
Erzählt Judith Biran. 1921 wurde sie in Halberstadt unter ihrem Mädchennamen Winter geboren, heute lebt sie in Tel Aviv. Eine kleine Frau mit silbernen Haaren, leuchtenden Augen und einem brillanten Gedächtnis. Noch heute kennt sie alle Namen und Adressen von Freunden, Verwandten, den Nachbarskindern, mit denen sie - gleich welcher Religion sie waren - gespielt hat. 1933 war damit schlagartig Schluss, erzählt sie. Dann blieben die Juden unter sich.
"Wir waren drei Mädels und drei Jungs. Meine Eltern waren bemüht, uns alle nur möglichst schnell raus zu schaffen. Aber leider haben sie es am Ende nicht geschafft, weil meine Mutter sich noch verabschieden wollte, von den Großeltern und ist dort steckengeblieben. Am 7. Juni 1942 sind sie alle umgekommen."
"Die Namen, die auf den Steinen stehen habe ich alle gekannt. Und das ist besonders traurig für mich. Wenn ich von meinen Schulfreunden, die mit mir zur Klasse gegangen sind, wenn ich die Namen gesehen habe - das ist furchtbar traurig."
"Die erste Blütezeit war unter dem Hofjuden Berend Lehmann, Ende des 17. Jahrhunderts, Anfang des 18. Jahrhunderts. Da wuchs die Gemeinde auf über 1.000 Mitglieder an."
Erzählt Jutta Dick. Sie ist Historikerin und Direktorin der Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt. Seit 1994 lebt sie in der Kleinstadt 60 Kilometer südwestlich von Magdeburg. Die Stiftung residiert in einem roten Backsteinbau, der wiederaufgebauten Klaussynagoge, in der Halberstädter Unterstadt. Hier befindet sich das einstige jüdische Viertel: Kleine Gassen, Fachwerkhäuser. Früher der zentrale Ort für die Jüdische Gemeinde, heute ein Fall fürs Museum. Hier stand einst auch eine der prachtvollsten Barocksynagogen Deutschlands. Heute sind nur noch Fundamente und der Fußboden zu sehen, obwohl die Synagoge am 9. November 1938 noch verschont blieb. Nur wenige Tage später verfügte die Stadt Halberstadt aber den Abriss der Synagoge, die die jüdische Gemeinde Stein für Stein abtragen musste.
"Es haben Versteigerungen von Baumaterial stattgefunden. Aber da werden sich viele Leute auch so bedient haben."


Die jüdische Bevölkerung war fest verwurzelt in der Stadtgesellschaft. Die ersten zaghaften Versuche, die Erinnerung an die jüdische Gemeinde nach der Shoa wieder ins Bewusstsein zu bringen, unternahmen schon zu DDR-Zeiten der 96-jährige Stadthistoriker Werner Hartmann und der evangelische Pfarrer Martin Gabriel. Dem SED-Regime war das ein Dorn im Auge, weshalb sie von einem Dutzend Stasi-Spionen überwacht wurden.
1995 gründeten Mendelssohn-Nachfahren, die bundesweit einzigartige Moses Mendelssohn-Akademie. Sie hat sich dem christlich-jüdischen Dialog in einer völlig säkularisierten Region verschrieben. Direktorin ist Jutta Dick. Sie möchte, dass die jüdische Geschichte als integraler Teil der Stadtgeschichte Halberstadts begriffen wird. Erinnerungsaspekte, die die Nazis völlig ausgelöscht haben.
"…dass ein jüdisches Unternehmen, das die Akademie fördert, um die Finanzierung abzusichern, in Halberstadt die Rathaus-Passage gekauft hat, dazu auch noch Wohnungen, und dass da auf einmal in Halberstadt Erschrecken ist, dass "Juden die Rathaus-Passage kaufen. Es sind auch Äußerungen zu hören: 'Wie kann die Stadt das gestatten.' Da bin ich ratlos."
"Ich kann es nicht nachvollziehen, also weil es zum Teil auch von Halberstädtern kommt, die die Geschichte des Nationalsozialismus beklagen, die Verfolgung der Juden. Da kann ich nur feststellen, da ist eine Oberfläche, aber tief drunter sitzt was ganz anderes. Die "Heuschrecken" - in Anführungsstrichen - sind eigentlich diejenigen, die seit Jahren der Stadt verbunden sind. Und ich finde es einfach fürchterlich irritierend, dass das nicht wahrgenommen wird."

"Mag sein, dass solche Biertischparolen irgendwo losgelassen werden, also ich habe solche Äußerungen hier in Halberstadt noch nicht gehört."
Die Historikerin Stefanie Schüler-Springorum, die Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, sieht es anders.
"Mich erschreckt das zutiefst und mich erstaunt das auch, weil ich kenne die Arbeit von Frau Dick seit Jahren, und sie ist ausgesprochen erfolgreich und eigentlich auch sehr, sehr gut verortet in der Stadtgesellschaft. Und wenn das jetzt plötzlich kippt in eine - zumindest in Teilen - oder partiell aggressive Stimmung, dann ist das sehr, sehr beunruhigend."
Durch Pegida, den Aufstieg der AfD, der Rechtspopulisten ganz allgemein, würden die Grenzen des Sagbaren deutlich verschoben, unterstreicht Stefanie Schüler-Springorum. Das sei ein Einfallstor für den Antisemitismus. Zudem werde zunehmend die Erinnerungskultur in Frage gestellt.
"Und da wird an allen Ecken und Enden dann, wenn man in die Kommunalpolitik schaut, auch in Westdeutschland, gesagt: Wieso sollen wir dafür noch zahlen, wieso sollen wir dafür noch so viel Geld geben. Und ich glaube, das ist eine neue Tendenz, die dann natürlich Tür und Tor öffnet für ganz alte Klischees, die wir seit 200 Jahren oder länger kennen, oder noch viel länger. Neu ist, dass es jetzt sozusagen öffentlich geäußert wird, im öffentlichen Raum."
"Naja, das sind Schmierereien von denen ich höre. Das sind Pamphlete, die in jüdischen Gemeinden in die Postfächer eingeworfen werden. Es gibt Vorfälle auf Schulhöfen. Es gibt im Bereich Sport Fälle, also auch Rufe aus den Fanblocks. Solche Geschichten, die werden jetzt zunehmend an mich herangetragen."
Schneiß spricht von etwa zweitausend Jüdinnen und Juden, die in Sachsen-Anhalt leben. Künftig wolle man in der Magdeburger Staatskanzlei mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus – die entsprechende Vorfälle dokumentiert - kooperieren. Einen klaren Trend könne er in Sachsen-Anhalt aber nicht erkennen.
"Für uns ist es wichtig, dass wir das Thema sehr ernst nehmen, in seiner Gewichtung, gerade auch in Deutschland. Aber das wir es auch nicht größer machen, als es dann festgestellt wird."
"Das Problem in Sachsen-Anhalt war immer, dass man nie wusste, was Sache ist. Nicht wir sind nach Halberstadt gekommen – also die Moses Mendelssohn-Stiftung, usw. – sondern die Stadt und das Land wollten, dass wir uns dort engagieren. Und das haben wir dann getan."
Die Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt wird aus Mitteln des Landes und der Stadt finanziert. Kein einfaches Unterfangen, sagt Schoeps. Denn die Förderung sei nicht gerade üppig. So zahle die Stadt Halberstadt jährlich 25.000 Euro für die Betriebskosten. Das Land hat der Stiftung 2013 ursprünglich eine Summe von fünf Millionen Euro versprochen, dann aber zurückgezogen. Stattdessen zahlte man der Akademie nur drei Millionen Euro für das Stiftungsvermögen. Die Zins-Erträge fließen in Personal- und Sachkosten. Hinzu kommt eine institutionelle Förderung durch das Land Sachsen-Anhalt von 40.000 Euro. Summa summarum komme man so auf einen Etat von etwa 130.000 Euro, rechnet Schoeps vor.
"Reicht vorne und hinten nicht."

"Na sicher. Das Ganze würde überhaupt nicht funktionieren, wenn wir nicht mit privaten Mitteln Projekte unterstützen würden."
Bildungsarbeit, Ausstellungen, die Erweiterung der einzigartigen Halberstädter Judaica-Sammlung wären ohne das private Sponsoring undenkbar, sagt Schoeps, und fragt sich, ob das Land Sachsen-Anhalt die Bildungseinrichtung überhaupt wolle.
"Stadt und Land haben ein Problem, mit dem jüdischen Erbe umzugehen. Es gibt Ansätze, wo ich sage würde, das sollte man weiter verfolgen. Aber da ist noch vieles zu tun. Halberstadt ist in der jüdischen Welt ein bedeutsamer Ort. Ich plädiere immer dafür, dass diese jüdische Geschichte der Stadt als Teil der eigenen Geschichte angesehen wird. Und da mangelt es noch etwas."
Ähnlich sieht es die Berliner Historikerin Stefanie Schüler-Springorum. Teil ihrer Wurzeln liegen in Halberstadt, sie selbst wohnt im altmärkischen Wust.
"Kunst und kulturelles Erbe, jedenfalls das christlich kulturelle Erbe, da denkt man, das ist attraktiv für den Tourismus und den braucht Sachsen-Anhalt natürlich dringend. Und das ist ja auch ein attraktives Land. Aber, ich denke, es wird viel zu wenig getan, was die politische Bildung angeht und die Stärkung von Demokratie, gerade in der Fläche, gerade auf dem flachen Land. Halberstadt ist ein Beispiel, wo es trotzdem, aufgrund von privaten Geldern, eben sehr, sehr gut funktioniert. Sachsen-Anhalt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass es durchaus lokale Initiativen ja gibt und es gibt ja Menschen, die sich engagieren. Und ich glaube, da ist ein Defizit an Förderung, und das könnte man deutlich verbessern."

Kosten des Neubaus: Etwa sechs Millionen Euro. Seit die Zahlen in der Öffentlichkeit kursieren, erfahre man in Halberstadt massive antisemitische Ressentiments, sagt Jutta Dick.

Mit der Analyse der Mitte-Studie der Friedrich Ebert Stiftung aus dem Jahr 2016, in der die Autoren zum Ergebnis kommen, dass der Antisemitismus in den Neuen Bundesländern stärker vertreten ist, als in der alten Bundesrepublik, kann Antisemitismus-Experte, Wolfgang Benz, nichts anfangen.
"Ich glaube überhaupt nicht daran, dass es in der ehemaligen DDR mehr Antisemitismus gibt als im übrigen Deutschland. Was in Halberstadt passiert, könnte in Castrop-Rauxel oder in Göttingen genauso passieren. Es muss einen Anlass geben, an dem sich die alten Ressentiments neu entzünden können. Dann funktioniert das."
"Tatsache ist natürlich, dass DDR-Bürger vierzig Jahre lang in dem Sinne indoktriniert wurden: Israel sei der Schurkenstaat schlechthin. Das kann nicht spurlos an Menschen vorübergehen, kann nicht spurlos verschwinden."
Und er ist gerade bei älteren Menschen fest im Kopf verankert. Um dem zu begegnen sei es mit Bildungsarbeit in den Schulen nicht getan, sagt Benz. Eine allzu schlichte Rechnung, erwidert Stefanie Schüler-Springorum, Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Man brauche gerade in Richtung der älteren Generation klare Ansagen der Politik.
"Die dann auch konsequent sind und nicht nur 'Antisemitismus' beklagen, aber andererseits rassistische Äußerungen – wenn sie in eine andere Richtung gehen – da etwas entspannter sind. Also, ich glaube, dass die Art und Weise, wie in den letzten Jahren jetzt über Migration und überhaupt über dieses Land, oder über Diversität und Pluralismus diskutiert wurde, öffnet eben undemokratischen Vorstellungen, oder komischen Homogenisierungsphantasien, wie Deutschland auszusehen hat, Tür und Tor."