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Antisemitismusvorwurf
Umstrittene Stimme

Der Göttinger Friedenspreis 2019 geht an den Verein "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Der Zentralrat der Juden kritisiert die Entscheidung, da der Verein die Boykottbewegung gegen Israel unterstütze. Stadt und Uni distanzierten sich von der Auszeichnung, verliehen wird er trotzdem.

Von Michael Hollenbach | 07.03.2019
Die Buchstaben BDS - für Boycott, Divestment and Sanctions - werden von Demonstranten hochgehalten, die anlässlich des Besuchs des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Bundeskanzerlamt in Berlin im Juni 2018 protestierten
BDS-Protest - für Boycott, Divestment and Sactions - vor dem Bundeskanzleramt in Berlin anlässlich des Besuchs des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Berlin 2018 (imago/Stefan Zeitz)
Zu den schärfsten Kritikern der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost" gehört Achim Dörfer, der zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Göttingen. Er begrüßt ausdrücklich den Rückzug von Universität, Stadt und Sparkasse von der Preisverleihung.
"Was für mich klar ist: Es darf dafür keine öffentliche Unterstützung geben. Es darf aus der Mitte der Gesellschaft keine Unterstützung geben."
"Das ist eine feige Rückzugsentscheidung, und sie ist auch unehrlich begründet", sagt dagegen Andreas Zumach.
Der Journalist ist Jury-Vorsitzender des Göttinger Friedenspreises. Er kritisiert, dass die Unipräsidentin und der Oberbürgermeister dem Druck des Zentralrats der Juden in Deutschland nachgegeben hätten.
"Denn sie haben die ausführlich begründete Entscheidung der Jury des Göttinger Friedenspreises geringer gewichtet als die Rufmordversuche, Falschbehauptungen des Zentralrat-Vorsitzenden der Juden Schuster."
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Der Journalist Andreas Zumach (privat)
"Unterstützung für die palästinensische Zivilgesellschaft"
Zumach steht hinter der Entscheidung, dass der Verein "Jüdische Stimme" am Sonnabend den Göttinger Friedenspreis erhalten soll:
"Die jüdische Stimme wurde ausgezeichnet, weil sie sich glaubhaft einsetzen für eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung, und dies gerade auch tun, weil sie sagen, die jetzige Situation mit der völkerrechtswidrigen Besatzung der palästinensischen Gebiete ist auch die größte Gefährdung für eine gesicherte und auf Dauer unbedrohte Existenz des Staates Israels."
Die Kritik an der jüdischen Stimme richtet sich vor allem gegen deren Nähe zur Boykottbewegung BDS:
Dörfer sagt: "Ich werfe der jüdischen Stimme vor, dass sie sich im Umfeld der BDS-Bewegung bewegen, diese unterstützen, und mit deren Zielen konform gehen."
Iris Hefets ist Vorsitzende der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost". Sie macht keinen Hehl aus ihrer Sympathie für die BDS-Bewegung.
Sie sagt: "Wir unterstützen den BDS-Aufruf der palästinensischen Zivilgesellschaft."
Die aus Israel stammende Wahl-Berlinerin findet den Antisemitismusvorwurf der Kritiker aber vollkommen überzogen:
"Das erinnert an die Angst der Weißen in Südafrika, die gesagt haben: Wenn wir die Segregation aufhören, dann gibt es Südafrika nicht mehr, dann werden uns alle Schwarzen vernichten. Da spielt eine größere Angst mit rein in Deutschland, auch aufgrund des Genozids, den die Deutschen verübt haben."
Volker Beck: Boykott ist "antisemitische Handlung"
BDS bedeutet Boykott, Abzug von Investitionen sowie Sanktionen. Die internationale Kampagne, die 2005 gestartet ist, will Israel politisch, wirtschaftlich und kulturell isolieren. Das Ziel von BDS: Israel müsse die Besetzung und Besiedlung der arabischen Gebiete beenden, den arabisch-palästinensischen Bürgern Israels volle Gleichberechtigung gewähren und allen Flüchtlingen und deren Nachkommen die Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen.
Der Grünen-Politiker Volker Beck, der bis 2017 Vorsitzender der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe des Bundestages war, warnt vor BDS: "Die BDS-Bewegung ist eine auf Antisemitismus ausgerichtete Kampagne, weil sie einseitig den jüdischen und demokratischen Staat mit Boykotten belegt, delegitimiert, und es kommt nicht drauf an, dass man sagt, ist die "Jüdische Stimme" antisemitisch, sondern die Unterstützung von BDS ist eine antisemitische Handlung."
Die Auseinandersetzung um BDS wird immer schärfer. Während zum Beispiel die katholische Friedensorganisation pax christi die Preisverleihung begrüßt, gibt es viele Christen aus dem christlich-jüdischen Dialog, die die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" kritisieren. Die Mitglieder dieses in Berlin ansässigen Vereins sind deutsche bzw. aus Israel stammende Jüdinnen und Juden.
"Deutsche Christen erlauben sich, Juden Antisemiten zu nennen"
Deren Vorsitzende Iris Hefets über die massive Kritik an ihrem Verein: Hefets sagt: "Es ist besonders schmerzhaft für Menschen, die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden sind, zu hören, dass sie antisemitisch sind. Das ist ein Unding. Deutsche Christen erlauben sich, Juden Antisemiten zu nennen, mit einem Rückenwind vom Zentralrat der Juden, und sind sich gar nicht ihrer Verantwortung bewusst, was es bedeutet, wenn sie die Geschichte so pervertieren."
Für Achim Dörfer von der Jüdischen Gemeinde Göttingen repräsentiert der Verein "Jüdische Stimme" lediglich eine kleine Minderheit:
"Das sind Leute, die aus Marketinggründen als Juden vorgehen. Es sind Juden, die mit der absoluten Mehrheit der Juden in Deutschland überhaupt nicht vernetzt sind, und es ist irreführend, als verträte man eine jüdische Meinung."
Die Publizist und Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille Micha Brumlik folgt am 06.03.2016 in Hannover (Niedersachsen) dem Festakt zur Eröffnung der diesjährigen christlich-jüdischen Woche der Brüderlichkeit.
Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler im "Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg" (dpa / Hauke-Christian Dittrich)
Die Auseinandersetzung um die "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost" ist paradigmatisch für den Streit um BDS. Der jüdische Publizist Micha Brumlik hat sich im Januar in einem Offenen Brief mit rund 100 jüdischen Intellektuellen, u.a. Noam Chomsky, Judith Butler und Eva Illouz, gegen Anfeindungen gegen die "Jüdische Stimme" gewandt. Brumlik kritisiert vor allem: "dass die amtierende israelische Regierung erhebliche Mittel aufwendet, um alle mögliche Formen der Kritik an ihr in das Licht des Antisemitismus zu rücken, und das ist heftigst zurückzuweisen."
Micha Brumlik verweist auf Medienberichte, nach denen die israelische Regierung einen zweistelligen Millionenbetrag investiert, um gegen BDS vorzugehen. So scanne ein Programm alle social media-Kanäle weltweit, um Aktivitäten der BDS-Bewegung aufzuspüren. Micha Brumlik vermisst eine rationale Debatte über die Politik Israels:
"Das ist Teil einer Strategie der amtierenden israelischen Regierung. Es wird zwar immer betont, natürlich ist es legitim, die Politik zu kritisieren, aber wenn es dann tatsächlich passiert, dann ist man sehr schnell mit dem Hammer des israelbezogenen Antisemitismus zur Hand. Wir sind auf der Ebene von Gerüchten und wozu Gerüchte politisch führen können, das haben wir ja in den 50er Jahren in den USA erlebt, das nennt man heute McCarthyismus."
"Man muss antisemitische Israelkritik auch antisemtisch nennen dürfen"
Der zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Göttingen, Achim Dörfer, weist solche Vorhaltungen zurück:
"So führt man keine Debatte, natürlich stimmt es überhaupt nicht, dass Israelkritik automatisch den Antisemitismusvorwurf abbekommt. Aber es gibt Israelkritik, die antisemitisch ist, und man muss die antisemitische Israelkritik auch antisemitisch nennen dürfen."
Auch nach der Verleihung des Göttinger Friedenspreises wird der Streit um BDS weitergehen - hoffentlich dann mit mehr Sachlichkeit und dem Austausch von Argumenten statt von Emotionen.