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Anschlag von Hanau
Neue Strategien gegen Rechtsextremismus

Der rechtsextremistische Terror stellt Sicherheitsbehörden vor ein massives Problem. Laut BKA seien 50 Prozent der Täter vorher nicht polizeibekannt. Darauf müssten sich die Sicherheitsbehörden einstellen - und mehr Befugnisse zur Gefahrenabwehr erhalten, fordern Landespolitiker.

Von Ludger Fittkau, Marcus Pindur und Gudula Geuther | 20.02.2020
Menschen in Hanau zünden Kerzen an und legen Blumen nieder.
Menschen in Hanau trauern um die Opfer des Anschlags. (AFP / Odd ANDERSEN)
"Meine Damen und Herren. Ein rechtsextremistischer Anschlag auf einen führenden Repräsentanten des Staates ist ein Alarmsignal und richtet sich gegen uns alle." Bundesinnenminister Horst Seehofer nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019. Inzwischen ist weitgehend klar: Der des Mordes am CDU-Politiker Lübcke verdächtige Stephan E. hat ein langes Vorstrafenregister, das von rassistischer Gesinnung zeugt; er war in der Vergangenheit Mitglied mehrerer rechtsextremer und Neonazi-Gruppierungen. Er hat erklärt, Lübckes Eintreten für eine Flüchtlingsunterkunft habe ihn empört. Die Anklage gegen Stephan E. wird Anfang März erwartet.
Rechtsterrorismus in Deutschland kein Fremdwort mehr
Anzahl der Fälle von rechtsextremistischer bzw. rassistischer Gewalt in Deutschland seit 1971
Knapp zwei Monate nach dem Mord an Walter Lübcke tritt Ende Juli 2019 der Frankfurter Oberstaatsanwalt Alexander Badle vor die Presse, diesmal geht es um einen anderen Fall: "Im Zuge der im Anschluss durchgeführten Durchsuchung der Wohnung des mutmaßlichen Schützen konnten wir insgesamt drei Waffen sicherstellen. Eine halbautomatische Pistole, zwei Langwaffen."
Alexander Badle berichtet über einen Mordanschlag auf einen Flüchtling aus Eritrea in der hessischen Kleinstadt Wächtersbach. Das Opfer, der 26 Jahre alte Hilal M., muss notoperiert werden. Der Täter rühmt sich der Tat in seiner Stammkneipe und erschießt sich kurz darauf selbst. Die Ermittler sprechen von einem "fremdenfeindlichen Einzeltäter".
Der Mord an Walter Lübcke in Kassel, der Mordanschlag auf einen eritreischen Flüchtling in Wächtersbach – und nun, aktuell, die Morde von Hanau durch einen 43-jährigen Sportschützen, dessen Motivlage höchstwahrscheinlich als rechtsextrem-verblendet bezeichnet werden kann.
Rechtsterrorismus ist in Deutschland kein Fremdwort mehr. Gibt es Schwerpunkte und hat Hessen ein besonderes Problem mit einer rechtsextremen Szene, die zu politischer Gewalt bis hin zum Mord bereit ist?
Und beeinflusst diese Szene möglicherweise auch Männer wie den Täter von Hanau, zumindest indirekt?
Terroranschlag von Hanau - "Rechte Täter sehen sich als Vollstrecker"
Den Terroranschlag von Hanau sieht die Linken-Politikerin Martina Renner als Folge rechtsextremer Propaganda. Die AfD gehöre zur "obersten Spitze" derer, die Personen, Orte und Gruppen verbal zu Feinden erklärten. Renner forderte, rechter Hetze konsequent zu widersprechen, nicht erst, wenn es zu spät sei.
Häufung von Anschlägen in Nordhessen
Malte Lantzsch ist Sozialpädagoge und gehört zum staatlich geförderten "Mobilen Beratungsteam gegen Rechtextremismus und Rassismus" in Kassel. Zahlenmäßig ist die rechtsextreme Szene in Nord-Hessen nicht größer als anderswo. Aber es gebe eine Häufung von Anschlägen von rechts in der Region, sagt Lantzsch nach dem Lübcke-Mord zum Deutschlandfunk: "Der Mord an Halit Yozgat hat hier stattgefunden. Jetzt ein zweiter Mord, der in ähnlicher Weise vollzogen worden ist." Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 ermordet - von Mitgliedern des so genannten "Nationalsozialistischen Untergrunds", kurz NSU.
"Da heißt es natürlich, genauer hingucken. Und zu gucken, wie kommt das, dass es hier in Kassel zweimal zu solchen Morden gekommen ist? Wie ist hier die rechte Szene aufgestellt? Und wirklich: Rechte Zusammenhänge, rechtsextreme Netzwerke müssen ausermittelt werden und von den Behörden strafrechtlich dementsprechend verfolgt werden."
Nicht nur der Kasseler Sozialpädagoge zieht die Linie von Hessen bis in die nationalistische Dortmunder Szene und zu anderen rechten Netzwerken. Im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags vom Juli 2018 wird festgehalten: Das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz hatte Informationen, dass in der nordhessischen Neonazi-Szene Kontakte zu Gruppen bestanden, die bereits – Zitat: "im Rahmen des NSU-Komplexes thematisiert worden" waren - etwa die Organisationen "Blood & Honour" oder der Ku-Klux-Klan. Auch andere Kenner der Szene sehen seit Jahrzehnten gewachsene rechtsextreme Strukturen im Dreiländereck Thüringen, Niedersachsen, Hessen – mit Kassel als einem Kern.
Versuchter Mord in Südhessen im Juli
Nun liegt Hanau, der Ort des Anschlags dieser Woche, in Südhessen, am Ostrand des Rhein-Main-Gebiets. Etwas weiter nordöstlich liegt die Kleinstadt Wächtersbach.
Ende Juli vergangenen Jahres wurde dort auf offener Straße der 26 Jahre alte Eritreer Bilal M. aus einem Auto heraus niedergeschossen. Den Kugelhagel überlebte er nur knapp. Die Ermittler gingen von einem rassistisch motivierten, frustrierten Einzeltäter aus, der sich anschließend das Leben genommen hat. Doch der Wächtersbacher Bürgermeister Andreas Weiher sagte damals im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, er befürchte, dass es in der Region und im Internet Milieus gebe, in denen sich rassistischer Hass frei entfalten könne: "Es gibt möglicherweise viele Menschen, die diese Gedanken mittragen, warum auch immer und wie auch vernetzt, motivieren, Ähnliches zu tun", so der Wächtersbacher Bürgermeister unmittelbar nach dem versuchten Mord in seiner Stadt. Die Stadt Wächtersbach gehört zum Main-Kinzig-Kreis, dem flächenmäßig größten Landkreis in Südhessen. In den an die Region Fulda angrenzenden östlichen Gebieten des Landkreises erzielte die AfD zuletzt ihre höchsten Wahlergebnisse landesweit.
Verzicht auf Kandidatur wegen Psychoterror
Über das Klima in der Gegend berichtet Erich Pipa. Der Sozialdemokrat war hier zwölf Jahre lang – von 2005 bis 2017 – Landrat. Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der jüngsten Flüchtlingsbewegung Richtung Deutschland, hatte Erich Pipa öffentlich für eine Willkommenskultur mit dem Satz geworben: "Das Boot ist nicht voll." Sofort danach begannen die Morddrohungen, die jahrelang nicht mehr abreißen sollten.
Eine Form von Psychoterror gegen den Politiker und dessen Familie. 2016 begründete Pipa im Hessischen Rundfunk seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur im Main-Kinzig-Kreis: "Das war für mich auch ein Grund, jetzt zu sagen: Gut, ich höre auf. Und ich erinnere an die Aussagen von Bundesjustizminister Maas, der richtigerweise gesagt hat: Wenn ein Minister bedroht wird, dann kommt der Staat mit seinen Staatsorganen. Die Minister werden bei Veranstaltungen geschützt. Aber nicht beim Bürgermeister, nicht beim Landrat, nicht bei den Journalisten, nicht bei den Ehrenamtlichen." Die Ermittler konnten noch herausfinden, dass einzelne Schreiben mit Morddrohungen im östlichen Teil des Main-Kinzig-Kreises in die Briefkästen geworfen worden waren. Die Täter wurden nicht gefasst, die Verfahren wurden eingestellt.
 
Hanau - Rassismus, nicht Fremdenfeindlichkeit
Das rechte Auge des Staates ist nicht länger vollkommen blind, kommentiert Ann-Kathrin Büüsker. Das machten die deutlichen Worte der Kanzlerin klar ebenso wie der Generalbundesanwalt, der Rassismus klar als Tatmotiv benannte. Es gelte, daraus politische Konsequenzen zu ziehen.

Kritik am medialen Umgang mit Mord an Lübcke
Wie sich das politische Klima nicht nur in Hessen verschärft hat, zeigte auch der mediale Umgang mit dem Fall Lübcke in Kassel. Die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach, deren einstiger Wahlkreis in Hessen lag, hatte sich Anfang 2019 mit Kurznachrichten an der Polemik gegen den Kasseler Regierungspräsidenten beteiligt – der später Ermordete hatte 2015 die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin gegen Kritik verteidigt. Der Tweet Steinbachs provozierte weitere Hasskommentare gegen Lübcke aus der rechtsextremen Szene. Für diese Reaktionen sei sie aber nicht verantwortlich, verteidigte sich Erika Steinbach, die heute der AfD nahesteht. Der ehemalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber aus Wächtersbach sah das anders und kritisierte seine frühere Parteifreundin aufgrund ihrer Social-Media-Aktivitäten scharf – er wies ihr eine Mitschuld am Tod Lübckes zu. Auch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, CDU, warf der AfD in einem FAZ- Interview Mitte August 2019 vor, ein Klima geschaffen zu haben, in dem, Zitat: "Gewalt als Lösung denkbar ist." Robert Lambrou, hessischer Partei- und Fraktionschef der AfD, wies das zurück. Ähnlich wie aktuell im Fall Hanau verwehrte sich die AfD auch nach dem Fall Lübcke gegen das, was sie ‚Instrumentalisierung‘ nennt. In den Worten Lambrous: "Ich war schon fassungslos, was viele Spitzenpolitiker der etablierten Parteien hier nach dem Mord an Dr. Walter Lübcke gemacht haben. Sie haben versucht, der AfD eine Mitschuld zu geben. Und das finde ich nicht in Ordnung. Wir haben hier im hessischen Landtag in der Debatte ‚Trauer um Walter Lübcke‘ darauf hingewiesen, dass man so einen Mord nicht instrumentalisieren sollte. Nun gilt das natürlich für alle Richtungen. Aber wir hier in Hessen gehen mit diesen Dingen anders um. Herr Tauber kommt ja auch aus Hessen. Ich fand das unterste Schublade, was er da gemacht hat. An dem Mord an Dr. Walter Lübcke ist der Täter schuldig. Punkt."
Hessischer Aktionsplan für die Ächtung von Online-Hetze
Doch die Facebook-Aktivitäten der AfD im Main-Kinzig-Kreis sprachen im Spätsommer 2019 eine andere Sprache. Kein Wort des Mitgefühls für den angeschossenen Eritreer aus Wächtersbach, stattdessen Attacken auf "Staatsmedien", weil sie diesen Fall überhaupt thematisierten, auch war von angeblichen Ungereimtheiten im Fall Lübcke die Rede.
Welche Bedeutung solche Posts auf den Social-Media-Seiten der AfD bei der Radikalisierung und möglicherweise auch beim Hineinsteigern in rechtsextreme Verschwörungstheorien haben, ist schwer zu klären.
Dass gegen radikalisierendes Material im Internet vorgegangen werden muss, hat nicht zuletzt auch die Landesregierung in Hessen im vergangenen Jahr mit ihrem Aktionsplan für die Ächtung von Online-Hetze beschlossen. Vor wenigen Wochen, Mitte Januar, wurde eine staatliche Meldestelle von Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) freigeschaltet, wo Bürger Texte oder Fotos einreichen können, die sie Experten zur Prüfung empfehlen möchten.
Halle: Ideologie und Anleitung zum Waffenbau aus dem Netz
Das Internet spielte auch beim Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 eine maßgebliche Rolle. Der mutmaßliche Täter, ein junger Mann, wurde als sozial isoliert beschrieben. Ein Eigenbrötler, der mit seinem Leben nicht zurechtkam. Doch offensichtlich hatte er sich im Internet eine eigene Realität aufgebaut und sich eine fanatische, antisemitische Ideologie zu Eigen gemacht. Aber nicht nur die Ideologie kam aus dem Internet – auch die Anleitung zum Waffenbau bezog er aus dem Netz.
In einem kurzen Video leugnete er erst den Holocaust, dann sprach er vom Feminismus, der der Grund für niedrige Geburtenraten im Westen sei, was wiederum zu Massenimmigration führe. Und dann erklärte er, dass – Zitat - "der Jude" der Grund für all das sei. Eine krude Sammlung von Ideen, die sich an ähnliche Botschaften des norwegischen Massenmörders Breivik und des Attentäters von Christchurch anschließen. Bekennervideo, ein krudes so genanntes Manifest, in dem die Versatzstücke rechtsextremer Ideologie benannt werden, und ein unbändiger Hass – das haben viele, wenn auch nicht alle, dieser Täter gemeinsam.
Einzeltäter stellen großes Problem für Sicherheitsbehörden dar
Vergangene Woche nahmen dann die Sicherheitsbehörden eine Gruppe fest, die im Wesentlichen im Internet kommuniziert. 12 Männer befinden sich in Untersuchungshaft. Die Mitglieder sollen Angriffe auf sechs Moscheen in kleineren Städten geplant haben. Ihre Absicht sei gewesen, bürgerkriegsähnliche Verhältnisse zu provozieren.
Genau wie der Attentäter von Halle gehören sie offensichtlich zu einem Spektrum, das die Verfassungsschutzbehörden "unstrukturiertes Personenpotenzial" nennen. Gemeint sind Neonazis jenseits von Organisationen, Hooligans, Skinheads, Kampfsportler sowie Figuren aus der Rechtsrockszene. Die Gesamtzahl wuchs laut Angaben des Verfassungsschutzes 2019 auf 13 500 Personen.
Die Einzeltäter und nicht in festen Strukturen organisierten Rechtsextremisten stellen ein großes Problem für die Sicherheitsbehörden dar. Nach dem heutigen mutmaßlich rechtsradikalen und rassistischen Anschlag in Hanau sieht nicht nur Sachsens Innenminister Roland Wöller eine neue Herausforderung. Solche Taten zeigten, dass man es zunehmend mit Einzeltätern zu tun habe, die über einen langen Zeitraum unauffällig blieben und sich im Verborgenen radikalisierten, erklärte Wöller heute. Auf diese neue Herausforderung des "Täterprofils mit langer Inkubationszeit" müssten sich die Sicherheitsbehörden einstellen, und dazu gehörten auch hinreichend gesetzliche Befugnisse zur Gefahrenabwehr.
Kundgebung der Neonazi-Partei "Die Rechte" für die verurteilte und inhaftierte Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck am Jahrestag der Nazi-Reichpogromnacht am 9. November in Bielefeld.
Rassistische Gewalt - Rechte Gewalt als Konstante deutscher Geschichte
Rassistisch oder nationalistisch motivierte Gewalt ist als Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte noch kaum erforscht. Aber auch die Geschichte von Solidarität und Gegenwehr der Opfer ist erst lückenhaft dokumentiert. Der "Zeithistorische Arbeitskreis Extreme Rechte" versucht eine Bestandsaufnahme.
Neue Tendenzen wie auch die Erfahrung mit rechtsextremen Gewalttaten in Deutschland haben bei den deutschen Sicherheitsbehörden zu einem Umdenken geführt.
Deutlich gestiegene Zahl von Rechtsextremisten im Jahr 2019
Nachdem die Mordtaten des NSU bekannt geworden waren, schärfte zunächst der Generalbundesanwalt seinen Blick auf den Rechtsextremismus. Manche Staatsschützer in Karlsruhe beklagten anfangs, dass nicht alle Kollegen in den Ländern mitziehen wollten. Inzwischen nehmen aber wohl alle Generalstaatsanwälte die Bedrohung sehr ernst. Peter Frank, der seit 2015 die Bundesanwaltschaft leitet, erklärte den Kampf gegen Rechtsextremismus von Anfang an zu einem Schwerpunkt. Nach dem eigenen Versagen im Umgang mit dem NSU bemühen sich auch Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz um Fehleranalyse – und in gewissem Rahmen um neue Prioritäten. Neue interne Routinen und Kriterien für die Zuordnung von Taten sollten nicht zuletzt den eigenen Blick auf den Rechtsextremismus schärfen, das Ende 2011 eröffnete Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus sollte ähnliche Voraussetzungen im Umgang mit Gefahren schaffen, wie schon zuvor die Instrumente gegen internationalen Terrorismus. Kritikern genügte das von Anfang an nicht. Derweil stieg, vor allem ab 2015, die Zahl fremdenfeindlicher Gewalttaten und der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und die Zahl bekannter gewaltbereiter Rechtsextremisten – bei angenommenem Dunkelfeld.
"Dies stellt uns vor völlig neue Herausforderungen", bekannte Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018. Die eigentliche Zäsur aber bildete der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke – sowie die im Jahr 2019 deutlich gestiegene Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland.
Der Verfassungsschutz in Bund und Ländern schätzt, dass mittlerweile 32.200 Personen diesem Spektrum angehören. Dunkelziffer unbekannt. Das wäre eine Zunahme gegenüber 2018 um sage und schreibe ein Drittel.
Eine Person wird von Polizisten in den Bundesgerichtshof gebracht.
Aufgedeckte Terrorzelle - Neue rechte Bündnisse, neue Gefahren
Die Erkenntnisse über die aufgedeckte Terrorzelle zeigen, dass Rechtsextremisten heute zu Bündnissen in der Lage sind, die früher noch undenkbar waren, kommentiert Gudula Geuther im Dlf. Das schaffe neue Gefahren – doch die Wachsamkeit der Behörden habe sich auch deutlich erhöht.
Ein wesentlicher Grund für die Zunahme sei, dass der Verfassungsschutz erstmals die Mitglieder der AfD-Vereinigungen "Der Flügel" und "Junge Alternative" dem rechtsextremen Spektrum zurechne, hieß es in Sicherheitskreisen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte im Januar 2019 die beiden AfD-Teilorganisationen zu rechtsextremen "Verdachtsfällen" erklärt. Der neue Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, setzte neue Prioritäten. Schon bei seinem ersten öffentlichen Auftritt kurz nach seiner Ernennung benannte Haldenwang als allererstes die Gefahren des gewaltbereiten Rechtsextremismus.
Neue Strategien der Ermittlungsbehörden
Nach dem Mord an Walter Lübcke, erst Recht nach dem Anschlag von Halle, entwickelten BKA und BfV dann gemeinsam neue Strategien. Schon zuvor hatte der Verfassungsschutz neue Stellen für den "Phänomenbereich rechts" zugesagt bekommen, es folgten 300 weitere und ebenso viele für die polizeilichen Ermittler in Wiesbaden. Verfassungsschutz-Chef Thomas Haldenwang kündigte im vergangenen Sommer an, bekannte Extremisten besser als bisher im Blick zu behalten – und sich deutlich mehr als bisher im Internet zu bewegen. Mit dem Ziel, "dass wir also maßgebliche Plattformen im Internet intensiver beobachten können, aber auch einzelne Akteure, von denen wir annehmen, dass von denen eine Gefahr ausgeht, wollen wir künftig systematischer beobachten."
Für das Bundeskriminalamt, das auf Verdachtsmomente reagiert, ist der Blick ins Internet jetzt häufiger möglich als zuvor: Die Gesetzgebung gegen Hass und Hetze ermöglicht, was sich BKA-Chef Münch gewünscht hatte, nämlich, "dass die Diensteanbieter verpflichtet werden, strafbares Material, was sie heute schon prüfen und löschen, auch auszuleiten mit den Bestandsdaten, so dass wir eine effektive Strafverfolgung auch draufsetzen können."
Das Bundeskriminalamt soll sich in der täglichen Arbeit breiter aufstellen, das heißt zum Beispiel, dass die Ermittler für den Generalbundesanwalt mehr Strukturermittlungsverfahren führen sollen, also auch unabhängig von konkreten Einzeltaten das Umfeld Verdächtiger aufhellen. In der Wiesbadener Behörde wird an einer Zahl besonders deutlich, wie groß nach wie vor Anspruch und Wirklichkeit auseinander fallen. Ende vergangenen Jahres zählte man 53 rechtsextreme Gefährder, also Menschen, denen vor allem die Landes-Behörden zutrauen, Anschläge zu begehen. Dem stehen 12.700 nach Ansicht des Verfassungsschutzes gewaltbereite Rechtsextremisten gegenüber und 660 islamistische Gefährder. Dass da etwas nicht stimmt, glaubt man auch im BKA.
"Ich gehe davon aus, dass die Zahl steigen wird", bekennt BKA-Chef Münch. Seine Behörde will ein neues Instrument zur Gefährlichkeitseinschätzung entwickeln, ähnlich wie es seit Jahren bei Islamisten eingesetzt wird. Dafür allerdings müssen zuerst Psychologen typische Verhaltensmuster oder Biographie-Elemente herausarbeiten, bis das Analyse-Tool eingesetzt werden kann, werden Jahre vergehen. Bis dahin soll im Rechtsextremismus-Abwehrzentrum konkreter als bisher über einzelne Personen gesprochen werden. Auch die neuen Stellen sind bei weitem noch nicht besetzt. Und wenn das geschehen ist?
"Wir müssen sehen, dass wir wahrscheinlich immer einen blinden Fleck behalten werden, weil wir fast 50 Prozent der Täter im rechten Spektrum haben, die vorher nicht polizeibekannt gewesen sind.", so warnt BKA-Chef Münch vor allzu hohen Erwartungen.