Archiv

Anthony Doerr: "Memory Wall"
Erinnerungen auf Band

Alma leidet an Demenz. Um ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, hört sie sich Kassetten an, auf denen sie Erinnerungen gespeichert hat. Eine davon ist so wertvoll, dass eines Nachts ein Einbrecher in ihrem Haus steht. Anthony Doerrs Erzählung "Memory Wall" fordert auch das Erinnerungsvermögen des Lesers.

Von Martin Grzimek |
    Zehn Audiokassetten liegen auf einem Tisch.
    Tagsüber hört sich Protagonistin Alma Erinnerungs-Kassetten an. (dpa/ picture-alliance / Frank Kleefeldt)
    "Ein halbes Dutzend Ärzte in Kapstadt (erntet) Erinnerungen von wohlhabenden Leuten und speichert sie auf Kassetten, und gelegentlich werden einige davon auf der Straße gehandelt. Alte Menschen in Pflegeheimen, so wird berichtet, benutzen Erinnerungsgeräte wie Drogen und schieben die immer gleichen Kassetten in sie hinein, die Hochzeitsnacht, einen Frühlingsnachmittag, eine Fahrradtour ums Kap. Die kleinen Plastikquadrate sind ganz abgegriffen von den beharrlichen Fingern der Alten."
    Diese futuristische Vision einer Art individueller Erinnerungsbibliothek, die vor allem Demenzkranken helfen soll, ihre Gedächtnislücken zu stopfen, entwirft der 43jährige amerikanische Autor Anthony Doerr in seiner langen Erzählung "Memory Wall". Sie erschien zuerst neben fünf anderen Geschichten 2010 in dem gleichnamigen Sammelband in den USA, der begeisterte Kritiken erhielt, wobei besonders die Titelgeschichte wegen ihrer großen Kunstfertigkeit hervorgehoben wurde.
    Denn Doerr versteht es meisterhaft, eine dem Plot nach triviale Schatzsuche so zu mystifizieren und in die Vieldeutigkeit von Traumelementen einzubetten, dass wir immer nur stückweise und in rätselhaften Andeutungen Satz für Satz und Bild für Bild dem Geschehen folgen können. Bei dem Schatz handelt es sich um ein in den unzugänglichen Bergen Südafrikas vermutetes Fossil einer äußerst seltenen Dinosaurierart, das Sammlern solcher Raritäten viele Millionen Dollar wert ist. Harold Konachek, ein weißer Südafrikaner, der zusammen mit seiner Frau Alma als Immobilienmakler noch zu Zeiten der Apartheid zu Wohlstand gekommen ist, war ein passionierter Sammler von Versteinerungen.
    Herzinfarkt nach Fossilienfund
    Auf einem Ausflug in die Berge entdeckt er dann zufällig das riesige Fossil und gerät darüber so sehr in Aufregung, dass er einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Alma, die Witwe, konnte mit der leidenschaftlichen Jagd ihres Mannes nach urzeitlichen Überresten nie etwas anfangen. Aber natürlich hat sich der Anlass für seinen plötzlichen Tod tief in ihr Gedächtnis eingeprägt, ein Gedächtnis allerdings, das sie seitdem immer mehr in Stich lässt, denn sie leidet an zunehmender Demenz. Noch lebt sie in ihrem Haus über den Hügeln Kapstadts, wird versorgt von ihrem dunkelhäutigen Hausangestellten Pheko, verliert aber immer mehr die Kontrolle über ihr Leben, sodass ihr der baldige Umzug in eines der Seniorenheime der Stadt bevorsteht.
    In den wenigen lichten Momenten, die ihr noch bleiben, schließt sie sich an eine Apparatur an, die sie tagsüber durch Abspielen von Bändern, auf denen ihre Erinnerungen an schöne Zeiten gespeichert sind, in Szenen aus ihrer Vergangenheit zurückversetzt. Nachts aber ist sie bloßen Sinneseindrücken ausgeliefert und verhält sich gutgläubig wie ein Kind, das sogar einen Einbrecher willkommen heißt. Genau an dieser Stelle setzt Anthony Doerrs Erzählung ein.
    "Eines Nachts im November, gegen drei Uhr morgens, wacht Alma auf und hört, wie sich das Sicherheitsgitter vor ihrer Haustür klappernd öffnet und jemand das Haus betritt. Ihre Arme zucken, sie stößt das Glas Wasser auf dem Nachttisch um. Eine Bodendiele im Wohnzimmer quiekt. Sie hört etwas, das Atmen sein könnte. Wasser tropft auf den Boden. Alma gelingt ein Flüstern: (...) 'Wer ist da? Ist da jemand?' Die Standuhr im Wohnzimmer hämmert die Sekunden durch. In Almas Ohren pocht das Blut. Der Raum scheint sich ganz langsam zu drehen. 'Harold?' Alma weiß, dass Harold tot ist, aber sie kann nicht anders. 'Harold?' (...) ... (sie) steht am Tisch im Flur und nimmt einen Stift. Ein Mann, schreibt sie. Großer Mann im Garten."

    Einbrecher will Almas Erinnerungen anzapfen

    Bei dem "Großen Mann im Garten" handelt es sich um Roger Tchoni heraus, einem Schwarzmarkthändler für Fossilien, der die Witwe zusammen mit dem 15jährigen Luvo des nachts besucht. Der Junge gehört zu jenen herumstreunenden Waisenkindern Kapstadts, die von den Entwicklern der Erinnerungsapparatur als Versuchskaninchen benutzt werden. Dank Luvos Fähigkeit, Almas gespeicherte Erinnerungen anzuzapfen, erhofft sich Roger Hinweise auf den Fundort des sagenhaften Fossils. Käme er in dessen Besitz, wäre er ein reicher Mann. Mehr soll an dieser Stelle über den Plot von Anthony Doerrs Erzählung nicht verraten werden, um sie nicht auf ihre recht gradlinig angelegte kriminalistische Logik zu reduzieren.
    Denn neben der Exotik der Spielorte ob in den Townships von Kapstadt, den verstaubten Sälen des South African Naturkundemuseums oder den kargen Felsformationen der Swartberge, die die Hochebene der Karoo durchziehen, ist das Faszinierendste an Doerrs Prosa die Präzision der bisweilen auf bloße Stichwörter reduzierten sprachlichen Darstellungen. Indem er die Geschichte im Widerspiel zu Almas Erinnerungsverlust in vierzig kleine Kapitel aufsplittert, in denen wie zufällig Orte und Personen wechseln, auftauchen und verschwinden, stimuliert er das Gedächtnis des Lesers, zwingt es, aus Andeutungen, Bildsequenzen, Bruchstücken und Satzfetzen eine Gesamtschau herzustellen, eine aus endlos vielen Einzelteilen bestehende Geschichte zu rekonstruieren und für sich selbst zu einem Ganzen neu zusammenzusetzen. Literatur findet in Anthony Doerrs Erzählung "Memory Wall" jenseits des bloßen Konsumierens und Zeitvertreibs zu dem zurück, was ihre eigentliche Bestimmung ist: zum Erlebnis des Sich-Erinnerns.
    Anthony Doerr: "Memory Wall".
    C.H.Beck Verlag, München 2016, 117 Seiten, Euro 14,95.