"Antisemiten als Koalitionspartner?" Unter diesem Titel erschien 2011 in der "Zeitschrift für Politik" ein Artikel des Politologen Samuel Salzborn und des Historikers Sebastian Voigt, der für Aufruhr sorgte. Der antisemitische Antizionismus, so Salzborn und Voigt, sei innerhalb "der Linken" inzwischen so konsensfähig geworden, dass sich eine Koalition mit der Linkspartei verbiete. Als Beleg diente den Autoren unter anderem die Beteiligung dreier Bundestagsabgeordneter der Linken an der von türkischen Islamisten organisierten Gaza-Flottille. Was folgte, waren ein Aufschrei der Empörung, eine aktuelle Stunde im Bundestag und zahllose Artikel zur Frage, ob und wie antisemitisch die Linke im Allgemeinen und die Partei DIE LINKE im Besonderen sei. Auch der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich hat sich bereits damals mit einer Replik auf den erwähnten Artikel zu Wort gemeldet und geht dem Thema in seinem Buch "Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs" nun ausführlicher nach. Der Bezug zum Nationalsozialismus – und damit die Gefahr des Antisemitismus - sei in der Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt in Deutschland immer vorhanden, ist Ullrich überzeugt, anders sei die Vehemenz, mit der gerade in der politischen Linken über Israel gestritten werde, nicht zu erklären.
"Dass die deutsche Geschichte nicht folgenlos für die mediale Deutung des Nahostkonfliktes ist, ist hoch plausibel, da die Entstehung des Staates Israel untrennbar mit der von Deutschen geplanten und durchgeführten industriellen Massenvernichtung von sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden verbunden ist."
Doch so einig in der Radikalität ihrer jeweiligen Position, so zerstritten ist die Linke in ihrer ganz unterschiedlichen Parteinahme: Anhand der Berichterstattung über die Räumung der jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen vor gut acht Jahren macht Ullrich deutlich, dass linke Medien in Deutschland entgegengesetzte Standpunkte einnehmen: Das "Neue Deutschland", die "Junge Welt" und die Wochenzeitung "Freitag" solidarisieren sich vor allem mit den Palästinensern und beschreiben die Räumung der Siedlungen als geschickten Schachzug der Israelis, um ihre Macht zu stärken, während sich die Zeitschrift "konkret" und die Wochenzeitung "Jungle World" hinter Israel stellen und die Verwüstung der geräumten Siedlungen durch die Palästinenser als Versuch interpretieren, alle Spuren jüdischen Lebens zu vernichten.
Blinde Palästina-Solidarität und Islamophobie
In beiden Fällen, so Ullrich, werde zum Teil ein Vokabular verwendet, das auf Sprache und Denkmuster der Nationalsozialisten verweise. Vor allem die teils blinde Palästina-Solidarität manch antiimperialistischer Gruppen sei von antisemitischen Schablonen durchzogen. Doch auch die so genannten Antideutschen und bedingungslosen Pro-Israel-Unterstützer kommen kaum besser weg. Sie hätten den Antisemitismus nur durch Islamophobie ersetzt und seien deswegen nicht in der Lage oder willens, Empathie für die Opfer der israelischen Besatzungsherrschaft zu empfinden und ihren eigenen antimuslimischen Rassismus, für Ullrich nicht weniger schlimm als der Antisemitismus, zu erkennen - das Ganze mit einem Gefühl der Überheblichkeit, den einzig richtigen Schluss aus der deutschen Geschichte gezogen zu haben. Ullrich geißelt das als deutschen Exzeptionalismus und Partikularismus und stellt ihm einen Universalismus von links gegenüber, der nach allgemeiner menschlicher Emanzipation strebe. Die Richtschnur dafür liefert ihm die Forderung von Karl Marx:
"dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."
Ein parteilicher Forscher, der sich einmischen will
Methodisch bezieht sich Ullrich vor allem auf die Kritische Diskursanalyse, die, aufbauend auf dem Denken Michel Foucaults, im Duisburger Institut für Sozial- und Sprachforschung entwickelt wurde. Antisemitismus ist aus dieser Perspektive weit mehr als die Verwendung klassischer antijüdischer Stereotype, es geht auch um Anschlüsse an antisemitische Diskurse. Eine solche Anschlussmöglichkeit besteht zum Beispiel bei der Forderung nach einem Boykott israelischer Waren aus den besetzten Palästinensergebieten, die Ullrich aus Emanzipationsgesichtspunkten für richtig hält. Zugleich aber konzediert er, dass ein solcher Boykott wegen seiner begrifflichen Nähe zum Judenboykott immer auch antisemitisch interpretier- oder lesbar ist. Wer aber bestimmt, ob und wann eine Aussage als antisemitisch zu lesen oder zu werten ist? Der Vorwurf des Antisemitismus ist schließlich kein geringer: Er soll skandalisieren und Menschen vom Diskurs ausschließen, wie es auch Ullrich fordert. Kein Wunder also, dass viele linke Israel-Kritiker Angst vor diesem Vorwurf haben und beinahe reflexartig eine Abwehrhaltung einnehmen. Hinter dieser, so Ullrich, könne sich die Unwilligkeit verstecken, sich kritisch mit dem eigenen Antisemitismus auseinanderzusetzen, doch die Abwehrhaltung könne auch einen anderen Grund haben, nämlich:
"die Abwehrhaltung gegen einen mit tatsächlich kontinuierlicher Willkür, Beliebigkeit und Aggressivität vorgetragenen (…) Antisemitismusvorwurf, der Menschen diffamiert und delegitimiert – und somit vom Instrument der Kritik zum allzeit bereiten "Herrschaftsinstrument" verkommt."
Herrschaft aber will Ullrich, der sich immer wieder zum Links-sein bekennt, bekämpfen. Wie das Duisburger Institut für Sozial- und Sprachforschung versteht auch er sich als parteilicher Forscher, der sich politisch einmischen will - zugunsten von Diskriminierten, Minderheiten und Migranten. Das bringt ihn in Sachen Solidarität mit Israel in eine Zwickmühle: Einerseits unterstreicht er die Bedeutung eines klaren Bekenntnisses zum Existenzrecht Israels, um antisemitischen Tendenzen vorzubeugen, doch an anderer Stelle stellt er genau diese Forderung nach uneingeschränkter Solidarität mit einem Kollektiv - und eben nicht mit einzelnen Menschen – in Frage.
"Eine Zumutung liegt auch dann vor, wenn es sich beim fraglichen Kollektiv um den Staat Israel handelt, der aufgrund nicht offengelegter Prämissen vom Gültigkeitsbereich universaler Menschenrechte (…) ausgenommen bleiben soll."
Ullrichs Buch ist ein Plädoyer für einen linken Universalismus, der sich der Gefahr nicht nur des Antisemitismus, sondern auch des Rassismus bewusst ist. Beides sind für ihn Partikularismen, die er ablehnt, genauso wie den Nationalismus bzw. das Denken in nationalen Kategorien. Diese Ablehnung mag aus deutscher – und vor allem linker deutscher - Sicht verständlich sein, für ein Verständnis des Nahostkonfliktes greift sie viel zu kurz. Ohne die nationalen, und das heißt partikularen und nicht universalistischen, Ambitionen auf jüdischer wie palästinensischer Seite ernst zu nehmen, lässt sich dieser Konflikt weder verstehen noch lösen.
Peter Ullrich: "Deutsche, Linke und der Nahostkonflikt. Politik im Antisemitismus- und Erinnerungsdiskurs"
Wallstein Verlag, 208 Seiten, 19,90 Euro
Wallstein Verlag, 208 Seiten, 19,90 Euro