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Anpassungsprobleme bei der Reform der sozialen Sicherungsprobleme

Birke: Droht die Pflegeversicherung selbst zum Pflegefall zu werden? Bei 380 Millionen Euro lag das Defizit im vergangenen Jahr und trotz eines Fünf-Milliarden-Polsters zeichnet sich auf Grund der demografischen Entwicklung ab, dass mittelfristig oder langfristig die Beiträge zu dieser fünften Säule unseres Sozialsystems aufs Dreifach steigen könnten. Wohl vor diesem Hintergrund sprach sich die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, gestern in einem Interview quasi für die Abschaffung der Pflegeversicherung als eigenständiges Element des Sozialsystems aus. In den Informationen am Morgen begrüße ich nun den Sozialexperten Bert Rürup, schönen guten Morgen.

    Rürup: Ja, guten Morgen.

    Birke: Herr Rürup, war denn die Einführung der Pflegeversicherung, wie die Fraktionsvorsitzende der Grünen Göring-Eckardt behauptet, ein politischer Fehler, der jetzt nicht mehr im System, sondern nur durch einen radikalen Systemwechsel korrigiert werden kann?

    Rürup: Lassen Sie mich mal so sagen, dass es eine Pflegeversicherung gibt, ist richtig, und man sollte sie halten. Aber genauso richtig ist, dass die Einführung der Pflegeversicherung in der gegenwärtigen Form als umlagefinanzierte Sozialversicherung im Jahr 1995, als ja eigentlich schon alle Probleme der demografischen Entwicklung bestens bekannt und analysiert waren, doch schon eine ökonomische Fehlentscheidung war. Dennoch ist es wichtig, dass es eine Pflegeversicherung gibt. An diesem Punkt kommen mir ein bisschen Zweifel an der Konsistenz der Argumentation von Frau Göring-Eckardt auf. Sie sagt ja, die Pflegeversicherung sei deswegen so schlecht, da sie eine Erbenschutzversicherung sei. Dann hat sie aber gar nicht so richtig verstanden, was das Wesen einer Versicherung ist Nämlich das Wesen jeder Versicherung ist, dass sie im Schadensfall leistet - und zwar ohne einer Prüfung der Bedürftigkeit. Mit dem gleichen Argument könnte man nämlich auch sagen, die Rentenversicherung ist eine Erbenschutzversicherung. Wenn man das Argument ernst nimmt, dann geht es letztlich nicht um eine Reform der Pflegeversicherung, sondern um eine Abschaffung in der Form, dass man entweder zurückkehrt zur alten Sozialhilferegelung, die wir vor 1995 hatten, oder dass man stattdessen, ein Bundesleistungsgesetz macht. Im ersten Fall hätten die Kommunen die Kosten zu tragen, im zweiten Fall hätte der Bund die Kosten zu tragen, Größenordnung sechzehn Milliarden Euro. Ob das eine sinnvollere Lösung ist, wage ich zu bezweifeln.

    Birke: Herr Rürup, ich möchte dieses Stichwort Erbenschutzversicherung doch noch mal aufgreifen. Das bezieht sich doch darauf, dass es auch viele Nutznießer der Pflegeversicherung gibt, die ja überhaupt keine Ansprüche auf diese Leistungen durch Beiträge erworden haben. Und Sie haben ja gesagt, das wurde dann ja früher durch die Sozialhilfe korrigiert. Ist denn hier nicht das Argument von Frau Göring-Eckardt durchaus berechtigt, dass man bei einer Reform der Pflegeversicherung hier eben auch andere Einkünfte und Vermögen berücksichtigen sollte?

    Rürup: Das hat aber nichts mit der Erbenschutzversicherung zu tun. Was Sie sagen, ist Folgendes: Immer, wenn Sie irgendwo in der Welt ein Umlagesystem einführen, machen Sie der ersten Rentnergeneration ein Geschenk. Das war 1957 so, als wir unser Rentensystem, das Umlagesystem, eingeführt haben, und das war 1990 so, als den Rentnern in den neuen Ländern ein Geschenk gemacht wurde, und es war auch 1995 so. In der Tat, die ersten Begünstigten haben keine Beiträge gezahlt, aber das ist genau das Prinzip einer umlagefinanzierten Versicherung. Wenn man das nicht will, dann darf man kein Umlagesysteme einführen, das hat doch mit der Versicherung nichts zu tun! Man könnte natürlich theoretisch andere Einkünfte einziehen, dann müsste man aber möglicherweise die Idee der Bürgerversicherung auch bei der Pflegeversicherung aufleben lassen, wenn man andere Vermögen reinhaben will. Aber wenn man beim Prinzip der Versicherung bleibt, das heißt, leisten, wenn der Schadensfall eintritt, ohne Bedürftigkeitsprüfung, dann ist das eigentlich irrelevant.

    Birke: Würden Sie denn für eine Bürgerversicherung auch im Bereich der Pflege, vielleicht sogar für eine Kombination Bürgerversicherung für Pflege und Krankheit plädieren?

    Rürup: Nein. Also, ich mache da aus meiner Meinung kein Geheimnis. Ich halte die Bürgerversicherung weder in der Krankenversicherung, noch in der Pflegeversicherung für eine gute Lösung. Richtig ist, die Bürgerversicherung befriedigt ja ein verbreitetes Gleichbehandlungsbedürfnis. Aber das eigentliche Problem, was wir sowohl bei der Krankenversicherung als auch bei der Pflegeversicherung haben, die Koppelung der Gesundheitsausgaben und die Ausgaben der Pflegeversicherung an die Arbeitskosten, wird durch eine Bürgerversicherung ja nicht gelöst, sondern nur ein ganz kleines bisschen gelockert. Konzeptionell ist das meines Erachtens keine Antwort.

    Birke: Könnte man nicht dadurch entkoppeln, indem man auf eine Basisversorgung gehen würde, die womöglich steuerfinanziert würde, und eine private Zusatzversorgung?

    Rürup: Das könnte man so sehen, aber schauen Sie: Unsere Pflegeversicherung - das ist auch vielen Bürgern gar nicht klar - ist ja eine Teilkaskoversicherung. Es wird ja nicht das gesamte Pflegerisiko abgesichert, sondern nur nach Maßgabe bestimmter Höchstbeträge in den verschiedenen Pflegestufen. Darüber hinaus muss ja ohnehin selbst vorgeleistet werden, denn es ist ja eben nicht so, dass das volle Pflegerisiko abgesichert ist. Wir werden die Pflegeversicherung auf jeden Fall reformieren müssen und die von mir geleitete Kommission hat ja auch schon Vorschläge dazu gemacht. Ich weiß gar nicht, worauf man noch warten will, die stehen bereits im Internet. Und dort haben wir in der Tat eine Reihe von Vorschlägen verworfen. Verworfen haben wir die von Frau Göring-Eckardt präferierte Lösung des Bundesregelgesetzes, das heißt der Steuerfinanzierung. Wir haben die Integration in die DKV und eine Privatisierung sowie Umstellung auf Kapitaldeckung verworfen. Wo wir uns für aussprechen, ist eine Modernisierung der gegenwärtigen Pflegeversicherung, indem einerseits die Leistungen modifiziert werden, das heißt, dass bestimmte Anreize abgebaut werden, eben in die stationäre Pflege zu gehen. Und dann wollen wir eine Neuordnung der Finanzierung haben, die auf wesentlich mehr Generationengerechtigkeit abstellt.

    Birke: Wie soll diese Generationengerechtigkeit konkret aussehen, mehr Beiträge dann auch von der Rente?

    Rürup: Das ist in der Tat also unsere Vorstellung. Wir möchten, dass die Rentner einen Solidarbeitrag entrichten. Dieser Solidarbeitrag hat die Eigenschaft, dass die Leistungen der Pflegeversicherung dynamisiert werden. Das ist ja auch ein gegenseitiger Fehler unseres Systems, weil wir keine Leitungsdynamisierung haben. Wenn man da nichts ändern würde, würde sich das System quasi in zwanzig, dreißig Jahren selber abschaffen. Das heißt, durch diesen Solidarbeitrag der Rentner könnten die Leistungen dynamisiert werden und es wäre möglich, den allgemeinen Beitragssatz, der gegenwärtig bei 1,7 liegt, auf 1,2 Prozent zu senken. Wenn der von den Arbeitsgebern abgeführte Beitrag bei 1,7 Prozent bliebe, wäre es möglich, dass die Jungen aus diesen 0,5 Prozent ein Altersvorsorgesparen betreiben können, das es ihnen dann erlauben würde, durch die so erworbenen, Leibrentenansprüche, wenn Sie so wollen, zukünftig steigende Kosten zu finanzieren. Das heißt, wir streben ein mischfinanziertes System an. Wir möchten schon Elemente der Kapitaldeckung einführen, allerdings nicht innerhalb des Systems der Pflegeversicherung, sondern eben auf privaten Pflegevorsorgekonten. Weil nämlich Geld, was in öffentlichen Versicherungen ist, vor Zugriffen der Politiker nicht gesichert ist. Über dieses Vorsorgesparen ist es dann möglich, dass die Jungen die in der Zukunft steigenden Kosten ihrer Pflegeversicherung zahlen können. Und der schöne Effekt unseres Modells ist, dass jede Altengeneration, und zwar für die nächsten vierzig Jahre, immer den gleichen Beitrag zur Pflegeversicherung zahlt. Das ist jedenfalls unser Vorschlag.

    Birke: Herr Rürup, rufen Sie uns doch ganz noch mal ganz schnell in Erinnerung, welchen Beitrag als Solidarität der älteren Generation haben Sie konkret vorgeschlagen?

    Rürup: Zwei Prozent bezogen auf die Rente.

    Birke: Dennoch stellt sich ja die Frage, wenn wir auf die nun umgesetzten Reformvorschläge im Bereich der Gesundheit schauen, wenn wir uns jetzt anschauen, was sich im Bereich der Pflegeversicherung abzeichnet, aber auch ein Blick auf die Arbeitsmarktreform werfen, stellt sich doch generell die Frage, ob wir nicht in fünf bis zehn Jahren eigentlich noch einmal einen radikalen Reformschritt mit Blick auf die demografische Entwicklung vollziehen müssen. Ist das nicht alles Flickschusterei, was Sie jetzt betreiben?

    Rürup: Man kann es natürlich als Flickschusterei sehen, aber schauen Sie, viele der Kritiker der Reform übersehen, dass Deutschland, was die Reform der sozialen Sicherungssysteme angeht, dass wir kein Konstruktionsproblem, sondern ein Anpassungsproblem haben. Es geht meines Erachtens nicht darum, ein perfektes - beispielsweise Rentensystem - in einem sozialpolitischen Terra-Nova-Boot noch gar nicht tief zu konstruieren. Wir haben ein in Jahrzehnten gewachsenes System, wir haben ein verrechtlichtes System. Das hat natürlich auch die gute Eigenschaft, dass dieses System, wie es gewachsen ist, Lebensplanung erlaubt. Deswegen kann man nicht so ohne weiteres aus einem System raus und deswegen ist es wichtig und richtig. Soziale Sicherungssysteme müssen nämlich individuelle Lebensplanung erlauben. Schrittweise diese Systeme zukunftssicher zu machen. Bei der Rentenversicherung können wir das im Übrigen sehr schön zeigen: Es ist ja nicht so, dass die Rentenpolitik dort nichts getan hätte. Die demografischen Probleme kennen wir dort seit vielen Jahren. Wir haben eine große Rentenreform 1992 gemacht, als wir von Bruttoanpassung zu Nettoanpassung übergegangen sind. Durch diese Reform war es möglich, dass der Beitragssatz, der damals auf vierzig Prozent im Jahre 2030 hoch gerechnet worden ist, auf 28 Prozent herunter stabilisiert worden ist. Und was jetzt die von mir geleitete Kommission vorschlägt, wird dazu führen, dass der Beitragssatz unter 22 Prozent bleibt. Da sehen Sie schon, dass also durch die schrittweisen Reformen im Bereich der Rentenversicherung der Beitragssatzanstieg halbiert worden ist. Und genauso wird es in anderen Systemen sein. Es ist einfach falsch zu sagen, die Politik hätte es verschlafen. Man kann immer sagen, man hätte offener alles sagen müssen. Das ist ein Vorwurf, den man der Politik machen sollte oder machen kann: Sie ist nicht offen und ehrlich, wenn es darum geht, die genauen Leistungsrücknahmen zu quantifizieren. Aber zu sagen, die Politik tut nichts oder sie war erfolglos, das würde ich in dieser Form nicht sehen. Und die Rentenversicherung ist meines Erachtens ein schönes Beispiel dafür, welche weite Strecke des Weges man dort gegangen ist. Ich bin mir ziemlich sicher, in der Pflegeversicherung wird man genau diesen Weg gehen.

    Birke: Das war der Sozialexperte Professor Bert Rürup. Ich bedanke mich recht herzlich für dieses Gespräch.