Dienstag, 19. März 2024

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Antisemitische Ausfälle und Angriffe
"Jüdisches Leben und die jüdischen Einrichtungen sind in Gefahr"

Deutschland investiere viel, doch hundertprozentige Sicherheit für alle Menschen jüdischen Glaubens könne nicht gewährleistet werden, sagte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Dlf. Gegen Antisemitismus müsse man mit Aufklärung ankämpfen, doch mit rationalen Argumenten komme man nicht immer weiter.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 15.05.2021
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die nordrhein-westfälische Antisemitismusbeauftragte
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die nordrhein-westfälische Antisemitismusbeauftragte (picture alliance/dpa/Federico Gambarini)
In den vergangenen Tagen gab es in Deutschland wiederholt Proteste mit antisemitischen Parolen im Umfeld von Synagogen. In mehreren Städten wurden israelische Flaggen angezündet. Es sei entsetzlich, dass jüdisches Leben und jüdische Einrichtungen teilweise mit Stacheldraht geschützt werden müssten, sagte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Antisemitismusbeauftrage des Landes NRW, im Deutschlandfunk. Deutschland unternehme viel, um Schutz zu gewährleiten, dennoch könne "nicht rundherum Sicherheit für alle Menschen jüdischen Glaubens und für alle Einrichtungen gewährleistet werden."

Aufklärung schon früh notwendig

Man müsse alles tun, um mit Aufklärung und Bildung gegen Judenhass und Judenfeindlichkeit vorzugehen, es sei aber nicht möglich, dabei nur rational zu argumentieren. Antisemitismus werde aus unterschiedlichen Motivationen und Überzeugungen weiterverbreitet und dabei auch von Verschwörungsmythen verstärkt. Man drüfe dabei auch den islamisch geprägten Antisemitismus in Deutschland nicht unterschätzen. Hier müsse die Arbeit mit in Deutschland aufwachsendenen Schülern mit arabischem oder türkischem Hintergrund früh ansetzen, um zu verhindern, dass sich bei jungen Menschen Judenhass tief festsetze.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:

Jürgen Zurheide: Ja, was macht der Satz mit Ihnen, ich hab’s gerade geschildert, Synagogen müssen in Deutschland wieder geschützt werden, was macht dieser Satz mit Ihnen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, der berührt und betrifft mich immer wieder und lässt mich immer wieder daran zweifeln, ob es wirklich mit all diesen verschiedenen Ansätzen, die wir ja verfolgen in der Politik, in der Zivilgesellschaft, gegen Antisemitismus vorzugehen, ob die wirklich nachhaltig was bringen können. Und die Bilder nach Halle sowieso, jetzt wieder durch die Ausschreitungen in den letzten Tagen und auch die heute angekündigten Demonstrationen, sieht man, jüdisches Leben und die jüdischen Einrichtungen sind in Gefahr, und wir brauchen dort bis hin zu einer Art Stacheldrahtzaun, und das ist entsetzlich.
Zurheide: Ja, wenn man das sich anschaut, und ich hab mit dem ein oder anderen Polizeipräsidenten in den vergangenen Tagen auch telefoniert, die mir dann sagten, na ja, wir haben es ahnen müssen. Da werden dann Demonstrationen natürlich nicht angemeldet, sondern es passieren solche Dinge, und dann kommt man ja zu der Erkenntnis, wir können offenbar nicht alle schützen. Ist diese Erkenntnis richtig oder ist das zu zugespitzt?
Leutheusser-Schnarrenberger: Also es kann sehr viel gemacht werden. Halle hat ja gezeigt, da war die Synagoge nicht geschützt, außer durch ihre Bausubstanz der Eingangspforte. Da kann man natürlich mehr machen, aber letztendlich, jede Einrichtung, jüdische Einrichtung, denn es gibt neben den Synagogen Gedenkstätten, auch Schulen, Kindergärten, können kaum rund um die Uhr absolut immer von der Polizei geschützt werden. Da braucht's technische Vorkehrungen, Baumaßnahmen, das wird vom Staat gerade auch in Nordrhein-Westfalen sehr stark gefördert, unterstützt, aber es kann nicht rundherum Sicherheit für alle Menschen jüdischen Glaubens und für alle Einrichtungen gewährleistet werden.

"Nicht möglich, nur rational dagegen vorzugehen"

Zurheide: Sie haben es ja gerade schon angesprochen, trotz vieler Maßnahmen ist es außerordentlich schwierig, und wir erleben auch in diesen Tagen und Stunden, dass am Ende ja Fanatismus und Hass regieren. Was können wir tun?
Leutheusser-Schnarrenberger: Antisemitismus ist eben Judenhass und Judenfeindlichkeit, die sich aus unterschiedlichen Motivationen und Überzeugungen speist und immer wieder von Verschwörungsmythen auch verstärkt wird, und deshalb ist es leider nicht möglich, nur rational dagegen vorzugehen. Dennoch muss natürlich alles getan werden, um mit Aufklärung, mit Bildung in breitem Umfang gerade auch an Schulen, gerade auch da, wo viele Schülerinnen und Schüler sind, die aus anderen Kulturkreisen, arabischem Hintergrund, türkischem Hintergrund, hier in Deutschland leben, aufwachsen, um hier aufzuklären und zu versuchen, dass sich so ein Judenhass nicht auch bei jungen Menschen tief festsetzt. Aber es ist wirklich mühsam, schwierig und eigentlich eine nicht enden wollende Aufgabe.
Zurheide: Auf der anderen Seite zeigt das offensichtlich ja auch, wie zerrissen unsere Gesellschaft hier in Deutschland ist, denn es sind Menschen, die in Deutschland leben, egal welchen Status sie haben, oft haben sie sogar die deutsche Staatsbürgerschaft, aber die leben natürlich in einer völlig anderen Realität, als Sie das tun und ich möglicherweise. Wie zerrissen ist unsere Gesellschaft?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das sind junge Menschen, die in ihren Familien – aus welcher Region, Nahost, arabischem, anderem Umfeld sie auch kommen – zum Teil ein eben ganz anderes Bild von Israel besteht. Da ist Israel teilweise der Feind überhaupt, das Existenzrecht Israels wird grundlegend negiert, wird abgelehnt – nicht immer, dass das auch begründet wird, aber es ist einfach eine Einstellung, mit der auch junge Menschen auch in Deutschland aufwachsen.
Ein Polizeiwagen steht vor der Synagoge in Gelsenkirchen. Am Vorabend hatte die Polizei einen antisemitischen Demonstrationszug gestoppt, der sich in Richtung des Gebäudes bewegte. Als Folge wurden die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Gebäuden in Nordrhein-Westfalen erhöht.
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Ich erlebe das selbst, wenn ich in Schulen bin oder Initiativen unterstütze, die in Schulen gehen und die dann auch damit konfrontiert werden, dass da mit einem Mal so ein ganz pauschaler Judenhass und Israel-Feindschaft an der Tagesordnung ist. Also bei den jungen Menschen, wo es vielleicht noch nicht so verfestigt ist, denke ich, kann man vielleicht leichter ansetzen, auch argumentativ, um zu versuchen, dass sich so ein Antisemitismus – das Wort kennen die vielleicht gar nicht – nicht festsetzt.
Aber das große Problem ist, wenn gerade in den Familien, die in Deutschland leben und einen solchen Hintergrund haben, der dann wiederum auch, wie zum Beispiel jetzt von Erdogan, ganz gezielt gespeist wird, dass wir da nur sehr schwer rankommen. Und da liegt auch mit, denke ich, eine Verantwortung, da brauchen wir auch muslimische Verbände, die da mäßigend und aufklärerisch wirken, wie es jetzt Gott sei Dank ansatzweise auch in Deutschland in den letzten Tagen zum Ausdruck kam.

Leutheusser-Schnarrenberger: Islamisch geprägter Antisemitismus darf nicht unterschätzt werden

Zurheide: Dann gibt es Vereine, ANSA ist, glaube ich, einer dieser Vereine, die zum Beispiel Geld sammeln oder wo zumindest der Verdacht im Raum steht, dass dort Geld gezielt für die Hamas gesammelt wird. Dauert das zu lange, bis man gegen solche Dinge vorgeht? Ich weiß ja, wen ich das gerade frage.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, ich denke, manchmal dauert es schon zu lange. Da schaut man hin, vielleicht ist es auch nicht immer ganz leicht, alles einzuordnen, aber ich glaube, es darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden, wie stark doch ein so islamisch geprägter Antisemitismus in Deutschland ist und wie stark da auch Einflüsse von außen nach Deutschland in diese Gruppen sind. Cem Özdemir hat das ja in den letzten Tagen sehr dezidiert auch zum Ausdruck gebracht mit Blick auf Erdogan und die Türkei und den Einfluss, der da versucht wird auszuüben, und wo auch diese Verschwörungsmythen ja ganz gezielt gestärkt werden. Das erschwert natürlich sehr hier die Arbeit dagegen, und da, denke ich, muss die Politik grundsätzlich überlegen, wie sie das auch in der Außenpolitik viel stärker zur Sprache bringt.
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Zurheide: Muss die Gesellschaft oder unsere Gesellschaft wieder lernen, zivilisiert zu streiten, denn dass Kritik an Israel berechtigt ist, ich glaube, das müssen wir hier nicht besonders betonen, das ist völlig selbstverständlich.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, wir müssen wieder das, was zur Demokratie unverzichtbar gehört, nämlich die streitige Auseinandersetzung, stärker lernen und auch ausüben, damit sie nicht zu schnell in Emotion, in Hass, in Feindschaft dann auch mündet, denn dann versagen ja Worte, dann versagt die Kraft des Arguments. Wir erleben das ja auch in anderen Bereichen – das hat mit der Flüchtlingssituation 2015 noch mal eine Zuspitzung bekommen –, wie radikal und wie zugespitzt und wie auch instrumentalisierend doch die Debatte zu manchen Themen erfolgt, die eben gerade auch ganz gezielt genutzt werden: Hetzen gegen Flüchtlinge, das meint man eben, bringt im rechtspopulistischen Bereich viele Stimmen, und das hat sich ja auch leider als nicht ganz unerfolgreich erwiesen.

"Wird sichtbar, wie vielfältig und toll doch auch personell die FDP ist"

Zurheide: Wenn ich jetzt gerade gesagt habe, die Gesellschaft muss wieder lernen, zivilisiert zu streiten, mache ich jetzt einen gewissen Sprung: Auch innerhalb von Parteien muss man ja gelegentlich zivilisiert streiten. Wie schauen Sie in diesen Stunden und Tagen auf den FDP-Parteitag? Ist es sehr stromlinienförmig, oder sagen Sie, na ja, wir haben schon ein bisschen gelernt, es ist nicht mehr nur Lindner, Lindner, Lindner?
Leutheusser-Schnarrenberger: Die FDP hat sich ja sehr stabilisiert, sie steht gut da, und es ist gestern in den Wahlen für die FDP-Führungsgremien, also Präsidium und Bundesvorstand, doch, sag ich mal, ein deutlich breiteres Bild und breit gefächertes Spektrum von auch jungen Menschen jetzt gewählt worden, was ich ganz, ganz toll finde. Mit dem Johannes Vogel jetzt als stellvertretender Parteivorsitzender, der ja sehr profiliert in der Sozialpolitik ist, auch mit der Frau Stark-Watzinger im Präsidium und Strack-Zimmermann im Bundesvorstand, und auch anderen Frauen, also es sind auch viele Frauen in den Vorstand gewählt worden. Also ich denke, es wird jetzt immer stärker sichtbar, wie vielfältig und toll doch auch personell die FDP ist.
Christian Lindner, Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender der FDP (M), verfolgt neben Volker Wissing, Generalsekretär der FDP (l), und Wolfgang Kubicki, stellvertretender FDP-Parteivorsitzender und Bundestagsvizepräsident beim Bundesparteitag der FDP die Debattenbeiträge. Der dreitägige Parteitag wird Coronabedingt ohne Delegierte vor Ort in digitaler Form durchgeführt.
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Zurheide: Jetzt haben Sie es aber sehr schön dargestellt, dass Frau Suding weg ist und Herr Vogel da ganz oben ist. Das schmerzt Sie jetzt nicht, dass da eine Frau weniger im absoluten Führungsgremium ist? Das überrascht mich.
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich finde, Johannes Vogel macht eine tolle Politik, und Frau Suding geht aus persönlichen Gründen, und es sind drei Frauen im Präsidium, mit Frau Beer, Frau Strack-Zimmermann und auch Frau Hüskens aus Sachsen-Anhalt, und das sind gute, tolle Frauen. Von daher, es sollten immer mehr sein, aber ich finde, wir sind auf einem ganz guten Weg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.