mädchens" ist schonungslos. Es verunsichert, ja, verstört. Und es ist keineswegs ein Buch, das man unter Frauenliteratur rubrizieren sollte. Dafür sind die aufgeblasen dilettantischen Balzspiele der Junghähne zu genau geschildert. Die Langzeitfolgen, die das sogenannte "Gesetz der wilden Männlichkeit" für die junge Annie hat, werden in der zweiten Hälfte beschrieben: die jahrelange, wahnhafte Fixierung auf den Chefbetreuer, schwere psychosomatische Störungen, der Abbruch der Ausbildung, gemeinsame Diebstähle mit einem befreundeten Au-pair-Mädchen in London. Bis zu dem Tag, der alles ändert: als ihre Komplizin von einer Kaufhausdetektivin gestellt wird. Annie bleibt verschont, weil sie sich an diesem Tag unsicher fühlte und nicht zur Tat geschritten ist.
    "Heute erkläre ich dieses Wunder mit meiner besonderen Empfänglichkeit für die Anwesenheit und den Blick anderer. Unmöglich jedoch, nicht davon auszugehen, dass sie von der Gewissheit erfüllt ist, dass ihr Leben komplett gescheitert ist, aber ich weiß nicht, ob sie die Ursache – wie ich es später getan habe – in der Kolonie verortet."
    Gerade das permanent Suchende, das Uneindeutige besticht in Annie Ernaux' Buch "Erinnerung eines Mädchens". Es gibt ihrer von Sonja Finck erneut hervorragend übersetzten Prosa eine Kühle und Beherrschtheit, die stets beklemmend wirkt und trotzdem mitreißt. Aus den Ereignissen in der Ferienkolonie 1958, die sie so lange für sich behalten hat, gibt es für Annie Ernaux letztlich nur die Erkenntnis:
    "...dass nicht zählt, was passiert, sondern das, was man aus dem, was passiert, macht."
    Apropos #MeToo: Wege aus der Scham aufzeigen
    Ungeschehen machen kann diese Erkenntnis natürlich nichts. Aber – und das erscheint beim Ausmaß der heutigen #MeToo-Debatte zentral: Es gibt möglicherweise Wege, mit "der sexuellen Scham", dem Hauptmotiv dieses Buchs, umzugehen. Annie Ernaux jedenfalls fand ihren ganz persönlichen Ausweg: in der Lektüre von Simone de Beauvoir und in einem existentiellen Schreiben, bei dem sie ihr "Ich" immer mit in die Waagschale wirft.
    Ihr Buch ist deshalb auch keine banale Anklage oder Schuldzuweisung, sondern eine höchst komplexe Beschreibung der Umstände, die 1958 zu den Ereignissen in der Ferienkolonie führten, inklusive ihrer eigenen, von der damaligen Mädchenerziehung so vorgesehenen wohlbehüteten Ahnungslosigkeit.
    Zehn Jahre später, nach der Revolte von 1968, betont Annie Ernaux, wäre vieles anders verlaufen, anders bewertet worden. Auch in diesem historisch changierenden Blick und in dem ständigen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erinnerung liegen die großen Stärken ihres aufwühlenden Buches.
    Annie Ernaux: "Erinnerung eines Mädchens"
    aus dem Französischen von Sonja Finck
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 165 Seiten, 20 Euro.