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Antisemitismus, Erinnerungskultur, Rechtspopulismus
"Der Graben zwischen Wissenschaft und Wissen wächst"

Die Erinnerungskultur in Deutschland wird oft als beispielhaft betrachtet. Rechtspopulisten fordern dagegen eine erinnerungspolitische Wende. Erinnerungskultur sei aber ein zentraler Punkt der deutschen Identität, sagte die Historikerin Mirjam Zadoff im Dlf. Sie höre nie auf.

Mirjam Zadoff im Gespräch mit Anja Reinhardt |
    Mirjam Zadoff leitet seit 2018 das NS-Dokumentationszentrum in München
    Mirjam Zadoff leitet seit 2018 das NS-Dokumentationszentrum in München (picture alliance / dpa / Lino Mirgeler)
    "Es gibt Stimmen, die die deutsche Erinnerungskultur, die Wichtigkeit, zu Erinnern, in Frage stellen", meint Mirjam Zadoff, die seit Mai das NS-Dokumentationszentrum in München leitet. Ein symbolträchtiger Ort, denn das strahlend weiße Gebäude steht dort, wo früher das Braune Haus stand - die Parteizentrale der NSDAP in München. Erinnerungskultur sei keine Elitenkultur, meint die Historikerin und Judaistin, im NS-Dokumentationszentrum wolle man gerade die Leute ansprechen, die das Gefühl hätten, die deutsche Vergangenheit habe nichts mit ihnen zu tun. Es ginge immer um die Frage: "Wie können wir das relevant machen für andere Menschen?"
    Auf dem Weg in eine Ausgrenzungsgesellschaft?
    Antisemitismus in der Musik sei gerade ein Thema, da gehe es um die Auszeichnung der Rapper Kollegah und Farid Bang, die den Holocaust verspottet hätten. Antisemitismus sei immer ein Zeichen dafür, dass in einer Gesellschaft etwas kranke. "Wenn man die Diskussion als Ganzes sieht, dann geht es um die Frage: Wer gehört dazu?", meint Mirjam Zadoff. Heute hätten wir es wieder mit einer Ausgrenzungsgesellschaft zu tun, nicht nur in Bezug auf Juden in Deutschland.
    Sie wünsche sich eine kluge europäische Asylpolitik, die auch darauf schaue, wie man die Situation der Menschen in ihren Heimatländern verbessern könne. Europa habe hier eine historische Verantwortung.
    Blick auf den geschichtlichen Zusammenhang
    Zadoff plädiert außerdem dafür, den größeren geschichtlichen Zusammenhang zu sehen und bei der Frage, ob man Flüchtlinge an Grenzen abweisen dürfe, auch auf die Kolonialzeit blicken müssen. Im Übrigen gäbe es hier auch eine Linie von der kolonialen Vergangenheit zum Nationalsozialismus – in der Frage der sogenannten Rassenhygiene, der Wahrnehmung von "unwertem Leben" und dem Genozid an den Herrero und Nama. Hier wäre eine gemeinsame Geschichte nötig.
    "Es gibt vieles, was wir immer noch nicht wissen"
    "Es geht um ein historisches Wissen, das einem hilft, bestimmte Situationen schneller zu erkennen", so Zadoff. Das gelte auch für Österreich, wo zum Beispiel die FPÖ schon lange eine Verbindung mit den rechtsextremen Burschenschaften habe. Sie sehe aber auch, dass sich in Österreich gesamtgesellschaftlich sehr viel verändert habe. "Es gibt eine Auseinandersetzung mit vielen Themen", aber eine bestimmte Form der Geschichtsvergessenheit existiere auch.
    Sie verstehe ihre Arbeit im NS-Dokumentationszentrum auch als immer wieder neue Auseinandersetzung mit der Geschichte. "Es gibt vieles, was wir immer noch nicht wissen", so Zadoff, und gegen die Diskrepanz zwischen Wissen und Wissenschaften müsse man etwas tun.