Donnerstag, 28. März 2024

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Antisemitismus
"Nicht nur ein Vorurteil, sondern eine affektive Haltung"

Wer Antisemiten einfach nur als dumm abstempele, greife zu kurz, sagte Sozialpsychologe Sebastian Winter im Dlf. Antisemitismus sei für viele attraktiv, weil er eine heile Wir-Gruppe verspreche, in der es keine Konflikte gebe. Mit diesem emotionalen Aspekt habe man sich bislang kaum auseinandergesetzt.

Sebastian Winter im Gespräch mit Stephanie Rohde | 12.10.2019
Ein Hakenkreuz und ein durchgestrichener Davidstern sind an einer Gedenkstätte zu sehen.
Nach dem Nationalsozialismus gab es ein gewisses Kommunikationstabu des Antisemitismus - aktuell werde er wieder offener geäußert, sagte Psychologe Winter im Dlf (dpa-Bildfunk / Daniel Reinhardt)
Stephanie Rohde: In den vergangen Tagen gab es eine unmissverständliche Botschaft: Antisemitismus darf keinen Platz in Deutschland haben. Politikerinnen und Politiker haben das nach dem Terroranschlag von Halle immer wieder betont. Der mutmaßliche Attentäter hat inzwischen gestanden, dass seine Tat antisemitisch und rechtsextrem motiviert war.
Innenminister Horst Seehofer lässt nun ein Verbot von rechtsextremen Gruppen prüfen. Gestern Abend haben sich in Halle erneut viele Menschen versammelt und der Opfer gedacht.
Diese Bekenntnisse und Solidaritätsbekundungen sind wichtig, auch weil Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft weiter verbreitet ist als man gemeinhin annimmt.
Das sagt zumindest der Sozialpsychologe Sebastian Winter von der Hochschule Hannover. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Feindbildern, mit Ressentiments und deutscher Erinnerungskultur bezüglich des Nationalsozialismus, und ich habe ihn gefragt, warum sagen Sie, dass Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft präsenter ist als man denkt?
Sebastian Winter: Nun, warum, erst mal muss man erkennen, dass er überhaupt auch in der Mitte der Gesellschaft verbreitet ist, was ja oftmals abgestritten wird und abgetan wird als irgendwie ein Randphänomen von einzelnen Leuten, die dann identifiziert werden als die Antisemiten.
Ich denke, es ist viel wichtiger, Antisemitismus zu begreifen als ein allgemeines Klima in der Gesellschaft, was in vielfältigen Formen dann von Karikaturen in der "Süddeutschen Zeitung" zum Rapper Kollegah oder natürlich aber auch in Einstellungsuntersuchungen und den Straftaten, den Gewalttaten sich zeigt.
Warum ist er so weit verbreitet, das ist natürlich eine wichtige Frage. Antisemitismus ist attraktiv. Niemand zwingt jemanden, Antisemit zu sein, Antisemitin zu sein. Die Frage ist, warum ist er attraktiv. Da gibt es verschiedene Erklärungsmuster, die meines Erachtens nicht besonders weitreichen. Zum Beispiel die Variante, wer antisemitisch denkt, ist einfach zu dumm, um die Komplexität der Welt zu begreifen und sucht sich deshalb einfache Erklärungsmuster.
Diese Konzentration auf die kognitive Ebene, also die Frage, ist die Person intelligent genug, kann sie die Komplexität kognitiv erfassen, das führt meines Erachtens nicht besonders weit. Antisemiten sind nicht dumm, es gibt sehr intelligente Antisemiten, sondern es geht um die Affekte, um die emotionale Ebene. Antisemitismus ist affektiv.
"Antisemitismus als affektive Haltung"
Rohde: Was heißt das genau, was meinen Sie damit, affektiv attraktiv?
Winter: Damit meine ich, dass der Antisemitismus nicht nur ein Vorurteil ist, nicht nur eine falsche Meinung oder so, ein dummes Vorurteil, sondern eine affektive Haltung.
Damit meine ich, so etwas wie, dass die affektive Attraktivität des Antisemitismus seiner Verheißung entspringt. Der Antisemitismus verheißt so etwas wie volle Identität, so hat Isolde Charim das genannt, eine volle Identität im Kampf gegen das imaginierte, zersetzende Böse.
Es verspricht eine heile Wir-Gruppe, in dem nichts Böses ist, in dem keine Konflikte sind, eine Gruppe, die frei von Konflikten, von Ambivalenzen ist, von Selbstzweifeln, und alles Böse ist außen und im Zentrum des Bösen, dieses Zersetzenden, die Identität auflösenden Bösen ist die imaginierte antisemitische Figur des Juden.
Julian Nida-Rümelin, Philosoph
Philosoph Julian Nida-Rümelin / Der antisemitische Bodensatz ist "wieder sehr massiv"
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Rohde: Aber ist das nicht ein bisschen einfach, weil man da ja Gefahr läuft, ganz schnell zu sagen, das ist ein sehr menschlicher Impuls, ein einheitliches Verständnis haben zu wollen, etwas nur Gutes zum Beispiel?
Winter: Ich würde sagen, da muss man sich hüten vor zwei Polen. Einerseits, nein, allgemein menschlich ist das nicht. Nicht jede Gesellschaft ist durch ein antisemitisches Klima bestimmt.
Andererseits ist es aber auch nicht eine Eigenschaft von einzelnen Menschen mit besonderen Persönlichkeitseigenschaften, also ähnlich wie die Vorstellung, die Antisemiten sind zu dumm, gibt es ja auch die Vorstellung, die Antisemiten sind verrückt, das ist durchgeknallt, die sind psychisch krank. So ist es auch nicht. Das lässt sich auch belegen empirisch, statistisch.
Weder sind sie dumm noch verrückt, sondern es ist eher etwas wie ein Potenzial, eine potenzielle Reaktionsform auf Krisenerfahrung, auf innere und äußere Konflikterfahrung, die Menschen möglich ist, die aber ja immer auch eines kulturellen Rahmens bedarf, einer Ideologie, einer antisemitischen Ideologie, um sich auszudrücken, um in Erscheinung zu treten. Sonst ist sie nur ein Potenzial.
Antisemitismus als Leidenschaft
Rohde: Und Sie sagen in dem Zusammenhang, dass Antisemitismus eine Art Leidenschaft ist. Das klingt wahnsinnig befremdlich. Warum sagen Sie das und wem würden Sie das unterstellen eigentlich?
Winter: Das stammt ja nicht von mir, sondern von dem französischen Philosophen Jean-Paul Sartre. Der hat einmal formuliert, der Antisemitismus ist keine Denkweise, sondern eine Leidenschaft, und damit zielt er im Prinzip aber genau auf dasselbe, worauf ich hinaus will.
Also er ist nicht nur eine Denkweise, das heißt, nicht nur ein falsches Denken, eine falsche Erklärung der Welt. Dass die Juden die Banken lenken und die Wirtschaftskrisen verursachen, ist natürlich eine falsche Weltsicht, es stimmt nicht, aber es ist nicht nur eine Denkweise, sondern es ist auch eine Leidenschaft.
Damit meint Sartre, diese affektive Qualität, dieses auch Enthusiastische am Antisemitismus, an dem Kampf für diese volle Identität, die mehr ist als nur ein falsches Denken. Man könnte auch sagen …
Menschen in Halle versammeln sich auf dem Marktplatz hinter abgelegten Blumen und Kerzen.
Kampf gegen rechten Terror / Juden müssen in Deutschland eine sichere Heimat haben
Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle bekunden viele Menschen Solidarität und die Politik verspricht mehr Sicherheit. Dem müssen schnell Taten folgen, kommentiert Marcus Pindur.
Rohde: Aber geht das nicht ein bisschen zu weit, wenn Sie jetzt sagen, Entschuldigung, wenn Sie jetzt sagen, dass das auch in der Mitte der Gesellschaft auftaucht? Geht es nicht ein bisschen zu weit, das so vielen Menschen zu unterstellen, so pauschal?
Winter: Das gibt es natürlich in ganz unterschiedlichen Auswirkungen. Anlass des Interviews ist ja das Attentat in Halle.
Da haben wir jemanden, der sich wirklich als Kämpfer für das Volk inszeniert, ein expliziter Rechtsextremer, der sich bewaffnet, ein Schwert hat, sich als Ritter inszeniert.
Das ist natürlich nicht die Form, die der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft dann annimmt oder bei den meisten annimmt, sondern da ist es sehr viel sublimer.
Aber auch da sind Bilder verbreitet von Vorstellungen von einer heilen Heimat zum Beispiel, die verteidigt werden muss gegen die bösen Feinde von außen, wo dann sehr leicht antisemitische Klischees auch mit reinkommen.
Immer wenn dieser Gegensatz aufgemacht wird zwischen dem kleinen, heilen heimatlichen Zuhause versus das böse, von außen Kommende, dann ist der Antisemitismus nie besonders weit, auch wenn es nicht explizit dann um Kampf in dem Sinne geht.
"Antisemitismus wurde tabuisiert"
Rohde: Trotzdem muss man ja sagen, dass die meisten Deutschen von sich sagen, sie seien keine Antisemiten, also ganz dezidiert nicht. Wie kann es dann sein, dass trotzdem solche Denkstrukturen vorhanden sind?
Winter: Das hat erst mal ja überhaupt keinen Einfluss darauf, was man denkt, wofür man sich hält. Natürlich, es hat sich was geändert.
Um 1900 rum gibt es noch Parteien, die sich explizit Antisemitenparteien nennen, da war es nicht verpönt, sich Antisemit zu nennen. Heutzutage, nach dem Nationalsozialismus, gab es ein gewisses, wie fragil auch immer, sogenanntes Kommunikationstabu des Antisemitismus.
Es konnte in bestimmten öffentlichen Räumen, im Bundestag, den Medien, nicht mehr offen antisemitisch geredet werden. Es war ein Stück weit tabuisiert.
Nach Angriff in Halle (Saale) legen Menschen Blumen und Kerzen an der Tür der Synagoge nieder
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Rohde: Was ja auch die Errungenschaft war, dass man nicht mehr …
Winter: Das ist eine Errungenschaft, auf jeden Fall. Das ist eine totale Errungenschaft, die aber gerade aktuell ins Wanken gerät.
Also gerade auch dieser Begriff des Tabus verweist ja auch darauf, etwas Tabuisiertes ist nicht weg, es ist nur tabuisiert.
Weil der Antisemitismus, meines Erachtens zumindest, nie wirklich fundiert aufgearbeitet wurde, kann er auch noch weiter wirken, und aktuell findet er wieder einen stärkeren Ausdruck, er wird offener, äußert sich offener, aber größtenteils immer noch unter dem Vorzeichen, wir sind doch keine Antisemiten.
Rohde: Andererseits muss man sagen, Deutschland versucht ja seit dem Krieg sukzessive genau diesen Antisemitismus aufzuarbeiten. Es gibt Aufklärungskampagnen, es gibt Mahnwachen und so weiter. Also da kann man ja nicht sagen, das sei nicht aufgearbeitet worden.
"Antisemiten, das sind die anderen"
Winter: Na ja, die Frage ist, wie weit es aufgearbeitet wurde. Natürlich ist viel passiert, und natürlich spätestens seit den 80er-Jahren, als dann die ganze Gedenkstättenbewegung stärker wurde, ist natürlich sehr viel passiert, und es ist sehr viel aufgearbeitet worden, und es gibt das Mahnmal in Berlin. Trotzdem wurde sich mit bestimmten Aspekten, gerade den affektiven Aspekten, den Aspekten der affektiven Attraktivität des Antisemitismus meines Erachtens viel zu wenig beschäftigt.
Da steht immer noch ein großer Bedarf an selbstkritischer Auseinandersetzung an. Stattdessen ist es sehr einfach, und das wird oft gemacht, es von sich wegzuschieben einfach, das sind die anderen, die Dummen, die Verrückten oder die Nazis, mit denen man selbst angeblich nichts zu tun hat.
Rohde: Aber was hätte man denn tun sollen, um sich mit dieser affektiven Komponente auseinanderzusetzen?
Winter: Ich habe ja selbst auch in der Bildungsarbeit mit Jugendlichen vor allem gearbeitet in der Gedenkstättenarbeit.
Es ist nötig, sich mit der Ideologie auseinanderzusetzen. Es ist nötig, sich auseinanderzusetzen mit dem, was ich vorhin die Verheißung genannt habe, die Verheißung der Volksgemeinschaft oder die Verheißung des Antisemitismus als Gegenstück dazu.
Rohde: Das wird ja im Unterricht getan.
Winter: Das ist gut, wenn das getan wird. Das halte ich genau für den richtigen Ansatz, was aber noch nicht besonders lange wirklich getan wird.
"Antisemitismus ist erst mal kein deutsches Phänomen"
Rohde: Was würden Sie sagen, wie hängt der Antisemitismus und die deutsche Identität zusammen? Gibt es da einen Zusammenhang?
Winter: Na ja, ich würde sagen, also Antisemitismus ist erst mal kein deutsches Phänomen. In den anderen europäischen Ländern, weltweit, finden wir Antisemitismus auch in ähnlichen Ausprägungen und mit ähnlichen Stereotypen.
Ich würde trotzdem sagen, wenn wir uns jetzt den aktuellen Antisemitismus angucken, dass es in Deutschland eine Besonderheit gibt, die dem Ganzen noch mal eine spezifische Färbung gibt, dadurch, dass, wenn ich wieder den Begriff aufgreife der vollen Identität, dann heißt es ja, wenn es dann um nationale Identität geht, dann stört in Deutschland etwas, in Deutschland stört die nationale Identität die Verbrechen, die Verbrechen des Nationalsozialismus, die nicht wegzuleugnen sind.
Nach dem Anschlag in Halle / Warum der Antisemitismus nie weg war
Nach dem tödlichen Anschlag in Halle stellt sich erneut die Frage: Werden rechtsextremistischer Terror und Antisemitismus in Deutschland und andernorts unterschätzt?
Rohde: Die Verbrechen sind doch Teil der nationalen Identität geworden, auch des kollektiven Andenkens und Erinnerns.
Winter: Ja, das ist die eine Variante von nationaler Identität, die eine gewisse Ambivalenz und Brüchigkeit dann in sich aufgenommen hat.
Die andere Variante aber, die wir jetzt zum Beispiel aktuell von rechter Seite propagiert sehen, versucht ja nicht, die Verbrechen aufzunehmen, sondern sie wegzuschieben, sie kleinzumachen mit Sprüchen wie, es war nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte, oder auch der Attentäter in Halle sagt, bevor er sich da ranmacht, so viele Juden und Jüdinnen wie möglich zu erschießen: I think the Holocaust never happened.
Also es gibt ein Bedürfnis, die Verbrechen, den Holocaust, die Shoah zu leugnen oder sie kleinzumachen, sie unwichtig zu machen, weil sonst ist es ein Problem mit dieser heilen, ganzen deutschen Identität. Sie bleibt dann brüchig und zweifelnd und in sich ambivalent.
"Was heißt eigentlich deutsche Identität?"
Rohde: Das heißt aber, letztlich muss man dann an dem arbeiten, was Deutschsein und deutsche Vergangenheit bedeutet.
Winter: Auf jeden Fall, das meine ich mit sich selbstkritisch damit auseinanderzusetzen. Was heißt eigentlich deutsche Identität, was kann deutsche Identität heißen, und dafür ist es natürlich notwendig, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Rohde: Ich frage mich gerade, ob dieses "nie wieder" von Auschwitz eine negative Identität für die Deutschen kreiert hat im Sinne von: Wir identifizieren uns darüber, dass wir diejenigen sind, die das nie wieder tun werden und aber ein positives Gegenstück dazu fehlt und das auch Teil des Problems ist, dass jetzt der Antisemitismus wieder so latent aufkommt.
Winter: Ich bin da sehr skeptisch, was es anbelangt, ein positives Gegenstück zu entwickeln. Was könnte eine positive deutsche Identität sein, da schwingt ja wieder mit dieses Bedürfnis nach einer nur positiven Identität, und das wird es nicht geben. Also Identitäten sind immer etwas, was auch in sich brüchig sein wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.