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Anti-Abtreibungsaktion in Italien
Kreuze als Pranger

Auf Friedhöfen in Italien tauchen immer häufiger Holzkreuze mit Namen auf. Die darauf Genannten leben noch: Es sind Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch hinter sich haben. Begraben wurde ihr Ungeborenes ohne Wissen und Einverständnis der Frauen. Wer hinter der Aktion steckt, ist noch unbekannt.

Von Cristiana Coletti | 16.10.2020
Auf dem Friedhof Flaminio di Prima Porta in Rom stehen provisorische Kreuze mit handgemalten Schildern - darauf die Namen von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen
Auf dem Friedhof Flaminio di Prima Porta in Rom stehen provisorische Kreuze mit handgemalten Schildern - darauf die Namen von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen (imago-images / Stefano Carofei)
42 Jahre nach dem Erlass des "Gesetzes 194", das Schwangerschaftsabbrücke legalisiert, werden auf mehreren Friedhöfen Italiens lebende Frauen als "Tote" präsentiert. Frauen, die an den Folgen ihrer legalen Abtreibung nicht gestorben sind.
"Das ist nicht mein Grab, hier liegt mein ungeborenes Kind". Mit diesem Kommentar postete eine Römerin das Foto eines Grabes mit einem Kreuz auf dem Friedhof Flaminio von Rom. Auf dem Kreuz steht ihr vollständiger Name und ein Datum. Erst sieben Monate nach dem Schwangerschaftsabbruch Anfang 2020 erfährt sie, dass irgendjemand - ohne ihr Wissen und ohne ihre Einwilligung - den Fötus unter ihrem Namen begraben ließ.
"Das war ein unfassbarer Schock"
Auch Francesca, die anonym bleiben möchte, entdeckte vor einigen Tagen "ihr" Grab im Friedhof Flaminio. Sie musste sich einer legalen therapeutischen Abtreibung nach dem 4. Monat unterziehen, weil ihr Kind wegen eines schweren Herzfehlers nicht lebensfähig war.
"Dreimal hatte ich im Krankenhaus nach meinem Fötus gefragt. Niemand hat mich jemals über die Möglichkeit oder sogar die Pflicht zu einem Begräbnis informiert. Als ich mein Grab sah, habe ich zuerst eine große Wut empfunden, weil das Krankenhaus mir dreimal nicht sagen wollte, was mit dem Fötus passiert sei. Es schmerzt mich zutiefst, zu wissen, dass irgendjemand meinen Fötus genommen, drei Monate lang irgendwo gelagert und später ohne mein Wissen und meine Einwilligung unter meinem Namen begraben hat. Und dabei noch die Entscheidung traf, welches religiöse Symbol mir zugeschrieben werden sollte. Das war ein unfassbarer Schock!"
Etwa 120 Frauen, mit denen sich Francesca in Verbindung setzte, teilen dieselbe Erfahrung. Einige haben erst jetzt, 16 Jahre nach der Abtreibung, ihr vermeintliches Grab entdeckt. Keine wusste etwas davon. Wer die Verantwortung trägt, ist unklar. Die Krankenhäuser und das Friedhofsunternehmen schieben sich die Schuld gegenseitig zu.
Wer ist verantwortlich?
Ilaria Boiano ist Anwältin des Vereins "Differenza Donna", der sich für die Rechte von Frauen einsetzt und eine Sammelklage vorbereitet. Sie sieht in diesen Fällen einen klaren Bruch des Datenschutzgesetzes und des "Gesetzes 194" selbst, das den absoluten Schutz der Namen und Daten der Frauen vorschreibt. Die Autorisierungen, die Frauen bei der Abtreibung unterschreiben müssen, liegen nicht vor. Kopien der unterschriebenen Dokumente wurden den Frauen nicht ausgehändigt.
"Die Frauen, die sich an uns wenden, möchten herausfinden, ob sie damals unwissentlich diese Prozeduren autorisiert haben. Einige erinnern sich nicht mehr daran, andere wissen ganz genau, dass sie sich gegen ein Begräbnis ausgesprochen haben. Deswegen möchten wir ihnen zunächst einen Einblick in ihre Dokumente ermöglichen, um festzustellen, ob sie ein Begräbnis des Fötus oder sogar die Veröffentlichung ihres Namens in irgendeiner Weise autorisiert haben."
Medizinischer Grenzfall - Späte Abtreibung oder Totschlag
Eine Ärztin und ein Arzt stehen in Berlin vor Gericht. Sie haben bei einer Zwillingsgeburt ein Kind absichtlich getötet. Bei ihm war eine Hirnschädigung festgestellt worden.
Den gesamten Sachverhalt zu klären sei ziemlich kompliziert, meint Ilaria Boiano. In den verschiedenen Prozeduren zwischen Krankenhaus und Friedhof gibt es einige "nebulöse" Passagen, worüber die Frauen nicht informiert werden. In den Phasen, die einem Schwangerschaftsabbruch folgen, gibt es mehrere Akteure: das Krankenhaus, das Friedhofsunternehmen (und damit die Stadtverwaltung), und oft auch streng katholische Vereine, die mit den anderen Akteuren bestimmte Vereinbarungen abgeschlossen haben. Was in diesen Vereinbarungen steht, ist nicht bekannt. Sie dürfen der Öffentlichkeit nicht weiter vorenthalten bleiben, betont die Anwältin Ilaria Boiano.
Lebensschützer: "Ein Akt christlicher Barmherzigkeit"
Der Präsident des katholischen Vereins "Difendere la vita con Maria" (Das Leben schützen mit Maria) findet die Veröffentlichung der Frauennamen auch verwerflich. Der Priester Don Maurizio Gagliardini setzt sich für ein anonymes und diskretes Begräbnisritual ein - egal wie alt die Föten sind - und erklärt, wie das läuft. Sein Verein hat in 19 von 20 Regionen Italiens entsprechende Vereinbarungen getroffen:
"Die Familie hat nach der Abtreibung 24 Stunden Zeit, um die sterblichen Überreste des Kindes für sich in Anspruch zu nehmen. Das Krankenhaus informiert die Familie, und wenn sie die Überreste lieber dem Krankenhaus hinterlassen möchte, hat das Krankenhaus zwei Optionen: Wenn es keine Vereinbarungen mit Vereinen von Freiwilligen oder NGOs getroffen hat, muss das Krankenhaus den Fötus beseitigen. Wenn aber Vereinbarungen vorhanden sind, dann kann der Fötus von den Freiwilligen-Vereinen begraben werden. Die Familie wird dann vom Krankenhaus informiert. Wenn sie sich nicht dagegen ausspricht, heißt das, dass sie akzeptiert. Aber wir wissen, dass die Familien gerne akzeptieren. Wir kümmern uns darum, nicht um zu denunzieren. Die Toten zu begraben, ist ein Akt christlicher Barmherzigkeit."
Argentinien debattiert über Abtreibungen - Kinder, Kirche, Kopftuch
Seit Monaten wird in Argentinien über ein Gesetz gestritten, das Abtreibungen legalisieren und erleichtern soll. Auch Kirche und Papst haben sich positioniert.
Francesca sagt:
"Es gibt mehrere Vereine, wie ich den Zeitungen entnehme. Ich kenne diese Vereine nicht und möchte mit ihnen nichts zu tun haben. Ich bin wütend eher über die Institutionen, die den Fötus diesen Vereinen übergeben. Außerdem hätte ich als Atheistin eine ganz andere Entscheidung getroffen. Ich hätte meine Tochter, die eine schwere Herzkrankheit hatte, der Wissenschaft zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Oder ich hätte sie einäschern lassen. Meinen Namen da zu sehen ist monströs. Aber es ist noch schrecklicher zu wissen, dass irgendjemand mit meinem Fötus einen Ritus gefeiert hat. Deswegen erwarte ich eine Erklärung, warum niemand nach meiner Autorisierung gefragt hat. Es ist grauenhaft."
"Von den Hebammen wurde ich beleidigt"
Wie Francesca ist auch die Anwältin Ilaria Boiano schockiert von den vielen Geschichten, die ihr Frauen aus ganz Italien berichten. Handelt es sich um einen schlichten "Verwaltungsfehler" seitens der Institutionen?
"Den Vornamen und Nachnamen der Frau auf ein Kreuz auf dem Friedhof zu setzen, wo ihr Fötus liegt, kann kein Versehen und kein Verwaltungsfehler sein. Wir interpretieren das eher als 'Mahnmal' und als Zeichen der Brandmarkung. Die Frau wird gewissermaßen als 'verhinderte Mutter' begraben. Es ist eine starke symbolische Geste, die nicht nur in Rom praktiziert wird. Solche Vorfälle sind Teil einer komplexen Strategie, die wir in ganz Europa beobachten. In allen europäischen Ländern findet derzeit ein heftiger Angriff auf die Entscheidungen der Frauen und auf ihre sexuelle und lebenspendende Gesundheit statt. Frauen, die solche selbstbestimmten Entscheidungen getroffen haben, sollen im Sinne dieser Kampagnen mit einem Zeichen der Schande gebrandmarkt werden."
Laut einer Studie des italienischen Gesundheitsministeriums von 2014 sind circa 70 Prozent des medizinischen Personals in Italien Abtreibungsverweigerer. In der Region Latium betrifft es sogar 80 Prozent des Personals. Francesca empfindet den aktuellen Vorfall als zusätzliche Grausamkeit im Zusammenhang einer Abtreibungserfahrung.
"Das Grab ist der letzte große Schock in einer Geschichte voller Gewalt. Mich entsetzt vor allem die Tatsache, dass Frauen in Italien unter solch unmenschlichen Bedingungen abtreiben müssen. Das habe ich nicht nur von anderen Frauen gehört, ich habe es selbst erlebt. Man hat mich acht Stunden lang allein im Kreißsaal schreien lassen. Ohne Anästhesie, ohne dass jemand kam, um mir zu helfen. Von den Hebammen wurde ich beleidigt und beschimpft. Es war alles gewalttätig und bösartig. Ich sah, wie der Fötus geboren wurde und starb, von einer Krankenschwester weggerissen, in ein Papier eingewickelt und weggebracht wurde. Nicht die geringste Auskunft habe ich jemals darüber bekommen. Ich möchte, dass die Institutionen sich dazu äußern. Es ärgert mich, dass wir von Italien als demokratischem und laizistischem Land sprechen, obwohl wir es gar nicht sind. Den anderen Frauen sage ich: Erzählt, auch anonym, was euch passiert ist, erzählt alles! Habt keine Angst! Kaum jemand weiß, was in den Krankenhäusern passiert. Es ist Zeit, dass das ein Ende findet."