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Antisemitismus in Frankreich
Kampf um Solidarität mit dem Fall Sarah Halimi

Dass der Mord an der Jüdin Sarah Halimi nicht bestraft wird, ist in Frankreich auf Unverständnis gestoßen. Nach weltweiten Protesten fand nun in den sozialen Netzwerken eine prominent besetzte Solidaritäts-Veranstaltung jüdischer Organisationen statt.

Von Christiane Kaess | 25.05.2021
In Vordergrund Demonstranten, im Hintergrund ist der Eiffelturm zu sehen.
Demonstranten auf dem Platz Trocadero in Paris (Geffroy van der Hasselt / AFP)
Über Youtube, Facebook oder Twitter schalteten die Organisatoren in jüdische Gemeinden weltweit.
"Wir haben genug von dieser Gewalt, hier wird Antisemitismus geleugnet, das ist nicht hinnehmbar", hieß es aus den USA, Großbritannien, Italien oder Frankreich. Jüdische Organisationen haben auch prominente französische Politiker für den Kampf um Solidarität mit dem Fall Sarah Halimi gewonnen. Die Pariser Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, verspricht, eine Straße nach Sarah Halimi zu benennen - in der Nähe des Kindergartens, den Halimi leitete.
"Die Mauern unserer Hauptstadt werden ihre Geschichte tragen und ihr Gesicht. Verbrechen wie dieses mahnen uns zur Erinnerung, damit der Hass nicht wieder beginnt."
Auch für den ehemalige Premierminister Manuel Valls ist das antisemitische Motiv des Mordes klar:
"Das Ziel war es, eine Jüdin zu töten. Die Entscheidung der Justiz ist ein vollkommener juristischer und moralischer Schiffsbruch."
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Französische Juden beklagen neuen Antisemitismus - Bedroht, beschimpft, vertrieben
Frankreich ist europaweit das Land mit der größten jüdischen Gemeinde – und gleichfalls der größten muslimischen. Das könnte eine Erklärung sein, warum seit der Jahrtausendwende Antisemitismus in Frankreich im Aufwind ist. Aber es gibt noch andere Gründe.

"Wir verstehen nicht, warum Frankreich nicht die Mittel hat, einen Mörder zu verurteilen"

Der Täter Kobili Traoré hatte Sarah Halimi zuerst in ihrem Pariser Appartement misshandelt und die 65 Jahre alte Frau dann aus dem Fenster geworfen. Dabei rief er Koran-Suren und "Allahu akbar". Die Gerichte haben den drogenabhängigen Mann in einem entsprechenden psychiatrischen Gutachten für schuldunfähig erklärt - er habe die Tat im Delirium verübt.
Kritik an dieser Entscheidung formuliert auch die Regierung. Justizminister Éric Dupond-Moretti will das Gesetz für solche Fälle bald ändern. Wie ist noch nicht klar. Weil der Fall Sarah Halimi juristisch in Frankreich aber beendet ist, überlegen die Angehörigen Halimis, die Justiz in Israel anzurufen oder vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu ziehen. Im Interview mit dem Deutschlandfunk nennt Sarah Halimis Sohn, Yonatan, die französische Entscheidung unfassbar.
"Wir verstehen nicht, warum Frankreich nicht die Mittel hat, einen Mörder zu verurteilen. Diese Entscheidung erlaubt es jedem, was auch immer er tun will, eine Droge zu nehmen und als schuldunfähig erklärt zu werden. Wir wissen, dass der Mörder meiner Mutter nicht verrückt ist, er hatte keinerlei Vorgeschichte. Wir wissen sehr gut, dass er sein Verbrechen gründlich überlegt hat. Er hat bei seiner Tat "Allahu akbar" gerufen und Suren der Dschihaddisten zitiert."

Psychose als Erklärung für den Mord

Yonatan Halimi glaubt, dass Kobili Taroré seine Mutter nicht nur aus antisemitischen Gründen umgebracht hat, sondern weil der Konsum von Marihuana kurz vor der Tat ihn dazu antrieb. Auf Demonstrationen um den Fall Halimi ist immer wieder der Vorwurf zu hören: in Frankreich könne man sich unter Drogen setzten, einen Mord begehen und ungestraft davonkommen. Dem wiederspricht Paul Bensussan. Er ist einer der sieben Psychiater, die Kobili Traoré untersucht haben und zu dem Ergebnis kamen, dass er zum Zeitpunkt der Tat nicht zurechnungsfähig war, weil er unter einer Psychose litt. Über die Empörung zu dem Fall sagt er:
"Es ist nicht nur so, dass ich diese Emotionen verstehe, ich teile sie vollkommen. Aber ich sehe in dieser emotionalen Welle auch viel Unwahrheit und Vereinfachungen. Das schockiert mich."
Für Bensussan und seine Kollegen ist der Mörder von Sarah Halimi durchaus geisteskrank und deshalb schuldunfähig. Der Täter habe zwar vor der Tat Marihuana konsumiert, aber das tue er seit Jahren. Entscheidend sei gewesen, dass Traoré einen psychotischen Schub gehabt habe, in dem er den Mord begangen habe.
"Er hatte eine totale Schlaflosigkeit, ängstliche Unruhe und Wahnvorstellungen. Er hat Stimmen gehört und gedacht er sei verhext. Er war davon überzeugt, dass sein Stiefvater ihn vergiften will und dass die Hausangestellte seiner Mutter Voodoo-Kult bei ihm praktiziert. Er ging in die Moschee, um dort mit einem Exorzisten zu sprechen. Er war davon überzeugt, von Dämonen besessen zu sein."
Dass die Tat einen antisemitischen Hintergrund hat, glaubt aber auch der Psychiater Bensussan: "Wahnsinn und Antisemitismus schließen sich nicht aus."

Juden verlassen ihre französische Heimat

Yonathan Halimi fürchtet, so wie der Mord an seiner Mutter juristisch in Frankreich behandelt wurde, könnte dort jeder Opfer dieser Rechtsprechung werden kann, egal ob Jude, Christ oder Muslim. Aber Halimi stellt auch einen zunehmenden Antisemitismus in Frankreich fest.
"Als ich in Frankreich aufgewachsen bin, gab es viel weniger Unsicherheit. Seit einigen Jahren sieht man, wie viele Morde passieren. Das Attentat an der jüdischen Schule in Toulouse oder auf den Supermarkt für koschere Waren in Paris usw. Man kann nicht sagen, dass das seit den 80er und 90er Jahren nicht zugenommen hat. Man muss der Realität ins Auge blicken."
Auch vier Jahre nach dem tödlichen Angriff auf seine Mutter und trotz der internationalen Solidarität fällt es Yonatan Halimi schwer, über all dies zu sprechen. Er tut es trotzdem bei jeder Veranstaltung, die die Erinnerung an Sarah Halimi wachhält.
"Meine Mutter war jemand mit großen moralischen Werten. Sie war sehr sensibel gegenüber anderen. Sie hat uns immer beigebracht, alle Herausforderungen im Leben zu meistern und Verantwortung zu übernehmen."
Yonatan Halimi lebt schon länger in Israel. Seine ganze Familie, so sagt er, habe nach dem Mord an seiner Mutter Frankreich verlassen. Niemand hätte es mehr ausgehalten, dort noch zu bleiben.