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Anthologie "Nichts als der Mensch"
Leichtfüßig-philosophische Reflexionen

"Was ist der Mensch?" - mit dieser zentralen Frage der Philosophie beschäftigt sich die von Georg Brunold herausgegebene, aufwendig gestaltete Anthologie "Nichts als der Mensch". Brunold hat darin Betrachtungen über das Menschsein aus den letzten 2.500 Jahren gesammelt, darunter einige seltene Perlen.

Von Annette Brüggemann | 20.01.2014
    Georg Brunold:
    "Ich werde gegenwärtig oft gefragt: Gibt’s ein sich durchhaltendes Motiv? Und das ist genannt in dem ersten Beitrag von Sophokles: "Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch". Das, würde ich meinen, ist eine Begleitmelodie. Das Schöne ist ja, dass man sich mit dem Menschen mit diesem Ungeheuersten des Ungeheuren so lang man will beschäftigen kann und nicht zum Pessimismus verdammt wird."
    "Vielgestaltig ist das Ungeheure, und nichts ist ungeheurer als der Mensch", dichtete Sophokles im Jahr 441 vor Christus. "Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier", schrieb Friedrich Nietzsche im Frühjahr 1884. Und zog die Konsequenz, dass die Unbestimmtheit seiner Möglichkeiten, das Menschentier in eine bedrohliche Orientierungslosigkeit bringe. Der ungarische Philosoph Georg Lukács brachte diesen Gedanken Nietzsches Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff "transzendentale Obdachlosigkeit" auf den Punkt.
    800 Seiten mit 300 Texten
    Liebe und Transzendenz. Das Profane und das Heilige. Das Gute und das Böse. Gefühl und Ratio. Körper und Bewusstsein. "Was ist der Mensch?" war für Kant die höchste Frage der Philosophie. Der Mensch beschäftigt die Philosophie seit - wie könnte es anders sein - Menschengedenken. Bis hin zur Hirnforschung und Entschlüsselung des Genoms in unserer Gegenwart.
    Stunden der Stille lassen sich mit dieser außergewöhnlichen und aufwendig gestalteten Anthologie verbringen. Schließlich umfasst das Buch rund 800 Seiten mit 300 Texten aus 2500 Jahren. Es bietet die reizvolle Möglichkeit, durch unterschiedliche Epochen zu streifen, Fundstücke aufzugreifen und Fäden zu spinnen zwischen gestern und heute.
    "So ein Unterfangen ist ein Schatzgräberunternehmen. Und ein Schatzgräberunternehmen macht glücklich, denk ich. Man findet auch, wenn man nicht findet, was man gesucht hat, man findet immer."
    So lässt sich auch Platons Gastmahl aus dem Jahr 383 vor Christus wieder entdecken. In ihm wird Eros - der Schöpfergott des Begehrens - als einer der ersten nach dem Chaos entstandenen Gottheiten in der griechischen Mythologie besungen:
    "Ich sage es vielmehr von allen insgesamt, von Männern und Frauen, dass nämlich unser Geschlecht auf diese Weise glücklich würde, wenn wir zur vollendeten Liebe gelangten und ein jeder, zu seiner ursprünglichen Natur zurückkehrend, den zu ihm gehörenden Liebling gewänne. Und wollen wir den Gott, von dem dies herkommt, besingen, so gebührt es, den Eros zu besingen, der uns jetzt schon so viel Gutes tut, indem er uns zu dem, was uns verwandt ist, führt, und der uns für die Zukunft die größten Hoffnungen erweckt, uns, wenn wir nur den Göttern Ehrfurcht erweisen, durch Zurückversetzung in die ursprüngliche Natur und durch Heilung selig und glücklich zu machen."
    Seltene, schwarze Perlen
    Eingeleitet wird jeder Text von einer kurzen biografischen und inhaltlichen Einordnung. So lassen sich auch noch unbekannte Autoren und Autorinnen entdecken und besser in ihrer Zeit begreifen.
    Ohnehin zeichnet Georg Brunolds Anthologie eine erfrischende "Kanonlosigkeit" aus. Meistens werden nicht die üblich verdächtigen Texte von Epikur und Co. zitiert, sondern die seltenen, schwarzen Perlen im Sortiment hervor gefischt. So diese kostbare Rarität von Charles Baudelaire mit dem schönen Titel "La morale du joujou - Die Moral des Spielzeugs". In seinem kleinen Essay versucht Baudelaire, die Faszination von Kindern zu ergründen, die - zu seinem Amüsement - immer wieder ins Innere des Spielzeugs vordringen wollen:
    "Die meisten Kleinen wollen vor allem die Seele sehen, - die einen nach einiger Zeit des Spielens, die anderen auf der Stelle. Von dem früheren oder späteren Auftreten dieses Verlangens hängt die mehr oder minder große Langlebigkeit des Spielzeugs ab. Ich habe nicht das Herz, diese Manie der Kinder zu tadeln: Sie ist eine erste metaphysische Regung. Sobald dieses Verlangen sich des kindlichen Hirnmarks bemächtigt hat, verleiht es den Fingern und Nägeln eine seltsame Behändigkeit und Stärke. Das Kind dreht und wendet sein Spielzeug, kratzt daran, stößt es gegen die Wände, wirft es auf den Fußboden. Von Zeit zu Zeit lässt es dessen mechanische Bewegungen wieder abschnurren, manchmal im Gegensinne. Das wunderbare Leben steht still."
    Nicht nur solche leichtfüßig-philosophischen Reflexionen bereichern den Folianten „Nichts als der Mensch“. Auch historisch gravierende Momente prägen die Auswahl der Texte - darunter Berichte von Zeitgenossen wie dem Schriftsteller, Journalisten und revolutionären Aktivisten Louis-Marie Prudhomme, der eindrücklich davon erzählt, wie Marie-Antoinette am 16. Oktober 1793 auf dem heutigen Place des la Concorde in Paris zum Schafott geführt wird. Oder Nelson Mandelas starkes Pamphlet "One man, one vote", in dem er 1961 zum Boykott gegen die südafrikanische Regierung aufruft.
    Kein schöngeistiges Kompendium
    Allem übergeordnet ist ein anthropologischer Blick, der sowohl die Opium-Erfahrungen eines Thomas de Quincey aus dem Jahr 1821 als auch Frank Schirrmachers These von der Überalterung der Gesellschaft aus dem Jahr 2004 vereint.
    Und nicht nur die Physikerin Marie Curie kommt zu Wort, sondern auch Bono, der Sänger der Band U2, und der zeitgenössische chinesische Konzeptkünstler Ai Weiwei. Oder aber wir erfahren von den kuriosen Geheimnissen des weiblichen Orgasmus aus evolutionärer Sicht oder wie der amerikanische Schriftsteller Richard Powers als neunter Mensch auf Erden sein Genom entschlüsselt hat.
    Georg Brunolds Anthologie ist kein schöngeistiges Kompendium, es wird von einem aufklärerischen Impuls getragen - begleitet von dokumentarischen Schwarzweiß-Fotos. Und auch wenn Brunold selbst als Journalist über 80 Länder der Welt bereist hat - er hat sich für eine abendländische Perspektive entschieden. Nur ein paar Grußbotschaften aus fernen Ländern haben Einlass gefunden.
    "Das war kein Versuch, die Welt zu kolonisieren. Es war auch keine Übung in Weltentdeckung. Die Entdecker sind die Vorboten der Eroberer. Ich bin auf der Welt unterwegs gewesen. Aber hier jetzt nun hab ich das gemacht, was ich mir zutraute. Und ich hätte gefunden, alles andere hätte ich nicht verantworten können."
    Am Ende steht die Frage nach Gott
    Von der Antike bis in die Gegenwart gleichen die Beobachtungen und Spekulationen aus 2500 Jahren Menschheitsgeschichte - herausgegeben und kommentiert von Georg Brunold - einer Reise zu einem fremden Planeten. "Nichts als der Mensch" macht einem aufs Neue bewusst, wie ungeheuerlich es ist, dass diese Reise noch nicht beendet ist. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Am Schluss steht die Frage nach Gott. Und so endet die Anthologie mit dem polnischen Philosophen Leszek Kolakowski und seiner Frage "Kann Gott, der Schöpfer, glücklich sein?"
    "Kann Gott Emotionen erliegen? Es wird uns zwar gesagt, dass Gott seine Geschöpfe liebt, und Liebe ist, zumindest in der Welt der Menschen, eine Emotion. Mehr noch, Liebe ist eine Quelle des Glücks, wenn sie erwidert wird, die Liebe Gottes wird aber nur von manchen Seiner Untertanen erwidert, durchaus nicht von allen; manche glauben nicht an Seine Existenz, anderen ist Er völlig egal, manche hassen Ihn sogar und beschuldigen Ihn der Gleichgültigkeit angesichts menschlicher Not und Qual. Wenn wir jedoch annehmen, dass Gott nicht gleichgültig ist, dann muss Er als Zeuge menschlichen Leids in einer nicht enden wollenden Trauer leben. Er hat dieses Leid weder verursacht noch gewollt, aber Er ist ratlos angesichts all des Unglücks, das die Natur über die Menschen ausbreitet oder die Menschen sich gegenseitig zufügen. Und wenn wir uns vorstellen, dass alle menschlichen Wesen, alle ohne Ausnahme, von Gott erlöst worden sind und sich des himmlischen Segens erfreuen, weder Mangel leiden noch Schmerz oder Tod, dass Hölle und Fegefeuer nicht mehr in Betrieb sind, dann können wir uns auch denken, dass Glück real ist und alle es in Anspruch nehmen, vergangenes Unglück vergessend. Man kann sich ein solches Sein vorstellen, aber gesehen hat man es nie. Gesehen hat man es nie."
    "Nichts als der Mensch - Betrachtungen und Spekulationen aus 2.500 Jahren", gesammelt, herausgegeben und kommentiert von Georg Brunold.
    Galiani Verlag, Berlin 2013. S/W-Fotos von Daniel Schwartz. 789 Seiten, 85 Euro.