Freitag, 29. März 2024

Archiv

Antje Leser: "Luftschlösser sind schwer zu knacken"
Mädchen, die stehlen müssen

Jonas ist 17 und will nach dem Abitur studieren. Nika ist 15 und hat keine Zukunft. Ihr Clan zwingt sie zum Einbrechen in Häuser, zum "Homejacking". Antje Leser lässt in ihrem aktuellen Roman zwei Jugendliche aufeinandertreffen oder besser: -prallen, die verschiedener nicht sein könnten.

Von Karin Hahn | 16.01.2021
Die Schriftstellerin Antje Leser und ihr Buch „Luftschlösser sind schwer zu knacken“
Die Autorin Antje Leser hat für ihren Roman über Mädchen, die zum Einbrechen gezwungen werden, ausgiebig recherchiert (Porträt Antje Leser: Wiebke Leser, Buchcover: Magellan Verlag )
Jonas hat gerade die elfte Klasse beendet und freut sich auf den Sommer. In seinem kleinen Tonstudio will er neue Songs schreiben, Loops mixen und mit seinem Freund Flo abhängen. Der 17-Jährige mit den roten Haaren lebt bei seinen finanziell gut gestellten Eltern und wird sicher nach dem Abitur studieren.

Mädchen ohne Zukunft

Nika dagegen ist bisher nur ab und zu in die Schule gegangen, über eine berufliche Zukunft muss sie nicht nachdenken. Als sie mit sechs Jahren nach Deutschland kam, wurde sie zum Betteln gezwungen. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr bricht sie in Wohnungen ein und stiehlt Autoschlüssel von Luxuslimousinen. In Nikas gefälschtem Ausweis steht, dass die schlanke 15-Jährige zwölf Jahre alt ist, daher strafunmündig. So muss die Polizei sie freilassen, sollte Nika in Schwierigkeiten geraten. Diese beginnen jedoch, als Nika das Türschloss von Jonas' Wohnung knackt. Jonas' Eltern sind im Urlaub, aber er schläft in den oberen Räumen, als er ein Geräusch hört.
"'Wie bist du hier reingekommen?', brüllte ich und tackerte sie mit beiden Händen am Boden fest. Schwer atmend funkelte sie mich aus tiefgrünen Augen an. Alter! Noch nie in meinem Leben hatte ich so ein Grün gesehen. Ich meine, es war nicht so ein Blaugrün, bei dem alle immer gleich ausrasten, oder so ein Goldgrün wie bei Katzen. Nein, es war mehr ein Schlammgrün, wie wenn man in einem See schwimmt, der voller Algen ist. (…)
Ich zerrte sie auf die Füße. Sie schrie vor Schmerz auf. ,Arschloch!', fauchte sie in astreinem Deutsch. (…) Während ich noch überlegte, was ich der Polizei sagen sollte, trat sie mir mit ihren rabenschwarzen Doc Martens auf meine nackten Zehen. Ich schrie auf und ließ ihren Arm los."
Nika entkommt ohne Autoschlüssel, aber mit Jonas' teurem Smartphone. Als er sein Handy ortet und die Diebin ziemlich naiv zur Rede stellt, wird er von ihren beiden Cousins brutal zusammengeschlagen.

Existentielle Situationen

Antje Leser konfrontiert in immer neuen, auch existentiellen Situationen die beiden sehr unterschiedlichen Jugendlichen und erzählt mal aus der Sicht von Jonas, dann wieder aus der Perspektive von Nika. Dem Schreiben des Romans, so erzählt Antje Leser, gingen lange Gespräche mit Hilfsorganisationen und Polizisten voraus. Aber auch eigene Erfahrungen:
"Ich habe selber drei Töchter, insofern konnte ich Jonas' Welt ganz gut nachvollziehen. Denn was Jonas erlebt hat, das kenne ich von meinen Mädels. Bei Nika war es natürlich deutlich schwieriger. Da hatte ich aber das Glück, dass ich mit einem Essener Anwalt telefonieren konnte, der genau diese Mädels vertreten hat. Und der hat so ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert für mich und hat mir erzählt, wie diese Mädchen aufwachsen, wie die Familien gestrickt sind und natürlich auch, dass es sehr sehr schwer ist, aus dieser Situation auszubrechen. Dass es eigentlich fast unmöglich ist."

Beste Autoschlüssel-Diebin

Nika und ihre Freundin Leni, beide spezialisiert auf das sogenannte "Homejacking", stehen immer unter Bewachung durch die Familie, die nur die Sprache der Gewalt versteht. Als die Mädchen es endlich mal schaffen, allein tanzen zu gehen, begegnen sie Jonas, der im Club Musik auflegt, und seinem Freund Flo. Die vier Jugendlichen kommen sich näher. Allerdings ist den Jungen nicht klar, in welchen mafiösen Strukturen die Mädchen sich bewegen und was es für ihr eigenes Leben bedeutet, wenn sie in Kontakt bleiben. Auch wenn Nika selbstbewusst, attraktiv und zu Beginn noch stolz auf ihren Status als beste Autoschlüssel-Diebin des Clans ist, so lähmt sie doch zunehmend die Angst vor den brutalen Übergriffen der männlichen Familienmitglieder.
"Nika ist sich zu Anfang überhaupt nicht bewusst, dass sie ausgenutzt wird und eine Ware ist. Sie wächst ja bei ihrer Großmutter auf. Da hatte ich so im Hinterkopf Kroatien, aber das ist völlig egal, ob das Kroatien ist oder ein anderes Land. Sie wächst bei ihrer Oma auf, weil ihre Eltern Nika abgegeben haben. Die Oma kümmert sich um das Mädchen, aber sie hat weder das Geld noch die Möglichkeiten, dem Kind irgendwas zu bieten. Dann kommt dieser angebliche Onkel und nimmt Nika gegen Geld mit. Im Laufe der Handlung wird einem das bewusst, und auch Nika wird das bewusst, dass dieser Onkel, der sich als Onkel ausgibt, überhaupt gar nicht ihr Onkel ist."

Eine lukrative Investition

Nika spürt, seit sie Jonas getroffen hat, dass es für sie im Clan keinen Rückhalt gibt und sich niemand je für ihre Träume oder gar ihre Zukunft interessieren wird. Sie ist für die Bandenführer nur eine lukrative Investition. Als sie erfährt, dass Leni in die Prostitution verkauft wurde, versucht sie zum ersten Mal zu fliehen. Jonas versteht erst im Gespräch mit Flo, was Nika eigentlich von ihm wollte.
"War ich jetzt ein Feigling, bloß weil ich Angst hatte vor Nikas Clan? War sie neulich zu mir gekommen, weil sie aussteigen wollte, und ich hatte es einfach nur nicht geschnallt?
(…) Voller Skrupel dachte ich an unseren Streit und wie sie danach davongerauscht war. War es falsch von mir gewesen, dass ich ihr mit der Polizei gedroht hatte? Hätte ich sie lieber bei mir verstecken sollen? Was, wenn ihr Onkel sie jetzt noch mal in die Mangel genommen hatte?
,Wie sollte das deiner Meinung nach funktionieren?', wich ich aus.
,Keine Ahnung, Mann!? Vielleicht so James-Bond-mäßig mit Abhauen und Untertauchen und Ins-Ausland-Gehen und mit neuer Identität und so.' (…)
,Nee, is' klar, Mann!', brummte ich und winkte ab. ,Du glaubst doch nicht im Ernst, du könntest es mit einem verdammten Clan aufnehmen?'
,Wieso denn nicht?' Flo hörte mir gar nicht mehr zu."

Welle von Gewalt

Nachdem Nika sich geweigert hat, Jonas' Familie erneut zu bestehlen, muss sie zu einem anderen Clan wechseln und soll dort auch gleich heiraten. Durch ihren mutigen, aber ergebnislosen Protest durchlebt sie eine Welle von Gewalt und nutzt die erste Gelegenheit, um erneut vor Jonas' Tür zu stehen. Jonas und Flo sind entsetzt, als sie Nikas entstelltes Gesicht sehen. In Flos Augen hat Nika keine Wahl, sie muss den Kinder- und Jugendnotdienst anrufen. Doch Nika kämpft innerlich mit sich.
"Man muss bedenken, diese Kids haben keine Schulbildung, sie sind meistens von A nach B geschleppt worden, sind meistens auch gar nicht gemeldet. Dass sie irgendeine Chance haben, irgendwo in der Gesellschaft als normale Menschen in Anführungszeichen Fuß zu fassen, ist sehr sehr unwahrscheinlich."
Nika erzählt der Frau vom Jugendnotdienst von Lenis Verschleppung in den Nachtclub. Daraufhin schaltet sich ein Sonderermittler ein und zeigt Nika Fotos.
"Diesmal war es Dennis, mit seinem dämlichen Goldkettchen und dem Machogrinsen. Er hatte Leni in seiner Gewalt, dieses Arschloch! ,Ja', sagte ich mit fester Stimme. ,Das ist er. Das ist der Besitzer. Er heißt Dennis Rösler.'"
Prostitution, Menschenhandel, Kinderpornografie, bandenmäßiger Diebstahl, Geldwäsche und Mord gehen auf das Konto der Bande. Nach einem spannenden Showdown taucht Nika in einem Zeugenschutzprogramm unter.

Recht auf ein selbstbestimmtes Leben

Antje Leser konstruiert eine dialogreiche, lineare Handlung. Durch den Wechsel der Perspektiven entsteht eine dynamische Spannung, die den Lesern und Leserinnen auch die brutalen Szenen nicht erspart. Die Bonner Autorin schreibt auf Pointen hin und erzählt anschaulich von den aufgewühlten Gefühlen der Jugendlichen. Im realen Leben haben die minderjährigen Mädchen kaum eine Chance, ihrer sogenannten Familie zu entkommen. Doch Antje Leser wollte mit ihrer Geschichte zeigen, dass es Hoffnung gibt. Zumindest in diesem wirklich bewegenden Roman hat Nika ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.
Antje Leser: "Luftschlösser sind schwer zu knacken"
Magellan Verlag, Bamberg. 303 Seiten, 17 Euro, ab 14 Jahren.