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Antje Rávic Strubel
Menschliche Aggregatzustände

"Unter Schnee" hieß Antje Rávic Strubels erster Episodenroman. Darin findet sich der Satz: "Der Schnee macht sekundenlang blind". Was nach dieser Blindheit kommt, davon handeln die 13 Geschichten in ihrem neuen Roman "In den Wäldern des menschlichen Herzens". Beleuchtet werden vor allem die inneren Landschaften der Figuren.

Von Carola Wiemers | 18.07.2016
    Die Autorin Antje Rávic Strubel bei uns im Studio von Deutschlandradio Kultur am 10. Mai 2016.
    Die Autorin Antje Rávic Strubel im Studio von Deutschlandradio Kultur. (Deutschlandradio / Manuel Czauderna)
    "Unter Schnee" hieß Antje Rávic Strubels erster Episodenroman, der 2001 erschien. Darin findet sich der Satz: "Der Schnee macht sekundenlang blind". Was nach dieser Blindheit kommt, davon handeln die 13 Geschichten. Fasziniert von den Elementen, spielt vor allem das Wasser in seinen verschiedenen Aggregatzuständen im Werk der Autorin immer wieder eine zentrale Rolle. Und so erzeugt die metaphorische Eigenschaft des Elements auch in ihrem zweiten Episodenroman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" einen narrativen Unterstrom.
    "Wenn ich über Licht schreibe, dann ist Wasser natürlich ein Element, was ganz wichtig ist, weil es reflektiert und weil es gleichzeitig das Farbspektrum abbilden kann und Schatten der umgebenden Landschaft – also es ist wie so eine Spiegelfläche. Und vielleicht auch als Unterbrechung von Landschaften, weil es diese flüssigen Übergänge darstellt. Es geht ja oft bei mir um Übergänge oder um Übersetzung oder um das Aufweichen von Unterschieden. Und Wasser als das flüssige Element, spielt natürlich da auch eine Rolle. Wenn sich Dinge verflüssigen, dann lösen sie sich auf oder verwandeln sich."
    In 13 klug durchkomponierten Teilen - die ein raffiniertes Textgewebe darstellen - führen Spiegelungen und Blendungen zu Imaginationen, in denen sexuelles Begehren und Sehnsüchte thematisiert werden. Erzählt wird von der Flüchtigkeit tatsächlicher wie möglicher, aber auch erinnerter Begegnungen in fremder Landschaft. Die Protagonisten heißen René, Helen und Faye, Emily, Sara oder Leigh und sie bewegen sich – wie im Bild der Gezeiten – mal aufeinander zu, dann wieder voneinander weg. Ihre Namen erscheinen wie Strandgut aus einer vergangenen Zeit, und unterliegen, wie überhaupt alles in diesem Roman, der Wandlung.
    In jeder Episode steckt die Möglichkeit anderer Varianten
    Interessiert an Brüchen und Zäsuren, geht es der Autorin darum, wie sich körperliche Berührungen und intellektuelle Nähe in der Sprache abbilden lassen ohne klischeehaft und abgegriffen zu sein. Die fragile Souveränität der Episoden begründet sich im Augenblickhaften, in dem, was tatsächlich unbegreifbar ist.
    "Also dass auch sich ein emotionaler Aggregatzustand ändert oder ein Lebensumstand sich ändert oder sogar eine Sexualität sich ändern kann oder das komplizierteste vielleicht: Geschlecht sich verändern kann. Und das hat natürlich immer mit diesen Übergängen, mit diesem Wechsel zu tun. Diese Verschiebung oder diese Änderung findet vielleicht auch am stärksten als körperliches Bild in dieser Geschichte statt, wo die Frau diesen Mann betrachtet und dann geht der Körper des Mannes, dieses Skiläufers und ihr eigener eigentlich ineinander über."
    Ob im schwedischen Dalsland, in Kalifornien, in der eisigen Kälte Finnlands, in den Brandenburgischen Wäldern oder auf Hiddensee – die von Antje Rávic Strubel gewählten Orte stellen keine spektakuläre Kulisse dar. Jeder Natur-Raum besitzt Besonderheiten, vor allem klimatische, die das Denken und Handeln der Protagonisten beeinflussen und lenken.
    Von den insgesamt 13 Episoden übernimmt die siebte eine Art Steuerfunktion. Dabei steht die sieben nicht nur für das Menschliche, für Geist, Seele, Körper. Als Summe aus drei und vier verweist sie auch auf die Elemente und deren Kraft. Denn während bei klirrenden 25 Grad Minus das Denken aussetzt und die Kälte auf die Lungen drückt, vermag das "ölige" Sonnenlicht in der kalifornischen Wüste Halluzinationen zu erzeugen.
    "Und dann kam Emily wirklich. Sie kam von dort, wo die Schlucht eine Biegung machte, sie erschien als bunter Umriss vor dem sandigen Grund. Zuerst sah Faye das Kind in roten Sandalen und mit einem Matrosenhut, aber mit jedem Schritt, den Emily näher kam, wurde sie älter, und als sie die Höhle betrat, trug sie ihr zerknittertes, weißes Sommerkleid wie an dem Tag, an dem sie mit Leigh aus dem Sequoia-Park zurückgekehrt war."
    Überhaupt wird in diesem Roman lustvoll mit dem Prinzip der Achronie gespielt. Die erzählten Ereignisse vollziehen sich jenseits chronologischer Relationen. In jeder Episode steckt die Möglichkeit anderer Varianten, deren Orientierung solange verborgen bleibt, bis in einem blow up-Effekt die Konturen allmählich erkennbar werden. Dieses Prinzip setzt die Autorin mit sprachlicher Eleganz und in poetisch anmutenden Bildern um.
    Die Lust am Erzählen wird zum existenziellen Ereignis
    "Natur ist auch eine Gefährdung des Körpers. Sie kann den Körper schlucken oder ihn auslöschen wie diese Vorstellung, dass der Sand der Wüste nur ganz oberflächlich auf diesem flüssigen Erdinneren liegt, was jederzeit hervorquellen kann. Und gleichzeitig ist es eine Metapher dafür, dass es hier Identitäten oder Personen gibt, die am Rand der Gesellschaft stehen und im Grunde – Gesellschaft als Landschaft betrachtet – eben auch eine Gefahr sein kann für bestimmte Personen."
    Antje Rávic Strubel problematisiert in ihrem Roman auch die gängigen Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen sowie die absurde Anstrengung, das, was als "männlich" und "weiblich" bezeichnet wird, ständig in Verhaltensweisen zu übersetzen.
    "Und da ist es natürlich interessant sich zu überlegen, was ist eigentlich das Original davon und was ist dann die Kopie. Okay, es ist eine Vorstellung, aber diese Vorstellung beruft sich wieder auf andere Vorstellungen und das geht die ganze Menschheitsgeschichte zurück. Ständig ändern sich diese Vorstellungen und die Ideen. Und wir sind dauernd am Übersetzen. Es ist so endlos, dass es eigentlich überhaupt kein Mann und Frau gar nicht gibt. Also es gibt es nur als Kopie von etwas anderem."
    Im letzten Romankapitel mit der Überschrift "Der Kirschbaum am Ende des Gartens" wird die Lust am Erzählen zum existenziellen Ereignis. Ein Mann, Katt genannt, und eine namenlos bleibende Frau verbringen ihre Ferien im Mecklenburgischen. Während alles wie in Trance geschieht, beginnt man zu ahnen, dass es der Autorin in der abschließenden Episode um nichts Geringeres als um die Schöpfung in der Sprache geht.
    Eine sinnliche Verführung durch Sprache
    "Sein Körper wurde von den tief hängenden Ästen des Kirschbaums in einzelne Teile zerlegt. Die Arme wurden vom Rumpf getrennt, sein Rücken wirkte zerstückelt, der Kopf schwebte wie von selbst in der Luft. Und das erschien ihr logisch. Das erschien ihr wie ein aussagekräftiges Bild. Es war, als müsste sie ihn sich erst auf die richtige Art zusammensetzen."
    Während im Hintergrund Strawinskys "Feuervogel"-Musik erklingt, erfährt man, dass Katt an einem Roman mit dem schwedischen Titel "Vad vet du om mig och vad vet jag?" schreibt. Die Frage, wie viel wir von uns selbst und von einem anderen wissen können, berührt den Grundimpuls literarischer Produktion und Rezeption.
    "Sie fragt sich, ob er mit Hilfe der Geschichten zu ihr vordringen will, ob er auf Umwegen zu ihr gelangen möchte. Vielleicht will er sie von einem anderen Punkt aus berühren, was nicht unmöglich wäre. Sie hat es bereits erlebt. Ihr Körper hat sich seinen Worten geöffnet."
    Und so vollzieht sich am Ende eine sinnliche Verführung durch Sprache, wobei sich der "Kirschbaum am Ende des Gartens" in den Paradiesbaum zu verwandeln scheint. Vielleicht begann die Geschichte der Menschheit ja doch mit dem Erzählen, obwohl sich auch das nicht wirklich rekonstruieren lässt.
    "Also die Schöpfungsgeschichte und gleichzeitig Verführung, beides hat mit Worten und mit Sprache zu tun. Und dass Katt natürlich schreibt und mit diesem Schreiben verführen will. Die körperliche Verweigerung, die man auch lesen könnte als irgendwie Behinderung oder... die es aber ja nicht ist. Sondern es geht vollkommen in die Sprache und nichts ist verführerischer letztendlich als Sprache als solche."
    Antje Rávic Strubel: "In den Wäldern des menschlichen Herzens". Episodenroman. S. Fischer Verlag. 2016. 269 Seiten. 19,99 Euro.