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Anschlag in Manchester
"Einer ist wieder durchgeschlüpft"

Der Anschlag in Manchester trifft das Vereinigte Königreich sehr, sagte Thomas Kielinger, Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", im DLF. Denn die Beobachtung des terroristischen Untergrundes durch die britischen Erkennungsbehörden sei eigentlich sehr erfolgreich.

Thomas Kielinger im Gespräch mit Ute Meyer | 23.05.2017
    Blumen liegen nahe der Manchester Arena, wo einen Tag zuvor ein Anschlag stattgefunden hat
    Der Attentäter in Manchester habe mit absolut infernalischer Sicherheit zugeschlagen, sagte Welt-Korrespondent Thomas Kielinger im DLF. (imago)
    Ute Meyer: Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit Thomas Kielinger. Er arbeitet als Korrespondent für die Tageszeitung "Die Welt" und lebt seit 1998 in London. Schönen guten Tag, Herr Kielinger.
    Thomas Kielinger: Guten Tag, Frau Meyer.
    Meyer: Herr Kielinger, wie schwer ist das Vereinigte Königreich heute nach diesem Anschlag getroffen?
    Kielinger: Es ist erschüttert - sehr tief. Besonders, da die letzten Nachrichten in den vergangenen Monaten sehr positiv waren. Das heißt, den Sicherheitsbehörden ist es hier gelungen, mehrere Anschläge im Vorfeld zu vereiteln. Die britischen Erkennungsbehörden haben ja einen viel tieferen Zugriff auch in private Daten, als wir uns das in Deutschland vorstellen können, und man ist ganz dafür, dass das möglich ist, denn man weiß, die Verhinderungen sind erfolgreich gewesen.
    Und umso erschütterter ist man jetzt deshalb, dass dann doch dieser Anschlag durchs Netz ging, wo die Beobachtung des terroristischen Untergrundes hier eigentlich total ist und auch sehr erfolgreich war. Einer ist wieder durchgeschlüpft, und zwar zu einem Moment, wo die Sicherheitsmaßnahmen an so einem Ort einer solchen Halle die geringsten waren. Es war nämlich am Ende des Konzertes, wenn die Menschen rausgelassen werden. Dann wird ja nicht mehr kontrolliert an den Türen. Die Massen müssen raus auf die Straße und ganz genau in dem Moment hat der Täter zugeschlagen, mit absolut infernalischer Sicherheit, dass er hier sein Maximum an Wirkung erzielen würde.
    "Ein Anschlag kann jederzeit beginnen"
    Meyer: Es war wohl ein Selbstmordattentäter und es gibt Meldungen, wonach den Behörden die Identität des Mannes bekannt sei. Wissen Sie schon mehr über diesen Mann?
    Kielinger: Nein, das weiß noch niemand. Theresa May hat das zugegeben, ganz überraschend, dass die Identität bekannt sei. Ich bin überrascht, weil jetzt natürlich alles sich auf die Suche begibt, während die Polizei hier absolut für Tage stillhalten wird, um ihre Ermittlungen machen zu können. Es ist ein großes "Glück", dass man diesen Täter so früh ermittelt hat, denn die Verzweigungen einer solchen Tat im Untergrund - ist dort ein Netzwerk von Mittätern zu befürchten - sind natürlich ganz wichtig und werden uns bald auf die Spur weiterer terroristischer Möglichkeiten führen.
    Denn wir haben ja weiter ein Bedrohungs-Level von "severe", das heißt von "ernst". Das heißt, ein Anschlag kann jederzeit beginnen. Aber ich glaube, die Behörden werden den Namen lange Zeit nicht bekannt geben, auch um keine Wut- und Putschgefühle hier in der Bevölkerung zu erzeugen, wo jetzt natürlich die Gefahr besteht, dass man sich auf muslimische Mitbürger stürzt als die Anstifter solcher Taten. Man muss sehr vorsichtig sein, damit die Unruhe in der Gesellschaft nicht noch weiter wächst.
    Meyer: Ein Bekennerschreiben hat es ja auch noch nicht gegeben. Der Islamische Staat hat die Tat bereits im Internet gefeiert, wobei er sich ja auch auf viele Ereignisse draufsetzt. Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handelt?
    Kielinger: Sehr hoch. Sehr hoch. Wir wissen ja international, dass das Territorium des ISIS im Nahen Osten immer weiter schrumpft. Der Kampf gegen ISIS macht Fortschritte. Und es bleibt den Trittbrettfahrern des Terrorismus ja nichts anderes übrig, als jetzt weiche Ziele zu finden, von denen es unendliche gibt in der Öffentlichkeit des Westens. Wir können nicht alle Orte total abschotten. Wir können nur aufpassen, dass wir im Vorfeld mögliche Tätigkeiten der Täter früh erkennen.
    Aber ISIS ist in einer verzweifelten Lage. Sie sind Verlierer, wie der Donald Trump sehr richtig in Jerusalem heute gesagt hat. Das sind Verlierer und diese Verlierer verlieren Kapitel ihres Lebens und so muss man damit rechnen, dass sie weitere verzweifelte Versuche unternehmen werden, den Westen und seine Freiheit, seine Offenheit zu unterminieren.
    "Gefahr besteht, dass neue Spannungen entstehen"
    Meyer: Ist es ein Zufall, dass die Tat gerade in Manchester passiert ist?
    Kielinger: Ein Zufall nicht ganz. Manchester hat einen hohen Anteil an zugewanderter muslimischer Bevölkerung aus zum Beispiel einem solchen ehemaligen Empire-Staat, heute Commonwealth, wie Pakistan. Aber davon gibt es viele Städte in England, wo es sein könnte. Manchester ist insofern geradezu ausgewählt, weil hier diese Arena überhaupt die zweitgrößte in ganz Europa ist. 21.000 Menschen können dort rein zu Konzerten und wenn man sich ein solches "soft target", ein weiches Ziel aussucht, dann natürlich einen solchen Ort, eine solche Arena.
    Denn wie gesagt: Die ist riesig. Und im Moment, wo die Menschen rauskommen, nicht beim Reingehen, da war die Kontrolle ja stark, es sind Handtaschen und anderes durchsucht worden, aber wenn sie abfließen nach dem Konzert ist der Moment, wo der Täter unweigerlich sicher zuschlagen kann.
    Meyer: Großbritannien - Sie haben das eben auch schon angedeutet - ist ein traditionelles Einwanderungsland und aus deutscher Sicht hat man immer den Eindruck, dass mit der Vielfalt der Kulturen dort viel selbstverständlicher umgegangen wird als bei uns. Wie sehr ist das Verhältnis zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen durch derartige Anschläge belastet?
    Kielinger: Es ist natürlich belastet, denn diese Vorfälle sind alle fast hundertprozentig zurückzuführen auf islamistischen Hintergrund, und das bedroht immer wieder die friedliche Koexistenz zwischen den verschiedenen Ethnien hier in Großbritannien. Auch diesmal wieder, das ist die größte Sorge der Behörden, dass hier neue Spannungen entstehen und Stigmatisierungen der in der Mitte des Landes lebenden muslimisch orientierten britischen Bevölkerung.
    Das sind alles keine Ausländer, die haben alle britische Pässe, das sind Briten. Und die Gefahr besteht, dass hier neue Spannungen entstehen und das friedliche Zusammenleben dadurch beschwert wird. Das wird sich in der nächsten Zeit herausstellen. Das ist eines der wichtigsten Ziele der zivilen Behörden, hier für weitere friedliche Zusammenarbeit zu sorgen.
    Anschlag hat Auswirkungen auf den Wahlkampf
    Meyer: Premierministerin Theresa May ist gerade vor die Presse getreten, hat den Anschlag noch mal als feige verurteilt und hat für den Nachmittag eine weitere Krisensitzung ihres Kabinetts mit Sicherheitsberatern angekündigt. Was passiert jetzt?
    Kielinger: Ja, sie will heute noch nach Manchester fahren und dort mit den örtlichen Ermittlungsbehörden und der Polizei reden. Fast interessanter ist die Frage, was jetzt passiert. Da kann man davon ausgehen, dass die Sicherheitsbehörden zwei und zwei addieren und zu Erkenntnissen kommen, von denen wir heute noch gar nicht wissen, aber von denen sehr viel mehr schon vorhanden sind, als wir glauben.
    Nein, das Interessanteste, was jetzt passieren wird, ist im politischen Umfeld. Der Wahlkampf ist hier suspendiert und es sind nur noch zwei Wochen bis zum Wahltermin, etwas über zwei Wochen, am 8. Juni, und dieses Ereignis überschattet natürlich den Schlagabtausch zwischen den Parteien gewaltig und alles hält erst mal drauf.
    Wie will man das normale Geschäft eines Wahlkampfs wieder zum Anfang bringen, ankurbeln, wenn ein solcher Verlust an jugendlichen, verteidigungslosen, schutzlosen Menschen passiert ist? Ich fürchte, das ist schwer vorstellbar im Augenblick, dass der Wahlkampf in alter Form weitergeht. Der Respekt, die Erschütterung in Folge dieser Tat wird lange nachwirken. Schon vor einem Jahr hat der Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox zwei Wochen vor dem Referendum …
    Meyer: Herr Kielinger, vielen Dank für Ihre Einschätzung. Wir müssen leider zum Schluss kommen. Danke schön! Thomas Kielinger, Korrespondent der "Welt" war das und Einwohner von London.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.