Freitag, 19. April 2024

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Religionswissenschaftler Michael Blume
"Antisemitismus steckt ganz tief in unserem Denken"

Wer Antisemitismus nur bei anderen sucht, habe das Problem nicht verstanden, sagte Michael Blume im Dlf. Der Religionswissenschaftler versteht den Antisemitismus als eine Ersatzreligion.

Michael Blume im Gespräch mit Andreas Main | 11.06.2019
Eine Porträtaufnahme zeigt Michael Blume. Er ist Religionswissenschaftler und baden-württembergischer Antisemitismusbeauftragter.
Der Religionswissenschaftler und baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume (privat)
Andreas Main: In den vergangenen Tagen und Wochen hat es wieder einmal die eine oder andere Antisemitismus-Debatte gegeben, gekennzeichnet von nicht allzu viel Tiefgang. Aber das überlassen wir anderen und hoffen auf mehr Tiefe im Gespräch mit Michael Blume. Er schreibt wörtlich: "Bitte folgen Sie mir mutig zu einem religionswissenschaftlichen Tauchgang direkt zur dunklen Seite unserer Herzen" – soweit das Zitat aus seinem jüngsten Buch mit dem Titel "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht – Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern". Und wer glaubt, über den Antisemitismus sei alles gesagt, wird in den kommenden Minuten eines Besseren belehrt werden, denn hier schaut ein Religionswissenschaftler mit religionswissenschaftlicher Brille neu auf das uralte Phänomen des Antisemitismus. Das mag verwirren, dieser Tauchgang mit Michael Blume wird auch Widerspruch auslösen oder eben auch Augen öffnen. Ein Gespräch, das wir vor dieser Sendung aufgezeichnet haben beziehungsweise aufzeichnen. Michael Blume ist Referatsleiter für nicht-christliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg sowie Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus. Guten Morgen, Herr Blume.
Michael Blume: Hallo Herr Main.
Main: Michael Blume, lassen Sie uns mal buchstabieren am Anfang - mit der Buchstabiertabelle. A wie …?
Blume: Anton.
Main: B wie …?
Blume: Berta.
Main: C wie …?
Blume: Caesar.
Main: Und dann mal einen Sprung zum S – S wie …?
Blume: Samuel. Also, natürlich. Aber heute: Siegfried.
Main: So, damit haben Sie den Kern des Problems angesprochen. Das lerne ich bei Ihnen auf Seite 56. S wie Siegfried hat 1934 den Samuel ersetzt. Welche Beispiele gibt es noch?
Blume: Ja, ich finde das krasseste Beispiel ist N wie Nordpol, weil das war ursprünglich N wie Nathan. Aber weil die Nazis alle jüdischen Namen tilgen wollten aus der Buchstabiertabelle, hat man das ersetzt und weil es keinen ordentlichen, nordischen Namen gab, nimmt man dann eben den Nordpol. Und da kann man, glaube ich, schon sehen, wie tief auch in unsere Sprache und unser Denken das einfach eingesickert ist. Es ist bis heute in uns drin. Wir verwenden diese Ausdrücke automatisch, obwohl sie von den Nazis eingeführt wurden und obwohl man die jüdischen Namen getilgt hat.
"Antisemitismus ist Teil unserer Kultur"
Main: Auch Zacharias musste schwinden. Was mich besonders betrifft, weil mein Vater Zacharias hieß. Das tut jetzt aber nichts zur Sache. Würden Sie soweit gehen, aufgrund dieser Beispiele, die wir auch durch Dora und David und Jacob noch ergänzen könnten, gehen Sie davon aus, dass wir Deutsche allesamt von Generation zu Generation mit Folgewirkungen des Judenhasses leben und umgehen müssen oder ist das zu sehr in Richtung Kollektivschuld formuliert?
Blume: Also, ich würde ganz klar sagen, da geht es nicht um Schuld, schuld ist immer nur derjenige, der was tut. Wenn ich in Schulen bin beispielsweise, sage ich ganz klar: Niemand der Schülerinnen und Schüler hat eine Schuld am NS-Regime, aber wir haben eine Verantwortung, daraus zu lernen. Und ein Teil unserer Kultur, unserer globalen Kultur, ist eben auch der Antisemitismus und der Rassismus. Die stecken tief im Denken drin.
Schon im Begriff Semitismus sagen wir dann: 'Ja, die Semiten - das ist doch eine Rasse oder das ist doch eine Sprachgruppe.' Und damit reproduzieren sie antisemitische Vorurteile des 19. Jahrhunderts. Also, wir müssen uns ganz klar sein, das steckt tief im Denken, in der Kultur drinnen. Das macht es so gefährlich. Da sind Heutige nicht dran schuld, aber wir haben die Chance und Verantwortung, darüber hinwegzukommen.
"Antisemitismus ist ein Glaubenssystem, eine Gegenreligion"
Main: Wer sich zu Antisemitismus äußert, der klingt ja oft ein bisschen ratlos. Müssen wir uns eingestehen, dass wir es mit einem Wahn zu tun haben, der sich einfach nicht begreifen lässt?
Blume: Genau das ist die Aufgabe von Religionswissenschaft, eben zu sagen, wie können wir Dinge erklären. Wir haben es beim Antisemitismus mit einem Glaubenssystem zu tun. Antisemiten glauben, dass böse Mächte die Welt regieren. Sie glauben, dass Verschwörer hinter allem stecken und das sind normalerweise Juden und Freimaurer bzw. wie man heute sagt, Zionisten und Illuminaten. Das ist eine globale, ich sage es manchmal sogar Gegenreligion geworden, die sich ausgebreitet hat und jetzt noch mal ausbreitet durch das Internet.
Wenn Leute glauben an Verschwörer, dann landen die nicht beim Glauben an die Weltverschwörung der Australier oder der Quäker, sondern dann landen die immer wieder im alten Antisemitismus. Und das meine ich eben mit dem Blick auf die dunkle Seite des Herzens, das hat ein Friedensnobelpreisträger, Holocaustüberlebender, Elie Wiesel, mal sehr eindrücklich formuliert, der hat gesagt: "Wenn wir den Antisemitismus wirklich besiegen wollen, dann müssen wir bereit sein, auf die dunklen Seiten unseres eigenen Herzens zu schauen." Und da hat er absolut Recht.
Elie Wiesel bei einer Rede im Holocaust Museum in Washington 2012
Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: "Wir müssen bereit sein, auf die dunklen Seiten unseres eigenen Herzens zu schauen.“ (picture alliance / dpa / Dennis Brack / Pool)
Wer behauptet, er habe selbst nichts mit Antisemitismus zu tun, der hat gar nicht verstanden, wie tief das in unserer Kultur drinsteckt, in unserem Denken drinsteckt und das geht sogar bis in die Wissenschaften. Es ist also nicht eine Sache, die wir bei anderen nur bekämpfen müssen, sondern da müssen wir auch immer auch uns selber hinterfragen.
"Antisemitismus richtet sich auch gegen Nichtjuden"
Main: Michael Blume, Sie haben eben angedeutet, dass Antisemitismus sich nicht nur gegen Juden richtet. Der Begriff Antisemitismus, den haben wir ja Judenhassern zu verdanken, nach der Shoa wurde der dann umgedeutet. Heute schillert er und wirkt abgenutzt, einige schlagen vor, einfach von Judenhass zu sprechen. Sie bleiben dem Begriff Antisemitismus treu und, ja, deuten ihn um. Zunächst, was spricht für den Begriff Antisemitismus?
Blume: Ja, es ist tatsächlich so, dass wir vor allem von der politischen Rechten – auch in den USA, aber auch im Deutschlandfunk war jetzt ein Interview mit Frau von Storch – ganz stark den Versuch haben, den Antisemitismus nur noch bei Linken, Demokraten und nur noch bei Muslimen wahrzunehmen und quasi den alten, angestammten rechten Antisemitismus oder auch den christlichen Antisemitismus komplett rauszunehmen.
Und da muss man ganz klar sagen, der Antisemitismus ist eine gefährliche Ideologie, die sich immer gegen Juden und auch Nichtjuden gerichtet hat. Also, die Nazis beispielsweise haben auch die Roma und Sinti vernichtet unter dem Vorwurf, die wären Teil der jüdischen Weltverschwörung, das wären, wie man heute sagt, die Invasoren für den Bevölkerungsaustausch.
Wer so tut, als ob das jetzt nur eine Sache wäre, die sich nur gegen eine Gruppe richtet, und das sei halt so wie andere Formen des Rassismus auch und da müsse man gar nicht besonders hingucken und es reiche, wenn man da gegen Muslime vorgehe, der hat überhaupt nicht begriffen oder der will nicht begreifen, wie gefährlich das ist.
Ich behaupte auch, dass der Begriff Antisemitismus, Semitismus, dass ich den nicht umdeute, sondern ich rufe dazu auf, endlich wahrzunehmen, wie die jüdische Überlieferung selbst den Sem wahrnimmt. Es ist kein Begründer von Rassen und es ist kein Begründer von Sprachen, sondern im Talmud, in der jüdischen Auslegung ist das der erste Begründer eines Lehrhauses, der erste, der eine Schule gründet, der erste, der Religion und Recht im Medium der Alphabetschrift lernt. Das ist eine ganz wichtige Figur und Vorfahr von Abraham, das wissen aber die Leute gar nicht, sondern da wird mir dann gesagt, ja, Herr Blume, Semiten, das sind ja Juden und Araber, das sind so Rassen und die kommen nicht miteinander klar. Und da merke ich dann, also, da fehlt es selbst an Grundwissen darüber, was eigentlich der Sem in der jüdischen Tradition schon immer bedeutet hat. Das hat man vergessen und selbst Leute, die es gut meinen, haben da kaum Kenntnis drüber.
"Wenn Antisemiten keine Juden haben, erfinden sie welche"
Main: Diese Kenntnis wollen wir vertiefen, ich möchte aber doch vorher noch mal drauf hinweisen, dass nur, weil eine AfD-Politikerin im Deutschlandfunk über linken und muslimischen Antisemitismus spricht, dass es den deswegen nicht nicht gibt.
Blume: Absolut. Ich meine, das ist ja in meinem Buch auch der Schwerpunkt. Im Irak war ich ganz massiv damit konfrontiert, dass Leute gesagt haben: ‚Der Erdogan, das ist doch ein Jude, den haben doch die Juden eingesetzt, die Türkei zu zerstören.' Oder: 'Der Kalif al-Bagdhadi sei ein jüdischer CIA-Agent namens Simon Eliott, und der ganze Islamische Staat sei vom israelischen Mossad.' Das ist ja das absolut Gefährliche.
Wenn Antisemiten keine Juden haben, dann erfinden sie sich welche. Dann behaupten sie, dass alle möglichen anderen Personen Juden wären. Im Irak gibt es gar kein jüdisches Leben mehr, die sind vertrieben worden. 140.000 Jüdinnen und Juden nach der Staatsgründung Israels - das weiß auch kaum jemand – aber der Antisemitismus ist nicht verschwunden.
Jetzt werfen sich Türken, Kurden, Araber, Linke, Rechte, Religiöse, Säkulare gegenseitig vor, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Also, auch da sieht man, wer da sagt, wenn es den Staat Israel nicht mehr gäbe oder es keine Juden mehr gäbe, gäbe es auch keinen Antisemitismus mehr, der hat überhaupt nicht verstanden, wie gefährlich das ist. Der Antisemitismus ist eine Ideologie des Hasses, die sich, wie das Sartre gesagt hat, Juden erfindet, wenn sie gar keine hat.
"Das Judentum ist die erste Bildungsbewegung der Weltgeschichte"
Main: Juden sind Semiten, aber keine Rasse – so haben Sie es eben sinngemäß formuliert. Auch Sie oder unsere Hörer oder ich können Semiten sein, auch Antisemiten, verstehe ich Sie richtig? Oder präzise gefragt, definieren Sie bitte: Was ist ein Semit?
Blume: Sem ist ein biblischer Vorfahr wie Abraham, das heißt, es geht um eine geistige Haltung, es geht um eine Haltung zu Bildung, es geht um eine Haltung zu Weltvertrauen, es geht um eine Haltung zu Fortschrittshoffnung. Diese Haltung hat das Judentum ausgeprägt. Es ist die erste Bildungsbewegung der Weltgeschichte.
Studenten der Freien Universität Berlin betrachten am Freitag (22.06.2012) in der Alten Synagoge Erfurt das Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert. Unter Leitung von Annett Martini (M) erforschen sie die mittelalterlichen hebräischen Handschriften der früheren jüdischen Gemeinde Erfurt. Die Schriftensammlung war bis zu einem Pogrom 1349 im Besitz der jüdischen Gemeinde. Die Alte Synagoge ist nach ihrem Wiederaufbau seit 2009 Museum.
Faksimile einer Thorarolle aus dem 13. Jahrhundert in der Alten Synagoge in Erfurt (picture alliance / dpa / Foto: Michael Reichel )
Bildung – übrigens auch ein Begriff direkt aus der Bibel –, der Mensch ist nach Gottes Ebenbild geschaffen, soll ausbilden, was in ihm steckt. Und deswegen richten sich Antisemiten immer gegen Jüdinnen und Juden und darüber hinaus gegen Fortschrittshoffnung, gegen den Rechtsstaat, gegen das Zusammenleben von Menschen auf der Basis von Gleichberechtigung.
Es ist ein Rassismus, der sozusagen sich die gesamte Entwicklung der Welt als Weltverschwörung begreift. Und deswegen würde ich mal behaupten, haben die allermeisten Menschen sowohl semitische wie auch antisemitische Überzeugungen in sich. Und es ist unser aller Job, darüber nachzudenken und das eben auch zu überwinden, wo wir mit Antisemitismus zu tun haben und nicht zu sagen, na ja, das sind geborene Semiten und deswegen können es keine Antisemiten sein oder umgekehrt, damit wird man dem nicht gerecht.
Hier geht es nicht um Gene, hier geht es nicht um Sprache, hier geht es um Haltung, um Mythen, um Überzeugungen.
"Beste semitische Tradition"
Main: Wann bin ich semitisch?
Blume: Wenn Sie der Auffassung sind, dass Menschen gleichberechtigt sind. Das wird in der Bibel und in der jüdischen Überlieferung am Noah-Bund festgemacht mit dem Regenbogen. Alle Menschen sind gleich. Alle Menschen sollen Bildung erfahren. Wir können der Welt vertrauen. Wir sollen einen Rechtstaat aufbauen, das sind die Urüberzeugungen. Sieben noachidische Gebote soll der Sem gelehrt haben – nicht morden, keine Tiere quälen, nicht die Ehe brechen – und ein positives Gebot – einen Rechtstaat aufbauen. Wenn Sie diese Überzeugungen haben, dann sind Sie sozusagen in der besten semitischen Tradition.
Wenn Sie dagegen glauben, die Welt werde von Verschwörern beherrscht, man dürfe nicht vertrauen, die Ärzte, die Medien, das seien alles nur Verschwörer, die demokratischen Politiker, die sollte man angreifen und, und, und. Und die jüdischen Gemeinden, die seien alle in der Verschwörung beteiligt, dann sind sie, selbst, wenn sie sich Christ oder Muslim oder Humanist nennen, auf einem antisemitischen Pfad unterwegs.
"Antisemitismus-Forschung ist festgefahren"
Main: Ein jüdischer Hörer sagte zu mir am Telefon, nachdem er Ihr Buch gelesen hatte: 'Der Herr Blume, das ist ja alles sehr ehrenwert, was der denkt, aber das ist Wunschdenken, was er da propagiert.'
Blume: Ja, ich denke tatsächlich, dass wir auch wieder den Mut haben müssen, ein Stück weiter zu gehen. Die Antisemitismus-Forschung, die immer noch mit rassistischen Begriffen oder mit sprachwissenschaftlichen Konzepten arbeitet, ist festgefahren.
Das ist zum Beispiel ein Aspekt, den haben wir auch beim Antiziganismus, also beim Hass auf Roma und Sinti. Wenn ich den Leuten nur sage, also, hören Sie mal, Roma und Sinti, das sind gar nicht alles Landfahrer und die sind gar nicht alle kriminell, dann löse ich damit gar nichts, dann wiederhole ich nur die negativen Vorurteile. Ich stelle überhaupt gar keine positive Geschichte dagegen. Und deswegen absolut, bin ich dafür, dass ich sage, wir müssen wieder ein bisschen mutiger denken und weiterdenken.
Noch für Hugo Grotius – den Begründer des Völkerrechts – war völlig klar, dass sich das Völkerrecht auf dem Noah-Bund begründet, dass der Noah und der Sem das begründet haben. Das wissen selbst führende Juristen nicht mehr, was wir da für Schätze in unserer eigenen Kultur haben.
Ich habe tatsächlich den Wunsch, dass wir das wiederentdecken und da lasse ich mich auch gerne als naiv bezeichnen. Ich glaube, wir brauchen auch wieder ein bisschen den Mut zum Träumen und den Mut auch an die Wurzeln zu gehen.
"Eine unwahre Geschichte durch eine wahre ersetzen"
Main: Also, Semitismus positiv konnotieren und weniger über Antisemitismus sprechen?!
Blume: Genau. Ein alter Hinweis aus der Vorurteilsforschung - und der wird ja auch durch die Hirnforschung bestätigt. Wenn Sie Vorurteile dadurch zu widerlegen versuchen, dass sie sie immer nur wieder wiederholen, verknüpfen die sich im Gehirn immer wieder neu. Sie müssen eine schlechte und eine unwahre Geschichte durch eine bessere und wahrere Geschichte ersetzen. Und da müssten wir wieder hinkommen.
Dann wird plötzlich die Regenbogengeschichte von einer Kindergeschichte zu etwas – also die Noah-Geschichte – zu etwas wirklich Interessantem und Spannendem. Ich erlebe das bei vielen Veranstaltungen, dass dann die Menschen aufwachen, interessiert sind.
Nach der Flut kommen die Tiere von der Arche herunter. Rechts: Noah, seine Frau, seine drei Söhne (Sem, Cham und Japhet) und ihre Frauen. Im Hintergrund der Regenbogen, das Symbol der Schöpfungsordnung, geschlossen zwischen Noah und Gott. Anonymer Stich aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Der Regenbogen nach der Sintflut (anonymer Stich aus dem 19. Jahrhundert). (imago stock&people / Leemage)
Lehrerinnen und Lehrer entdecken, wow, das ist also die Begründung von Bildungstradition, Juristen entdecken, das ist die Begründung vom Rechtsstaat und jüdische Gemeinden entdecken, dass Sie eben der Welt tatsächlich viel gegeben haben.
Und darüber hinaus, wenn ich das noch sagen darf, es ist auch endlich mal eine Erklärung dafür: Nur 0,2 Prozent der Weltbevölkerung sind jüdisch. Sie haben aber über 20 Prozent aller Nobelpreise, die jemals verliehen worden sind. Wenn Sie den Leuten das nicht wissenschaftlich seriös erklären können als Ergebnis von einer Bildungsbewegung, dann landen die Leute wieder in einem Rassismus, dann landen sie bei einem Thilo Sarrazin und sagen, ja, die haben sich hochgezüchtet und haben einen höheren IQ. Dagegen muss man klar sagen: Das hat nichts mit Genen zu tun, sondern es hat mit der Wertschätzung von Bildung zu tun. Und da können wir voneinander lernen. Nur so kommen wir weiter.
"Die hebräische Alphabetschrift als ein Riesensprung"
Main: Wertschätzung von Bildung, Michael Blume, ein aus Ihrer Sicht entscheidender Punkt, der das Semitische ausmacht, ist ja auch die Entwicklung einer Schrift, also der hebräischen Schrift - bestehend aus Konsonanten, die dann im Kopf ergänzt werden. Wenn ich Sie richtig verstehe, basiert darauf bis heute jener Bildungsvorsprung jenseits der biologistischen Mythen, die Sie ablehnen, das haben Sie deutlich gemacht.
Blume: Genau. Also, es ist so: Tatsächlich haben wir in dem Bereich - und zwar schon vor dem Hebräischen und auch Sem ist sozusagen ein Vorfahre von den Hebräern - also, es wird ausdrücklich gesagt, er ist noch nicht, sozusagen, sein Enkel wird das erst sein, der der erste Hebräer ist. Sondern: Wir haben die Entwicklung der Alphabetschrift in der Region. Zum ersten Mal entsteht ein Schriftsystem mit unter 30 Buchstaben und all unsere – auch europäischen, aber auch arabischen, persischen – Alphabete sind aus dieser Wurzel entstanden. Und das ist ein Riesensprung.
Wenn man sich das anschaut, die alten Schriften, die ägyptischen Hieroglyphen, die chinesischen Schriften, die waren unglaublich schwer zu lernen für kleine Eliten. Und jetzt entsteht das Ideal einer Schule für alle. Es wird sogar auch berichtet, der Sem habe nicht nur Abraham unterrichtet, sondern auch dessen Sklaven. Es wird also gesagt, alle Menschen sollen jetzt lesen und schreiben lernen können. Wir finden das heute so was von normal, dass wir überhaupt nicht begreifen, was das für ein enormer Bruch war, Religion und Recht auf Schrift zu gründen. Das war ein völlig neues Konzept, das erste Lehrhaus, die erste, wir würden heute sagen, Schule zu gründen.
Wenn man da hinschaut, dann versteht man, was das Judentum nach vorne katapultiert hat und was letztlich unsere gesamte Welt geprägt hat. Unser Grundgesetz, unsere Landesverfassung, unsere europäischen Verträge, die amerikanische Verfassung, all das basiert heute selbstverständlich auch auf Alphabetschriften, von den Wissenschaften ganz zu schweigen.
A photograph supplied by the Hebrew University in Jerusalem on 30 October 2008 shows the 'ostracon' with hebrew writing in ink on a ceremaic plaque that was discovered in an archaeological excavation in the Elah Fortress in the Galilee in northern Israel. Archaeologisits say it is the earlies example of Hebrew writing and has been carbon 14 dated to 3,000 years ago, some 1,000 years older than the dead Sea scrolls.The inscription has yet to be deciphered but initial interpretation indicates the text was part of a letter and it contains of the words 'judge', 'slave' and 'king.'
Hebräischer Text auf einer 3000 Jahre alten Tonscherbe (DPA / epa / Hebrew University)
Main: Jetzt aber noch mal zum Mitschreiben. Wie ist der Zusammenhang von Noah-Geschichte, Schrift und Sem?
Blume: Im Judentum, also in der biblischen Überlieferung der Noah-Geschichte wird quasi erzählt, wie die erste Vorstellung eines allgemeinen Menschenrechts und eines Bildungsbegriffs vonstattengegangen sei. Das ist eine mythologische Geschichte. Wir müssen nicht davon ausgehen, dass die sich wortwörtlich so abgespielt hat.
Aber an Noah und dessen Sohn Sem wird festgemacht: Gott ist kein Tyrann mehr, Gott bindet sich selbst an ein Recht, ein Recht, das für alle Menschen gelten soll, unabhängig von Hautfarbe, von Herkunft. Es soll ein Bildungsideal formuliert werden, es soll gelebt werden, dass alle Menschen lesen und schreiben können. Auf dieser Basis entstehen dann die semitischen Religionen und als allererstes das Judentum.
Schon der Pharao der biblischen Geschichte des 2. Buches Moses hat Angst vor den hebräischen Sklaven. Denn die können lesen und schreiben, die halten zusammen, die töten keine Kinder, keine Mädchen, sind kinderreich – wir haben da den ganzen Antisemitismus quasi angelegt gefunden – und so sind diese alten biblischen Überlieferungen und die jüdischen Auslegungen dazu bis heute eine Fundgrube um zu verstehen, wie sich Kultur entwickelt hat und wie sie sich bis heute entwickelt.
"Bildung ist der Schlüssel"
Main: Nun haben Sie die Vorteile dieser Schrift sehr eindringlich beschrieben, diesen Zivilisationsfortschritt. Ein Einwand meinerseits, das Arabische funktioniert ähnlich wie das Hebräische, dort sehen wir aber keine überproportionale Häufung von Nobelpreisträgern wie bei jüdischen Forschern. Spricht das nicht gegen Ihre These?
Blume: Wir hatten ja letztes Jahr über mein voriges Buch "Islam in der Krise" gesprochen. Da war der Befund: Das Verbot des Buchdrucks 1485 in der islamischen Welt, also, dass Bücher nicht gedruckt werden durften in arabischen Lettern, hat tatsächlich die Blüte der islamischen Kultur, die es ja bis dahin gab, abgebrochen.
Im 12. / 13. Jahrhundert war die islamische Welt in vielem weiter als Europa. Heute ist das ganz, ganz massiv abgefallen. Da ist auch Bildung der Schlüssel. Also, wenn man - das ist ja der Untertitel meines Buches - auf etwas hinweisen kann, dann darauf, dass wir müssen deutlicher wahrnehmen müssen, wie enorm wichtig Medien sind. Schriften, Buchdruck, elektronische Medien, Radio und Film und jetzt die digitalen Medien wälzen Gesellschaften um.
Da nicht mitzumachen, ist keine gute Idee. Da aber blind mitzumachen und nicht auf die gefährlichen Seiten zu sehen, ist auch keine gute Idee. Unser Denken, unser Fühlen, unsere Religionen sind immer auch durch Medien geprägt. Wenn das angekommen ist, da wäre ich schon richtig glücklich.
Main: Der Religionswissenschaftler Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter des Landes Baden-Württemberg in der Sendung "Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft" im Deutschlandfunk. Herr Blume, Sie haben sich bereits früher immer wieder in Büchern und Blog-Posts über Verschwörungsmythen geäußert, Sie haben es eben auch angeschnitten, welche Mechanismen des Verschwörungsmythos greifen speziell beim Antisemitismus?
"Antisemitismus ist gefährlichste Spielart des Rassismus"
Blume: Bei anderen Formen von Rassismus werden die Gruppen abgewertet, also wer antinegriden Rassismus vertritt oder Antiziganismus, der behauptet, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Roma und Sinti sozusagen minderwertig seien.
Beim Antisemitismus findet dagegen eine Aufwertung statt. Die Leute glauben, die Juden wären besonders intelligent, von ihrer Genetik her und verschlagen und verschwörerisch. Das macht das Ganze so gefährlich: Antisemiten glauben wirklich, sie werden angegriffen. Sie glauben zum Beispiel, dass Zuwanderer Invasoren sind, die von den Juden kontrolliert werden, nach Europa gebracht werden. Die Roma und Sinti wurden beschuldigt, sie hätten erst in Indien die Arier 'umgevolkt' und seien dann nach Europa geschickt worden. So was hören wir heute wieder über Araber oder Afrikaner, das seien Invasoren.
Prompt haben wir antisemitische Angriffe auf Synagogen und auf Moscheen – Christ Church zum Beispiel –, wo es heißt: 'Ich verteidige mein Land gegen die Invasion, und die Juden steckten dahinter.' Da kann man also sehen: Der Antisemitismus ist ganz, ganz besonders gefährlich, weil die Leute tatsächlich ein Weltbild entwickeln, wo sie sagen, die Welt wird von bösen Mächten beherrscht, die stecken hinter allem, was schiefläuft und das sind die Juden und ihre nicht-jüdischen Mitverschwörer. Dann glauben die, sie müssten sich mit Gewalt dagegen wehren.
Das macht den Antisemitismus zur gefährlichsten Spielart einer rassistischen Weltanschauung, die wir haben. Deswegen ist es auch falsch zu sagen, das sei nur irgendeine Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Das ist die gefährlichste.
Main: Weil Antisemitismus ein Verschwörungsmythos ist, kann selbstverständlich dann auch ein Jude dieser Ersatzreligion anhängen und antisemitisch sein.
Blume: Ja, selbstverständlich. Jitzchak Rabin, der israelische Ministerpräsident, wurde ermordet von einem Extremisten unter dem Vorwurf, er habe sich gegen das wahre Israel verschworen. Also, da möchte ich bitten, endlich zu unterscheiden zwischen Genetik und Psychologie. Selbstverständlich können Menschen überall und jeder Herkunft an Verschwörungsmythen glauben und auch gewalttätig werden.
Bei der "Al-Kuds"-Demonstration jetzt in Berlin – eine skandalöse Demonstration – da marschieren Leute aus dem Iran, schiitische Muslime mit Rechtsextremen, Linksextremen und auch ultraorthodoxen Juden gemeinsam und sagen, der ganze Staat Israel wäre eine bösartige Verschwörung.
Approximately 2000 participants of the anti-Israel al-Quds demonstration are passing through Berlin. The police accompany the event with the utmost vigilance. Every year it comes to anti-Semitic incitement and crime. The protest now attracts extremists of the political spectrum, from sympathizers of Hamas and Hizballah to neo-Nazis. Motto of the event "Crusade against Islam? Together against the injustice on the street!". (Photo by Simone Kuhlmey/Pacific Press) | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Anti-israelische Al-Kuds-Demonstration in Berlin (Simone Kuhlmey/Pacific Press / picture alliance)
Also, hören wir bitte auf, so zu tun, als ob Verschwörungsüberzeugungen in den Genen angelegt wären. Da können Menschen drauf reinfallen – egal, welcher Herkunft oder Religion sie sind – und das ist dann immer gleichermaßen gefährlich.
Ich hätte mir gewünscht, dass man sieht, dass – in Israel Jitzchak Rabin, der Mord in Ägypten an Sadat, in Indien Mahatma Ghandi – dass vor radikalen Überzeugungen, Verschwörungsüberzeugungen niemand gefeit ist. Noch einmal mit Elie Wiesel: ‚Haben wir den Mut auf die dunklen Seiten auch unserer eigenen Herzen zu sehen‘ und das nicht immer nur irgendwo anders zu vermuten!
Main: Versuchen wir mal so zum Ende hin etwas zusammenzufassen. Ich formuliere jetzt mal mit eigenen Worten Ihre Kernthese und Sie sagen mir, ob ich es richtig verstanden habe. Also, wir haben hier Semiten, Alphabet- und Mythenbringer, zukunftsorientiert und offen für Erlösung und Geschichte. Und dort Antisemiten, gefangen in Mythen des Untergangs und der Verschwörung. Ist das die Trennlinie?
Blume: Ja. Jein.
Main: Jein.
Blume: Ich würde sagen, wir alle haben als Menschen – auch Sie und ich –, wir alle haben unterschiedliche Überzeugungen in uns. Auch ich kenne das, vor allem jetzt, da ich über 40 werde, dass ich manchmal denke, oh, früher war alles besser. Also, ich würde nicht sagen, dass wir die Menschen so unterteilen können. Aber ich würde sagen, wenn wir in uns reinhorchen, in uns reinschauen, dann merken wir, dass wir alle durch unterschiedliche Mythen und Medien geprägt sind. Da gibt es Gutes drunter - und da gibt es auch Gefährliches drunter.
Wir haben helle Seiten unseres Herzens - und wir haben dunkle Seiten. Wenn wir lernen, damit umzugehen, aus der Geschichte zu lernen, diesen dunklen Seiten entgegenzuwirken, dann haben wir eine bessere Zukunft als Juden, Christen, Muslime, Nichtreligiöse, auf der Basis von gleichem Recht, von Menschenrechten. Das ist die Zukunft, die ich mir wünsche und für die ich arbeite und eintrete.
Main: "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht – Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern", so heißt das neue Buch des Religionswissenschaftlers Michael Blume, Referatsleiter für nichtchristliche Religionen im Staatsministerium Baden-Württemberg sowie Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus. Herr Blume, danke für Ihre Zeit, danke für diese Einschätzungen.
Blume: Vielen Dank, Herr Main.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Blume: "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht – Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern."
Patmos Verlag, Ostfildern 2019.
208 Seiten, Hardcover 19,- Euro, E-Book 14,99 Euro.