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Anpfiff ohne Azzurri (2/5)
Jeder auf Position in Italiens Familien

Italien hat sich nicht für die Fußball-WM qualifiziert - für viele Italiener ist das eine Tragödie. Verlass ist für sie jetzt nur noch auf das Team Familie. Hier spielt jeder auf seiner angestammten Position - etwa Mütter und Omas, die die Kinderbetreuung übernehmen. Denn Hilfe vom Staat gibt es nicht.

Von Kirstin Hausen | 27.02.2018
    Gennaro Granato, ehrenamtlicher Leiter des Fußballclubs der Pfarrgemeinde von Scampia bei Neapel, wohnt mit seiner Familie in einer Vier-Zimmer-Wohnung. Lebensmittelpunkt ist die Küche. Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, spielt er mit seinem Sohn Gianluca erst mal eine Partie Fußball. In der Küche. Gianluca ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse.
    Lucia ruft die beiden zur Ordnung. Sie ist die Schiedsrichterin im Haus. Es ist schon spät, die Nachbarn könnten sich beschweren. Dann verteilt sie Küsse. Auch Tochter Benedetta, konzentriert auf ihr Videospiel, bekommt welche ab. Lucia hält die Familie zusammen, dirigiert sie wie eine Teamchefin, sie lacht oder schimpft, je nachdem – eben wie eine italienische Mamma.
    "Ich habe immer gearbeitet, bis ich schwanger wurde. Eigentlich wollte ich nach dem Mutterschaftsurlaub wieder in meinen Beruf zurück, aber nach ein paar Monaten habe ich gekündigt und mich entschieden, Hausfrau zu sein. Warum? Ich wollte nicht, dass meine Tochter innerhalb der Familie hin- und hergereicht wird.
    Ein paar Monate habe ich es versucht und sie morgens um sieben Uhr in eine Decke gewickelt und zu meiner Mutter oder Schwiegermutter gebracht. In Italien hast du Anrecht auf Mutterschaftsurlaub, aber nach mindestens einem Jahr musst du wieder arbeiten, sonst wirst du entlassen. Staatliche Hilfe bei der Betreuung gibt es nicht. Von meinen Freundinnen lassen diejenigen, die arbeiten, ihre Kinder von ihren Müttern betreuen."
    Ohne Großeltern fehlt der Mut zum Kinderkriegen
    Die Großeltern – in Italien hüten Millionen von ihnen Tag für Tag die Enkelkinder. Bringen sie zur Schule, holen sie wieder ab, kochen für sie, beaufsichtigen die Schularbeiten. Ein Vollzeitjob ohne Bezahlung. Das funktioniert natürlich nur, wenn die Familien nah beieinander wohnen, so wie es Jahrhunderte lang üblich war. Doch die Mobilität nimmt auch in Italien zu und die Geburtenrate dementsprechend ab. Denn ohne die Familie im Rücken fehlt gerade gut ausgebildeten Frauen der Mut zum Kinderkriegen.
    "Die Politiker sagen, die Italienerinnen bekommen zu wenige Kinder. Das stimmt, aber das hat auch Gründe. Es gibt zu wenig staatliche Kindergärten und die privaten sind teuer. Das Gesundheitswesen funktioniert auch nicht gut, es gibt lange Wartelisten für Untersuchungen, die notwendig sind. Ich liebe Kinder und würde gerne noch viel mehr haben, aber wirtschaftlich können wir uns nicht mehr leisten."
    Gennaro ist stolz auf den Jungen. Ein Blick zu Lucia, die beiden sind seit mehr als zehn Jahren ein eingespieltes Team: "Wir haben geheiratet, als ich 30 und er 28 Jahre alt war", sagt Lucia.
    "Finanzielle Unterstützung nur, wenn Du nichts hast. Gar nichts"
    "Wir waren schon alt", wirft Gennaro ein. In Süditalien wird früher geheiratet als im Norden. Und es werden mehr Kinder geboren. Lucia hebt wütend den Zeigefinger:
    "Damit bin ich nicht einverstanden. Wenn du viele Kinder hast, kannst du ihnen keine ausreichende Bildung bezahlen. Viele Kinder zu bekommen, hier im Süden, das ist eine Katastrophe. Denn finanzielle Unterstützung für die Familien gibt es nur, wenn du nichts hast. Gar nichts. Sobald du eine Arbeit hast, ein Auto, eine Wohnung, hast du kein Anrecht auf finanzielle Zuschüsse. "
    Lucia und Gennaro kommen über die Runden, weil sie zusammenhalten. Gennaro arbeitet als Feuerwehrmann, er macht draußen die Tore, während ihm Lucia zu Hause - gleich einer guten Abwehr - den Rücken freihält.
    "Mein Brutto-Einkommen nicht das schlechteste, aber wenn alle Steuern abgezogen sind, bleibt weniger als bei anderen, die auf dem Papier weniger verdienen, aber Steuern hinterziehen, wo es nur geht."
    Wenn jeder auf Position ist, ist das Team erfolgreich
    Lucia macht Kaffee. Das sieht sie als ihre Aufgabe und die lässt sie sich nicht nehmen. Wenn jeder auf seiner Position spielt, dann ist das Team erfolgreich. Sie nimmt eine kleine silberfarbene Kanne, gibt unten Wasser und oben Kaffeemehl hinein, stellt sie auf den Gasherd. So wird in den italienischen Familien traditionell Kaffee gekocht. Die Kapsel-Automaten sind ein relativ neuer Trend. Sie sind praktisch, schnell – und teuer. Lucia schüttelt amüsiert den Kopf. Spieler, die sich bewähren, tauscht man nicht aus. Auch nicht im Haushalt.

    Der Kaffee kocht hoch. Lucia nimmt die ersten Tropfen ab und verschlägt sie mit fein gemahlenem Zucker. So entsteht die berühmte "Cremina", die hellbraune Kaffeecreme, die jeden italienischen Espresso ziert. Gennaro nimmt zwei Porzellantässchen vom Wandregal, Löffel, Zucker, ein Tablett. Teamarbeit. Wie im Fußball so im Leben.
    Eine Bialetti Espressokanne wird mit Kaffeepulver gefüllt.
    So wird in den italienischen Familien traditionell Kaffee gekocht (imago/Kraehn)